20/10/2003
20/10/2003

Sind Künstler nur die Narren der Gesellschaft?
Ein Kommentar der anderen als Antwort auf einen Weltkulturerbe-Schützer
Gerald Bast, Autor dieses "Kommentars der anderen", ist Rektor der Universität für angewandte Kunst in Wien

Ein Architekt ist meiner Meinung nach ein sozialer Denker und kein Künstler." Also sprach Francesco Bandarin, Direktor des Unesco-Welterbe-Zentrums im STANDARD-Interview am 13. Oktober. Ein bemerkenswerter Ansatz von jemandem, der Baudenkmäler früherer Epochen unter Schutz stellt und den Schöpfern dieser Denkmäler gleichzeitig ihre Qualifikation als Künstler abspricht. Oder wollte er damit sagen, dass nur zeitgenössische Architektur nicht mehr für sich in Anspruch nehmen darf, Kunst zu sein?

Das Übereinkommen zum Schutz des Kultur- und Naturerbes der Welt definiert schützenswerte Denkmäler folgendermaßen: "Werke der Architektur, Großplastik und Monumentalmalerei, Objekte oder Überreste archäologischer Art, Inschriften, Höhlen und Verbindungen solcher Erscheinungsformen, die aus geschichtlichen, künstlerischen oder wissenschaftlichen Gründen von außergewöhnlichem universellem Wert sind".

Also irren die Kunsthistoriker dieser Welt doch nicht, wenn sie die Totenstadt von Memphis, die Akropolis von Athen, die Kathedrale von Chartres, die Bauten des historischen Zentrums von Rom, das Tadsch Mahal, das Schloss Schönbrunn, die Jugendstilbauten von Victor Horta in Brüssel, das Bauhaus und seine Stätten in Weimar und Dessau und Mies van der Rohes Haus Tugendhat in Brünn (kleiner Auszug aus der Liste des Weltkulturerbes) als Kunstwerke behandeln.

Nur heute dürfen offenbar nach Ansicht der Weltkulturerbe-Kommission Architekten keine Künstler mehr sein, weil sie sonst vielleicht das Recht für sich in Anspruch nehmen könnten, das zu tun, was (Bau-)Künstler früherer Epochen regelmäßig taten: die "urbane Kontinuität" und den herrschenden "Stil" (laut Bandarin die architektonischen Qualitätskriterien) zu ignorieren, ja, zu brechen.

Den Weltkulturerbe-Schützern gilt heute nicht nur das als Sakrileg, was viele der von ihnen geschützten historischen Denkmäler bezeugen – nämlich Bauwerke selbst durch Um- und Zubauten teils massiv zu verändern. Nein, heute darf man nach dem Willen der Beschützer ihre historische Aura nicht einmal dadurch beeinträchtigen, dass man Neues auch nur in die Nähe von Altem stellt.

Wie würde die als Weltkulturerbe geschützte Wiener Innenstadt heute aussehen, wenn auch schon die Baukünstler vergangener Epochen diesem Diktat unterworfen gewesen wären? Da gäbe es keine P.S.K. von Otto Wagner, kein Loos-Haus, keine Barockarchitektur und vielleicht nicht einmal den Stephansdom in der heutigen Form, denn auch der fügte sich einst wohl kaum in die urbane Kontinuität und die Stilrichtung seiner romanischen Ursprünge ein, über bzw. neben denen er errichtet und erweitert wurde.

Die von kleinkarierten Geistern liebend gerne aufgegriffene Botschaft des Weltkulturerbe-Zentrums lautet: zeitgenössische Baukunst hinaus in die Vorstädte. Und selbst dort gilt offenbar: Bloß nicht auffallen! Denn: "Moderne Architektur lebte lange auch vom Schockieren. Ich denke, wir sind nun in einer Phase, wo wir über dem stehen sollten" (Bandarin).

Mit diesem Ansatz argumentiert es sich natürlich als Schutzherr des historischen Erbes vor dem Schrecken unbescheidener, anpassungsresistenter zeitgenössischer Baukunst viel leichter, wenn man heutigen Architekten sagt: Ihr seid keine Künstler, sondern soziale Denker! Und mit ebendiesem von Bandarin konstruierten Gegensatz öffnen sich auch Abgründe eines höchst fragwürdigen Kunstverständnisses.

Pointiert formuliert könnte das bedeuten: Architektur ist etwas für moderate soziale Denker, während den Künstlern die Rolle des Narren der Gesellschaft vorbehalten bleibt, in der sie auch ein wenig schockieren dürfen. – Aber bitte nicht übertrieben und keinesfalls in Salzburg zur Festspielzeit, wie man weiß! (DER STANDARD, Printausgabe, 17.10.2003)

Verfasser/in:
DER STANDARD
Netzwerktreffen
16. + 17.11.2023
 
GAT+