20/05/2014

Privatissimum vom Grilj

Jeden 3. Dienstag im Monat

Zur Person:

Mathias Grilj (* Kamnik, SLO) lebt als freier Journalist und Schriftsteller in Graz.

20/05/2014
©: Mathias Grilj

Überall ist Wunderland.
Überall ist Leben.
Bei meiner Tante im Strumpfenband.

Wie irgendwo daneben.
Überall ist Dunkelheit.
Kinder werden Väter.
Fünf Minuten später
stirbt sich was für einige Zeit.
Überall ist Ewigkeit.

Wenn Du einen Schneck behauchst,
schrumpft er ins Gehäuse.
Wenn Du ihn in Kognak tauchst,
sieht er weiße Mäuse.

Joachim Ringelnatz

Man gerät, das werden Sie kennen, manchmal in eine Gasse, in der man schon seit Wochen nicht war. Oder seit Jahren. Und dort klafft nun eine Baulücke. Oben an den Seiten kleben Reste von Tapeten - und die Gedanken, wer sie angesehen und berührt hat. Und was da vorher war an dieser Stelle, im Parterre. Eine Greislerei? Vielleicht. Eine Tierhandlung mit Goldfischen im Fenster? Kaum. Oder waren da Musikinstumente? Möglich. Und dann kommt die Frage: Wieso weiß ich das nicht mehr? Wo ich hundertmal daran vorbeigekommen bin.
Dies wird wohl - nur als Gebrauchsanweisung zum Lesen und gleichsam in die Partitur getackert - dies wird eine Geschichte ohne Pointe werden.
Jedenfalls war ich neulich in einem Ort in Tirol, wo ich einmal gelebt habe, das ist viele Jahre  her, und es war schön. Damals. Ich wollte meiner Liebsten zeigen, wo ich als Kind gewohnt hatte. Als ob sie mich dadurch besser verstehen könnte. Im Parterre war links der Arzt und rechts der Uhrmacher. Darüber waren wir, und darüber war der Dachboden. Und die Kiste mit den Büchern des Onkels. Kunstbücher. Er war Maler. Wir haben noch ein paar Bilder von ihm. Und in der Kiste war die Venus von Urbino, bis dahin die nackteste Frau meines Lebens, ein Wunder. Und gegenüber war die Konditorei. Und im Haus rechts, da müsste noch oben im Geländer des Balkons ein gelber Wurfpfeil stecken, den ich damals von der Gasse aus hinaufgepfeffert habe.
Reicht das an erlebter Metaphorik? Natürlich nicht.
Die Ordination ist weg, der Uhrmacher ist weg, der Konditor ist weg, und der Balkon hängt so schief, dass man die Rettung holen müsste. Das Haus sinkt irgendwie in sich zusammen und stirbt vor sich hin. Im ersten Stock sind die Fensterscheiben verstaubt oder kaputt. Wie der ganze Ort, der einstmals so adrett gewesen ist. Das Dorf war, als ich hingeraten war, wie ein Mädchen vor dem Tanz. Nun einen Ort in den letzten Zügen zu sehen, ist zum Weinen. Im Parterre ist jetzt ein seltsames und dusteres Lokal mit gehämmerter Musik, die paar Gäste sehen aus, als ob ihnen das Messer locker sässe. Wir gehen weiter. Die Schule von damals gibt es auch nicht mehr. Und das Geschäft, wo damals meine Schwester und ich eine Vase gekauft haben, als Geburtagsgeschenk für Mama, führt Pornos und Dildos.
So, jetzt brauche ich als Schreiber einen eleganten Übergang vom traurigen Dorf hierher nach Graz. Ach, was! Ich bin jetzt einfach hier. Und Sie sind es beim Lesen auch. Nämlich im Altbau, wo ich jahrelang und nächtelang kleine Fuzzis durch die Gegend geschaukelt und ihnen Wiegenlieder vorgebrummt und leise vorgesungen habe. Wenn das Zahnen fällig war oder ein Pups, der nicht gleich geraten wollte, oder sonst irgendwas. Damit sie friedlich schlafen. Und ihre Mama auch. Bis auf Stillen konnte ich eigentlich alles.
Was lernt man da? Erstens Geduld und Geduld und Geduld. Und dann lernt man alle Stellen in der Wohnung kennen - diese Glosse hat mit Architektur zu tun, und die kann auch lauschen - , also alle Stellen, wo der alte Parkettboden knarrt und wo man nicht hintreten darf, wenn das Kindlein endlich wieder am Einschlummern ist. Ich bewegte mit geschlossenen Augen die Kleinen zwar unausgeschlafen, aber ziemlich sicher durch ein Minenfeld des Knarzens.
Jetzt brauche ich als Schreiber eine elegante Überleitung in das Heute. Da ist sie: Neulich hatte ich wieder diese noble Verpflichtung und schaukelte in meinen Armen ein kleines Wunder durch die Nacht. Und was lernte ich da? Das tote Holz hat sich unter meinen nackten Füßen inzwischen bewegt und knarrt nach 30 Jahren an anderen Stellen als damals. Und ich habe auch nicht mehr die Kondition von früher. Noch die Geduld. Und auch nicht die Nerven für das Geschrei von Holz.
Jetzt braucht es eine Pointe, oder? Ja, die brauche ich auch.

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