21/01/2020

GAT veröffentlicht in der Kolumne Privatissimum vom Grilj jeden dritten Dienstag im Monat Texte zum Nachdenken.

Zur Person
Mathias Grilj (* Kamnik, SLO) lebt als freier Journalist und Schriftsteller in Graz.

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21/01/2020
©: Mathias Grilj

„Reb Herschel, sie sind ein
weiser Mann. Sagen sie mir
bitte: lebt der Mensch von
aussen nach innen oder 
von innen nach aussen?“
„Wenn sie so fragen: ja.
Jüdisch

Vermessung von Milieu und Raum
(Kürzel aus dem Notizbuch)

Ein sauberer Hexenschuss, nachts und aus heiterem Himmel, ist zwar höllisch, hat aber spannende Nebenwirkungen: man lernt den Körper neu kennen und die vertraute Wohnung anders vermessen. So eine Festellung ist erst möglich, nachdem die Notärztin beim Setzen der Nadel lapidar gemeint hat: „Sie haben ihre Wirbelsäule beleidigt.“„Wie denn? Ich hab nichts gegen sie. Und ich hab sie niemals zu Gesicht bekommen.“ Derart verkrampftes Geblödel macht einen noch jämmerlicher.

„Es ist der Geist, der sich den Körper schafft.“„Bitte, Schiller, hör mir damit auf! Einen  Klassiker, der Lumbago nicht kennt, hab ich schon gefressen!“

Bis gestern betrug die Entfernung vom Schreibtisch bis zum Bad ein paar flotte Schritte, jetzt kommt es zu einem peinigenden Marathon mit Geheul, schaurig, wie es noch nie aus dir zum Mond gestiegen ist. Die Strecke muss man – wie Schirennläufer vor dem Slalom – im Geiste absolvieren, ehe es losgeht. Vom Vorteil erweist sich ein Klavier im Raum. Nicht für Preludes von Chopin, sondern weil sich daran festklammern und unter Gebrüll und Gestöhn und Geflenne weiterhanteln lässt, bis zum kleinen Tisch hinüber und dem Bücherregal neben dem Türstock, an den man die Stirn lehnt. „Danke, Türstock, dass es dich gibt!“ Dann die berüchtigte Etappe von drei-vier Metern, auf der man sich nirgendwo anhalten kann als am eigenen Schmerz.

Was ist schlimmer: Gejammer oder Selbstverachtung?

Bevor es soweit ist, minutenlang – auch die Zeit krümmt die Dimensionen – auf allen Vieren auf dem Teppich hocken, eine Pose zwischen mohamedanischer Gebetshaltung und Doggy style, und sich belauern. Jede Bewegung ist falsch, husten verboten, niesen verboten und – ganz schlimm – lachen verboten. Und atmen ist ganz schlecht und wird sofort bestraft.

Versucht man tags darauf, solche Erfahrungen in Stichworten zu protokollieren, schießt die treue Gicht so wüst in die Finger, dass ihnen der Bleistift entgleitet und auf den Teppich rollt. „Wie komme ich jetzt an den heran?“ Ist das Zipperlein eifersüchtig auf den Hexenschuss und will mich ganz für sich? Bislang geglaubt, dass die Krankheiten kollaborieren und einander zu noch mehr Sensationen anspornen...

Aus dem Radio Schubert. „Wir woll´n uns still dem Schicksal beugen.“ Gern. Nur bitte – wie?

Minutenweise sogar Schlaf. Mit Traumsequenzen a la: In einem Gedränge (Sportevent oder Großkonzert) das Brennen im Lendenbereich. Jemand hinter mir war gestolpert und hatte die Zigarettenglut auf meinem Rücken ausgedämpft. Das Unterbewusste, listenreich wie Odysseus, wollte dem Körper noch ein bisschen Schlaf verschaffen. „Danke für den guten Willen... Aber schön, das es dich gibt!“

Nach ein paar Tagen und drastischer Überdosierung von Tabletten geht der aufrechte Gang so halbwegs, doch umnachtet und tatsächlich wie ferngesteuert. Dieser Zustand lässt keinen Gedanken fassen. Das Hirn scheint – eine neue Vermessung - circa einen Meter neben dem Kopf zu schweben und hat sich von dir befreit. Was ist weniger schlimm: Kreuzweh oder Verblödung?

Im WC das Hadern mit der Evolution. Man wirft ihr vor, den rechten Arm – den mit dem Toilettpapier in der Hand – nicht um einen halben Meter länger gemacht zu haben. Die Hygiene braucht Raffinesse und wird zum kuriosen Zirkus. Erbärmlich und weitab von „Akrobat schööön!“, wie es Charlie Rivel geflötet hat. Rückwegs – „Au, au, aaau!“ – auch die großartige Akustik der Räume. Und dass sogar ein Bassbariton Koloraturen schreit. Nicht so schöne wie Cecilia Bartoli, aber mit mehr Inbrunst.

Die fixe Vorstellung, dass dieser Schmerz dich überleben und nach deinem Tod weiterwirken wird, irgendwo in Zeit und Raum. Ich fühle mich als meine eigene schädliche Nebenwirkung, nur als Herbergsvater des Leidens. Höhere Einsicht oder Schwachsinn? Oder fallen die in eins?

Wird wohl fortgesetzt...

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