18/08/2015

Privatissimum vom Grilj

Jeden 3. Dienstag im Monat

Zur Person
Mathias Grilj (* Kamnik, SLO) lebt als freier Journalist und Schriftsteller in Graz.

18/08/2015
©: Mathias Grilj

Pinselstriche aus einem Früher

„Du fragst, was ist das Leben?
Das ist, als wollte man fragen:
was ist eine Mohrrübe? Eine
Mohrrübe ist eine Mohrrübe.
Mehr ist darüber nicht zu sagen.“
Anton Tschechow

„Das Gedächtnis ist verrückt.“
Julia Shaw

„Das einzig Gefährliche
am Fliegen ist die Erde.“
Wilbur Wright

Auch wenn es heiter ist, hat es etwas Gepenstisches. Wir fahren 360 Kilometer in den Süden, ein Katzensprung, aber für einen, der seit Monaten sein Zimmer kaum verlassen hat, ist es wie eine Weltumsegelung. Und eine Zeitreise in das einst gehabte Glück. Gewoben in die Überfälle von Erinnerungen.
Schon in der Kärntnerstrasse, morgens um fünf und fast 40 Jahre her, murmelt vom Rücksitz, wo ich die kommode Bettenlandschaft bereitet hatte mit Raffinement, die verschlafene Stimme eines Kindes: „Sind wir endlich in Talien?“
Die Fahrt, bei der unser alter Kübel von allen, wirklich allen, überholt wird. Irgendwann der Gestank von Frantschach – „Ist daaas Talien?“ – dann die Morgenröte sanft von links. Das Kanaltal – und Erinnerung an Aquarelle, die Giselbert Hoke hier gemacht hat, als er das Nichts suchte. Nada. Niente. Nothing. Habe ich die in der Neuen Galerie gesehen oder im Kulturhaus? Vergessen. Ich erinnere mich an die Stimmung der Bilder und an die Vitalität des Künstlers. Die hat einen angesteckt, man fühlte sich dann irgendwie verwegener.
Im heurigen April ist Giselbert Hoke gestorben.
Nach dem Kanaltal, wenn der Blick cinemaskopisch wird, erscheint auf einmal, was wir daheim dann italienisches Licht und italienische Farben nennen werden. Es sind natürlich unsere Augen, die alles schön und fein und heiter machen.  Aber dieses Licht hat etwas von Verheißung.
"Ist das endlich Talien?“ Das ist es. „Ach, schön!“
Die Bäume, das Schilf, die Häuser in ihren Farben und Verspieltheiten. „Haben die keine Bauordnung? Es schaut so nach Freiheit und nach Freude aus!“ In unseren Augen wird jetzt alles wirklich wunderbar. Und noch etwas aus dem Gedächtnis: wie ich nach dem Erdbeben als Journalist hier gewesen bin. Aber da war das italienische Licht auch ein Mirakel. Es stehen immer noch die grauen Container herum, rostbefressen.
Dann natürlich die vielen Staus, damals. Die machen uns nichts aus, wir haben zwar einen Mistkarren von Auto, aber eine Gitarre. Die Kinder sind zwar klein – „Das Topferl ist unter dem linken Sitz“ -, aber sie singen Sachen von Harry Belafonte und Bella ciao. Wir lachen über die grimmigen und verbissenen Gesichter der Leute im Stau und singen: „Schön ist die Welt, drum Brüder lasst uns reisen!“
Dann riecht man endlich das Meer.
In einer Geschichte von Tschechow wird ein Kind gefragt, wie denn das Meer war, das es gesehen hat. „Das Meer war groß.“
Dann riecht man auch die Pinien.
Und die Kinder riechen auch die Pizza.
So geht Urlaubsfreude kleiner Leute, und jetzt wird sie mir das Herz zerquetschen, aus ziemlich vielen Gründen, die haben mit Leben zu tun, das so ist, wie es ist. Wie eine Mohrrübe.
Was ich diesmal noch feststellen werde: In die Gelateria, wo ich damals immer gut gearbeitet und etliches geschafft habe, kann ich nicht mehr. Das laute Wumm-wumm-wumm vertreibt mich. Vielleicht ist das sein Zweck. Ich passe ja wirklich nicht hierher. Nirgends.
Und die Blumenhandlung gibt es nicht mehr.
Und der fröhliche Kerl, bei dem ich damals Luftballons gekauft habe, die man mit Wasser füllte, um damit einander zu bewerfen, und auch Glasmurmeln in Netzen aus Plastik, der ist inzwischen ein alter Mann.
„Auch ein alter Mann.“
Und die Erinnerung, dass es am letzten Tag und vor der Abfahrt immer hieß: „Komm, Papa, wir müssen noch dem Meer bella ciao sagen!“ Ja, gehen wir.

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