18/02/2020

GAT veröffentlicht in der Kolumne Privatissimum vom Grilj jeden dritten Dienstag im Monat Texte zum Nachdenken.

Zur Person
Mathias Grilj (* Kamnik, SLO) lebt als freier Journalist und Schriftsteller in Graz.

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18/02/2020
©: Mathias Grilj

Die vielen Jahre bis
zum Scheidungsbrief

 

Heute war gestern morgen.
Heute ist morgen gestern.
(Werner Pirchner)

Gestern wäre für mich – noch bis neulich – "der SPIEGEL-Tag" gewesen. Seit 1972 oder 1973 war ich Abonnent. Vor gut einem Jahr hat es mir endgültig gereicht. Ich habe die seit mehr als zehn Jahren immer wieder aufgeschobene Scheidung eingereicht. Das Blatt fehlt mir heute überhaupt nicht, höchstens das eingeübte Montags-Ritual.

Das Magazin war mir eine Institution, die mich fast ein halbes Jahrhundert begleitet und meine Blicke auf die Welt wohl wesentlicher beeinflusst hat, als es mir bewusst war. Man könnte durchaus eine Autobiografie schreiben mit so einem Medium als Handlauf und Geländer, an dem man Schritt für Schritt durch seine eigenen Überzeugungen, Bewertungen,  Haltungen und Erschütterungen geht. Und fragen, wie die Berichte über Ereignisse und deren Analysen sich auf das Ich auswirken. Es lässt sich hier kaum aufzählen, was da alles war, die Erinnerung betreibt ihre Selektion und verdreht bestimmt so manches. Nur ein paar Pinselstriche auf meinem SPIEGEL-Handlauf, beginnend mit Vietnam, Allendes Tod in Chile, Watergate... So geht´s dahin... RAF, dann Brokdorf und weiter von Kohl bis Merkel. Aufstieg und Fall so vieler Namen, Begriffe, Parteien und Partien, so viele Kriege und Revolutionen, so viele falsche Bewertungen und so vieles, das "ans Tageslicht kam“, so viele Hoffnungen, die meist in eine Hölle führten. Manchmal hielt man beim Lesen inne; schon damals, im allgemeinen Jubel über den arabischen Frühling habe ich den Tod gerochen; es ist schlimm, als Pessimist recht behalten zu müssen. Und die vielen Moden, in Wissenschaft, Kunst, Philosophie und Technik, wie auch in unserem sozialen Verhalten und Empfinden, irgendwo zwischen Gleichgültigkeit und Hysterie, in all den Bildern. Achja, das auch: plötzlich werden Orte weltberühmt, von denen man zuvor noch nie gehört hat. Tschernobyl, Lockerbie, Srebrenica, Aleppo. Und täglich kommt auf der Geografie meines eigenen Kopfes Neues hinzu.

Jedenfalls zog mich der SPIEGEL in seinen Bann. Ich habe ihm vertraut und mich auf ihn verlassen. Viele Artikel ausgeschnitten, in Ordner geheftet oder in Arbeitsbücher geklebt, weil "man das alles noch einmal brauchen kann“. Hirn- und Weltraumforschung (wo ist zwischen den beiden eigentlich der Unterschied?). Künstliche Intelligenz. Robotik. Ökologie. Auch die großen Reportagen – Tiziano Terzani aus Kambodscha! Das Interview Rudolf Augsteins mit Heidegger. Immer wieder Portäts von Leuten, von deren Werk man sich verbeugt oder es besonders verabscheut hat. Dazu all das Grauenhafte, das ich hier nicht aufzählen möchte, weil es dann wieder über mich herfällt: Von Folter und Elend und Kindesmissbrauch bis zu den heiteren Briefen der KZ-Ärzte an ihre Frauen. Manche Details und Formulierungen haben sich ins Hirn gebrannt. Mein Onkel Silvin, Historiker, Slawist und Psychoanalytiker, sagte mir einmal: "Du liest den SPIEGEL? Davon kann man depressiv werden.“ So war man dann froh, beim "Hohlspiegel“ angelangt zu sein und lachen zu können über Blödheiten, die uns allweil passieren. Dem Hohlspiegel habe ich einige Schnipsel aus der österreichischen Medienheimat geliefert – alle erschienen. Österreich kam im Blatt nur am Rande vor, eher selten und meist als Kuriosität.

Bei jedem Relaunch des Magazins habe ist die Nase gerümpft. Abonnenten sind Gewohnheitstiere und wollen Neues in gewohnter Manier serviert bekommen. Wirklich verärgert war ich, als man die Leserbriefe auf einen Doppler beschränkt hat.

Nur einmal schrieb ich einen Leserbrief: Man brüstete sich auf der Einser, als erster in Moskau Dokumente eingesehen zu haben, wonach 1914 das Deutsche Reich Lenins Bolschewisten unterstützte, um mit ihnen Nikolaj II. zu stürzen. Ich verwies auf Silvin Eiletz, der diese Dokumente Jahre zuvor in Faksimilies präsentiert hatte. Er war also früher. Sein Buch erschien 2001, auf slowenisch: Zgodovina neke kolaboracije – Die Geschichte einer Kollaboration. Ich merkte noch an, es sei wohl "das Schicksal einer kleinen Sprache“, ignoriert zu werden und dachte, meine paar Zeilen würden aus Gründen der Redlichkeit und Fairness gedruckt. Ein Irrtum.

Irgendwann – nach dem Abgang von Stefan Aust? – flog der SPIEGEL immer öfter von meiner Couch aus quer durch das Zimmer: "Ich bin für Härte, aber das da ist nicht Kritik, sondern Rufmord!“ Dann auch wegen des schlampigen Satzbaus, der Oberflächlichkeit – und vor allem: Dieses Gefühl, man halte sich nicht mehr an die Augstein-Doktrin: "Sagen, was ist.“ Sondern: "Sagen, wie wir es gesehen haben wollen.“ Dann die Frage: "Hält mich dieser Schreiber für so blöd wie er selber ist?“ Ich fühlte mich als Leser auf den Arm genommen, im Sinne von "veräppelt“ als auch in jenem von "als Unmündiger behandelt“. Man will mir nichts erzählen, sondern einreden. Das war kein Nachrichtenmagazin mehr, sondern eine ideologische Nanny. Ein Abonnent lässt sich bekanntlich sehr viel gefallen, aber das war zu viel. Die Sache mit Claas Relotius – Hochstapler, Lügenbold, Arschloch – war nur jener Strohhalm, der dem Abo-Esel das Genick gebrochen hat. Jetzt ist mein Montag nimmer SPIEGEL – sondern Knödeltag.

PS: Wenn ich kopfschüttelnd darauf blicke, was ich dereinst alles eifrig und so unbeirrt vertreten, was ich bewundert habe und wie schlicht gestrickt mein Denken war, muss ich mir auch die Frage gefallen lassen, ob aus den Zeilen, wie ich sie hier getippt habe, nicht ein alter Griesgram grummelt, der zu selten an die frische Luft kommt...

PPS: Auch das Abo der ZEIT will ich stornieren. Brauche ich es denn wegen der vier-fünf Artikel, die man noch fertiglesen möchte? Es sind, genauer gesagt, jene vier-fünf Leute, auf die Verlass ist und denen ich beim Entwickeln von Gedanken gern über die Schulter schaue. Seit sich im Großformat eine launige Pubertäts-Fraktion breit macht, schwindet meine Lust an der Lektüre. Die ZEIT war spannender, als sie noch langweilig war.
Aber zu Weihnachten hat mir meine Familie hinterrücks ein Jahres-Abo geschenkt...
Übrigens bringt seit dem jüngsten Relaunch die Österreich-Ausgabe keine Leserbriefe. Dabei sind Leserbriefe oft erhellender als die redaktionellen Beiträge. Nun lese ich im Inhaltsverzeichnis der jüngsten Ausgabe des "Qualitätsblatts“: Leserbriefe – Seite 20. Nur sind auf Seite 20 keine Leserbriefe.
Sind die Zeitungsmacher aus Hamburg nur schusselig oder lügen sie?

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