15/06/2004
15/06/2004

insight out.
zu einigen arbeiten von Sabine Richter.

eine EINFÜHRUNG in eine künstlerische arbeit ist keine leichte sache. entweder man verfährt kunsthistorisch und legitimiert das werk über verwandtschaftbeziehungen zu den grossen kunstmanifestationen der geschichte. oder man ergeht sich in einfühlsamen detailbeobachtungen, die auf ein wesentliches, genialisches im künstlerischen prozess zielen. man kann aber auch solcherart vorgehen, dass man eine beziehung, ein verhältnis sucht zwischen dem kunstwerk und der eigenen arbeit. auf diese weise ist der kurze text in dem folder entstanden. Dieser text spiegelt in gewisser hinsicht die intentionenen der künstlerin in den voraussetzungen meiner eigenen arbeit als kultur- und medientheoretiker. ich spreche also in diesem text über mich, über meine wahrnehmung und reflexion und möchte in dieser einführung auch nur über diesen text sprechen, d.h. ihn für mich und für sie interpretieren und ihnen auf diese weise meine arbeit und in der spiegelung dieser die arbeit von Sabine Richter näher zu bringen versuchen. eigentlich nehme ich das unternehmen von sabine richter ernst und reflektiere das, was sie zeigt, nämlich spiegelungen. in abwandlung eines philosophischen topos könnte man von einer >sich selbst spiegelnden spiegelung

Die Spiegelungen, die Sabine Richter an der Stadthalle fotografiert, sind Paradoxa.

dieser satz spiegelt ein denken wieder, ohne das es diesen ganzen ersten text gar nicht geben würde. als ich nämlich die arbeiten von Sabine Richter das erste mal genauer betrachtete, las ich gerade wieder mal in einem erstaunlichen buch: logique du sens, logik des sinns von gilles deleuze. . das buch enthält 34 „serien der paradoxa - untersucht werden >paradoxa des sinnswidersinnpositiven bildandersartigkeit

Dort, wo sich [die Spiegelungen] ereignen, entsteht eine Verkehrung architektonischer Verhältnisse dergestalt, daß die sichtbaren Zustände in keinerlei Weise mehr ihren real-stofflichen und statischen Ursachen entsprechen.

zunächst soll der vorgang der spiegelung selbst als >ereignisbildsichtbaren zustände

Zu sehen sind Wirkungen, ins Bild mutierte unkörperliche Wirkungen, die als „reine“ Oberfläche in den Blick kommen und die Architektur anders erfahren lassen.

>unkörperliche wirkungen

Der fotografische Akt bildet Raum aus, will sagen, er gewährt Einblicke und Einsichten in die baulichen Relationen, die als Bild eine Evokation der Stadthalle ermöglichen, wie sie jegliche andere, unräumliche, also abbildende Fotografie so nicht zu zeigen in der Lage ist.

die konzentration auf die fotografische herausbildung eines >raumesraumumgebunginhalt

Die als Foto-Grafik ausgewiesenen Arbeiten abstrahieren diesen Akt in eine absurde, also hoch-künstlerische Zwittersprache hinein. In der grafischen Geste werden die Spiegelungen in eine Architektursprache rückübersetzt, die der Planzeichnung, das Unmögliche, Irreale also – zumindest als ikonischer Code – möglich, real gemacht.

Ich komme zum zweiten aspekt, den grafischen arbeiten. sind die spiegelungen gefunden, so die grafiken erfunden. sie abstrahieren von den fotografisch gespiegelten spiegelungen und nehmen von diesen bloss ihre kontur mit, die linien, diese werden, vergleichbar der planzeichnung, nachgezeichnet und auf diese weise erfährt das irreale der spiegelung eine eigentümliche realisierung, eine verwirklichung innerhalb der codes der planzeichnung. diese sind ikonische codes, d.h. also zeichen, die in einer ähnlichkeitsbeziehung zum objekt, zum zu bauenden oder gebauten objekt stehen. sie erlauben ein wiedererkennen oder identifizieren von bauelementen, sind also vertrauensvoll. man ist beim lesen der zeichen überzeugt, dass sich so tatsächlich ein bauwerk präsentieren könnte. Kommen wir zum letzten punkt.

Zugleich werden diese Zeichnungen mit fotobildlichen Fragmenten versehen, die auf eine Realität jenseits des Bildes verweisen, die den Blick zwischen einer inneren und einer äußeren Oberfläche oszillieren und also die Uneindeutigkeit also formale Evidenz ins Bild sich einschreiben lassen.

Zu diesen ikonischen zeichen treten jedoch mit den fotofragmenten indexikalische zeichen – diese stehen nicht mehr in einer ähnlichkeitsbeziehung zu den bauelementen, sondern in einer existentiellen beziehung: es müssen zum zeitpunkt der aufnahme genau jene elemente in ihren lichtreflektionen sich mit der fotokamera treffen, die dann auch im bild zu sehen sind. Jedes foto ist zeugnis einer bestimmten wirklichkeit, in diesem fall einer baulichen wirklichkeit. prekär an dieser feststellung ist, dass fotos auch von bereits vorgefundenen medialen wirklichkeiten – von spiegelungen etwa - ein solches zeugnis abgeben können, nur vermögen diese bilder dann nichts mehr über die genaue position und die exakten räumlichen verhältnisse zu sagen, sondern können bloss noch davon berichten, dass zum zeitpunkt der aufnahme irgendwo sich auch das gespiegelt objekt befand. somit gelingt es Sabine Richter in subtiler weise eine unauflösbare vibration zwischen aussen und innen, zwischen gespiegeltem und realem zu initieren, ein spiel der zeichen, das uns mit einer ungewöhnlichen evidenz vertraut macht, der evidenz der uneindeutigkeit, der unschärfe der bedeutungen könnten man auch sagen, die allerdings, wie ich finde, sehr gut in unsere zeit passt, bedenkt man den bilderstreit, der sich zurzeit überall dort entfacht, wo es um alte wahrheiten statt neue freiheiten geht.

Verfasser/in:
Marc Ries
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16. + 17.11.2023
 
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