02/11/2003
02/11/2003

Verschluckt!
(Neue Räume, alte Träume)- Martin Krusche

„Das Wasser reichte mir bis an die Kehle, die Urflut umschloß mich; Schilfgras umschlang meinen Kopf. Bis zu den Wurzeln der Berge, tief in die Erde kam ich hinab; ihre Riegel schlossen mich ein für immer.“
So beschreibt der Prophet Jona sein Befindlichkeit, nachdem er in einem Sturm von ängstlichen Matrosen über Bord geworfen worden war. Danach verbrachte er drei Tage im Bauch eines Fisches, der ihn schließlich unverdaut wieder ausspie.
Nicht nur der Hölle Rachen ist geeignet uns zu verschlingen, tausendfach sind die Möglichkeiten und Phantasien, die einem Menschen das Verschlucktwerden als „alterated state“, als veränderten Zustand zeichnen. Meist in irgend einer Form mit Krise und Katharsis verbunden.
Eine jüngere Variante solcher Geschichte liest sich so: „Ich alte Leiche brauche mein Lachen.“ sagte Case. „Geruch von kaltem Stahl. Eis umschmiegt seine Wirbelsäule.“ „Dann schwarzes Feuer in den Nervenverzweigungen; Schmerz, der alles übertraf, das den Namen Schmerz verdient ...“
Die „Kyberspace-Matrix“ ist von „knisternder Stille“ belebt. „Subkulturen konnten über Nacht auftauchen und für ein paar Wochen florieren, um dann jäh von der Bildfläche zu verschwinden.“
„Die Kultivierung einer gewissen Paranoia war für Case eine Gegebenheit.“ schrieb William Gibson über den Held in seinem Roman „Neuromancer“. „Das Kunststück bestand darin, sie in Schach zu halten.“ An anderer Stelle heißt es: „Die Angst kam wie ein halb vergessener Freund.“
„Die Matrix hat ihre Wurzeln in primitiven Videospielen“, sagte der Sprecher, „in frühen Computergrafikprogrammen und militärischen Experimenten mit Schädelelektroden.“
„... wenn du jetzt einsteckst.“ heißt es im „Neuromancer“. Plug in. Log in. Mit dem „Deck“. Einem „Ono-Sendai Kyberspace 7“. Elektroden auf der Stirn. Ein Katheter in der Hose, damit man sich nicht naß macht. Geriffelter EIN-Schalter. So geht man „ins Silikon“.
„Lichtzeilen, in den Nicht-Raum des Verstandes gepackt, gruppierte Datenpakete. Wie die fliehenden Lichter einer Stadt.“
Cowboy-Attitüden. Der Lazarus des Kyberspace. Drei Hirntode hinter schwarzem Eis überstanden. EIS. Elektronisches Invasionsabwehr-System. „Schon mal probiert, ´ne AI zu knacken?“ „Mein Helfer roch die versengte Haut und zog mir die E-troden von der Stirn.“
Diese Fantasien hat der Schriftsteller William Gibson Anfang der vergangenen 80er-Jahre vorgelegt. Man muß schon ein ziemlicher Freak sein, um die Matrix aus „Neuromancer“ einladend zu finden. Aber wer je Gast auf einer Intensivstation gewesen ist, weiß natürlich: diese Szenen aus der Science Fiction-Literatur, das Genre wurde Cyber-Punk genannt, können genau so eindrucksvoll wie hier beschrieben zum konkreten Erlebnis werden. Plugged in. Eingestöpselt. Das Atmen von einer Maschine erledigt. Einen Herzkatheter neben dem Schlüsselbein in die Brust gerammt. Perfuser injizieren fein abgestimmte Chemie. Elektroden geben Körperfeedback an Maschinen. Das Fleisch macht sich mit frischen Implantaten vertraut. Die Seele verbirgt ihren Schrecken. EDV-gesteuertes Leben als veritabler Albtraum zwischen weiß gekachelten Wänden.
Die jungen Heilsversprechen flackern am Bildschirm. Neue Räume wurden von der Literatur skizziert und diese Skizzen in den Werbeagenturen der Konzerne verwertet. Wir vergrößern unsere Silhouetten durch Informationstechnologie. Körper und Räume als Objekte der Expansion. Die passenden Wanderprediger haben sich schon etabliert. Auch wenn sie es nicht mehr nötig haben, sich zu bewegen. Was Paul Virilio den „rasenden Stillstand“ nennt.
Einer dieser Prediger hat in seinem Buch folgende Annahme formuliert: „Durch die neue Technologie werden den Menschen enorme Ausdrucksmöglichkeiten zuwachsen. So wird das Internet einer neuen Generation von Genies – und allen anderen Menschen ebenso -- ungeahnte künstlerische und wissenschaftliche Möglichkeiten eröffnen.“ Eine überaus optimistische Deutung des Hypes, der uns nun seit rund einem Jahrzehnt beschäftigt. Ich kann die Einschätzung des Autors von „Der Weg nach vorn“ bisher nicht bestätigen. Vielleicht hat er die Genies ebenso wie die „anderen Menschen“ etwas überschätzt. Oder sich die ganze Sache zu hübsch nach den eigenen Interessen zurechtgedacht. Aber wer seine Medizin gut verkaufen möchte, schreibt ihr eben Nutzen für alle Menschen zu.
An anderer Stelle schreibt der Prediger Bill Gates: „Zum besonderen Charme der elektronischen Welt gehört, daß man allen Interessierten Bildungs- und Ausbildungsmöglichkeiten praktisch zum Nulltarif zugänglichen machen kann.“ Lacht hier jemand? Immerhin wäre der heute steinreiche College-Boy mit solchen Auslassungen ein Anlaß zur Einführung des Nobelpreises für hochtrabendes Geschwätz. Steht in seinem Machwerk doch zu lesen: „Mich schreckt die Vorstellung eines total dokumentierten Lebens schon ein bißchen, aber andere werden Gefallen daran finden.“
Ruhig Blut! Doppelmoral, gibt der Zukunftsforscher Matthias Horx zu bedenken, sei eine Strategie, kein moralisches Problem. Die rationellere, also kostensparende Abwicklung von Verwaltungsvorgängen in einer Gesellschaft waren hierzulande im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert eine der mächtigen Triebfedern des Nationalsimus. Wenn uns also „neue Räume“ zu verschlucken beginnen, ist es von Vorteil, besonders auf die Bedingungen der Wahrung von Menschenwürde zu achten. Das vorige Jahrhundert sollte dazu ausreichend Anlaß geben.

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