29/01/2014

L‘architecture engagée – Manifeste zur Veränderung der Gesellschaft
Publikation zur Ausstellung im Architekturmuseum der TU München in der Pinakothek der Moderne

Winfried Nerdinger (Hg.)
in Zusammenarbeit mit Markus Eisen und Hilde Strobl.
Architekturmuseum München/DETAIL Institut für internationale Architekturdokumentation, München.

Rezension von Wenzel Mraček

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29/01/2014

Partizipatorisches Bauen, Frei Otto mit den zukünftigen Bewohnern der Öko-Häuser, IBA Berlin 1987 in in 'L‘architecture engagée – Manifeste zur Veränderung der Gesellschaft'

©: Edition DETAIL

Johann Valentin Andreae, Christianopolis, 1619 in 'L‘architecture engagée – Manifeste zur Veränderung der Gesellschaft'

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André Godin, Solution Sociales, 1871, Ansicht eines 'Familistère' und der Fabriken in Guise in 'L‘architecture engagée – Manifeste zur Veränderung der Gesellschaft'

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Bruno Taut und Martin Wagner, Hufeisensiedlung in Berlin-Britz, 1927 in 'L‘architecture engagée – Manifeste zur Veränderung der Gesellschaft'

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Mit dem Titel Engagierte Architektur, der 2012 in der Münchener Pinakothek der Moderne gezeigten Ausstellung, rekurrierten die Kuratoren um den Architekturhistoriker Winfried Nerdinger auf den Begriff der „Littérature engagée“. 1947 forderte Jean Paul Sartre damit eine Literatur, die Lesern deren Vermögen und Aufgabe zur Veränderung gesellschaftlicher Zustände bewusst machen sollte. In der Folge rege diskutiert, wurde der Terminus als L’art engagé auch für die bildende Kunst übernommen, sofern spezifische Werke ausdrücklich zum Zweck der politischen und sozialen Einflussnahme entwickelt wurden.
Angelegt in sieben Kapiteln, analysierte die Ausstellung der TU München durchwegs utopisch zu nennende Konzepte seit dem 18. Jahrhundert, die sich gesellschaftsverändernden beziehungsweise gesellschaftsbildenden Entwürfen verschrieben hatten, um letztlich als Architektur manifestiert zu werden. Dass es bei der überwiegenden Zahl der Fälle dazu nicht kam, darf aus gegenwärtiger Sicht durchaus als glückliche (Nicht-)Entwicklung betrachtet werden.

Herausgegeben von Winfried Nerdinger, in Zusammenarbeit mit Markus Eisen und Hilde Strobl, erschien zur Ausstellung die Begleitpublikation L‘architecture engagée – Manifeste zur Veränderung der Gesellschaft, eine nahezu enzyklopädische Auswahl architektonischer Ideen und Programme, über die jeweils strukturelle Veränderungen der Gesellschaft proklamiert wurden. Gegenüber dem Umfang der Publikation, den wirklich ausführlichen und immens informativen wie spannenden Essays dieser Kompilation halten die Herausgeber eingangs fest, dass es sich gleichwohl um eine, wenn auch große Einsicht und Überblick in die Materie vermittelnde, Auswahl an Darstellungen handelt, die etwa um Friedrich Kieslers Raumstadt oder um Konzepte von José Luis Serts und der katalanischen Gruppe GATCPAC erweitert werden könnte.

Vorweg aber eine Kritik an Layout und Handhabung dieses gewichtigen Bandes: Während der Fließtext in der Tat ausgezeichnet zu lesen ist, auch das Verweissystem zu den zahlreichen Abbildungen praktikabel ist, wird die Rezeption der Endnoten zum leidigen Problem. In Blocksatz und ohne Absätze durchlaufend, gleicht das Wiederfinden entsprechender Anmerkungen, nach jeweiligem Umschlagen der Seiten, nahezu einer Sisyphusarbeit. Man müsste, so die Idee des Rezensenten (als glücklicher Mensch), um halbwegs voran zu kommen, über zwei Exemplare verfügen: im einen mit den Essays beschäftigt, während im anderen die Endnoten aufgeschlagen wären.

Ausgehend von den frühest erfassbaren, literarisch angelegten Gesellschaftsutopien von Thomas Morus (Utopia, 1516), Tommaso Campanella (Der Sonnenstaat, 1602) und Francis Bacon (Nova Atlantis, 1627), die jeweils in Aufnahmen Platons Politeia anklingen lassen, werden in Essays Versuche zu Konstruktionen hin zur „besseren“ Gesellschaft verhandelt und diskutiert. So zeigen etwa schon die Autoren Eva-Maria Seng und Richard Saage an Beispielen wie Albrecht Dürers Entwurfs einer Idealstadt von 1527 oder Johann Valentin Andraes Christianopolis von 1619 die infolge immer wieder auffallend zentralisiert angelegten quadratisch, rechteckig oder kreisrund entworfenen Stadtansichten, die bei allem intendierten Wohlwollen auch jeweils mit einer Regierung der „Besten“ verbunden wären.

Mit quasi vorsozialistischem Impetus sollte Charles Fourier ab 1822 seine Idee des gemeinschaftlichen Lebens, Arbeitens und Wohnens an Entwürfen für die „Phalange“ vorstellen; gemeinschaftliche Wohn- und Arbeitskomplexe für die egalisierte Gesellschaft, die allerdings formal von französischen Barockschlössern übernommen wurden. In einem folgenden Essay behandelt Gerd De Bruyn – an Entwürfen des Kaufmanns und Utopisten Franz Heinrich Ziegenhagen – das Auftauchen der Philanthropen im Zuge der Aufklärung. Ziegenhagens Vorstellungen zur Erziehung eines „neuen Menschengeschlechts“ versuchte er zu Ende des 18. Jahrhunderts an einem Mustergehöft schrittweise zu verwirklichen. Dabei, wie bei etlichen vergleichbaren Anstrengungen, trifft der hier nur erwähnte Titel von De Bruyns Publikation aus dem Jahr 1996 einmal mehr das große Manko: Die Diktatur der Philanthropen. Entwicklung der Stadtplanung aus dem utopischen Denken.

In Reaktion auf die misslichen Umstände des Lebens in Industriestädten investierte so der schottische Großindustrielle Robert Owen in sein Projekt New Harmony, einer genossenschaftlich angelegten Siedlung in Indiana. Auch dieses Projekt scheiterte nach einigen Jahren. Zeichnungen lassen wiederum auf ein zentralistisch angelegtes Stadtgefüge schließen, Neuankömmlinge mussten bestehende Wohnungen beziehen, zugewiesen von einem Lenkungskomitee. Unter dem Einfluss der ersten Stadtsoziologen John Mayhew und Charles Booth legte Ebenezer Howard 1898 seine Konzepte für „Gartenstädte“ vor, die ebenso wie frühere und folgende Überlegungen so gut wie keine Realisierung erfuhren. William Morris‘ auch literarisch propagiertes Leben in Cottages erwies sich gleichermaßen elitär wie unpraktikabel. Das allen gemeinsame Problem erschließt sich, wie aus den Verhandlungen der hier versammelten Essays hervorgeht, jeweils aus der immer wieder wahrzunehmenden Ignoranz gegenüber der betroffenen Bevölkerung, deren Ausschluss von Planungen, geschweige denn Mitbestimmung zukünftiger Lebensbedingungen, und es zieht sich fort bis zu den in der Sowjetunion und gleich darauf in der Tschechoslowakei versuchten Einrichtung von Kollektivhäusern.

Gelungene Beispiele dagegen werden für das 20. Jahrhundert in Lebens- und Werkbeschreibungen über den belgischen Architekten Renaat Braem aufgezeigt. Braem arbeitete, auch theoretisch, konsequent am städtebaulichen Modell der sozialistischen Stadt. Seine Konzepte einer „neuen Gesellschaft“ implizierten den Verzicht auf „Individual-Wohnstätten“ gegenüber dem kollektiven Wohnblock, während er Architektur als „Die Kunst der Organisation des Raumes zum Zwecke der Befreiung des Menschen“ definierte. Allerdings merkt der Autor Joe Braeken hier an, das Braems lineares Städtebaumodell, die „Lijnstad“, wahrscheinlich auf Ideen des sowjetischen Politikers und Stadtplaners Nicolai A. Miljutin zurückgeht.

Im Abschnitt „When Democracy Builds“ führt schließlich Markus Eisen den ausführlichen Vergleich zwischen Bruno Tauts und Martin Wagners „Hufeisensiedlung“ in Berlin-Britz, Ernst Mays „Neuem Frankfurt“ und der Errichtung des Karl-Marx-Hofes in Wien. Etwa zur selben Zeit versuchte Frank Lloyd Wright seine agrarisch orientierte „Broadacre City“ inklusive kleinen Fluggeräten (Autogiro, Gyrokopter) in den USA zu ventilieren, die wiederum über Modelle und umfangreiches Planwerk nicht hinausreichte.

Der Band schließt mit einem Essay von Irene Meissner über „Anpassungsfähige Architektur für eine freie und mobile Gesellschaft“ an Beispielen von Frei Otto, Buckminster Fuller und Yona Friedman, in denen wie im ebenfalls besprochenen Roman Ecotopia eine „freie“ Gesellschaft für die ihnen adäquate Architektur (hoffnungsvoll) vorausgesetzt wird.

Burkhard Schelischansky

denke mir Umberto Ecos Buch"Die Geschichte der legendären Länder und Städte ist eine gute Ergänzung zu oben besprochenen Buch. Eco behandelt hier städtebauliche Mythen, Sciencefiction fiction, historische Wunschorte. Ebenfalls ein Buch über die Sehnsucht nach einer neuen, ganz anderen Welt.
Burkhard Schelischansky

Fr. 31/01/2014 9:31 Permalink
Arno Niesner

Eine "freie" Gesellschaft beginnt und endet an ihren sozialen Rändern. Insofern sie diese hin zu ihrer Mitte integriert, darf sie sich auch in ihrer Gesamtheit als "frei" bezeichnen. Mehr dazu auf Seiten wie diese: http://sonnenstaat.bosolei.com, verbunden mit der Einladung zur Gründung der in diesem Beitrag erwähnten "Wegbau Genossenschaft" ...

Fr. 17/08/2018 10:25 Permalink
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