22/02/2004
22/02/2004

Bluespeak zur Wahl als Volkssprache

”Im Jahre 50 AB (anno Batrachii)(1) wird Bluespeak die offizielle Sprache der austurischen Provinz Karanthanien mit Anspruch auf ganz Austurien. Es ist geschaffen, die ideologischen Bedürfnisse von Karlib, des karanthanischen Liberalismus, zu befriedigen. Es soll mit der Zeit das traditionelle Red-speak ersetzen, wird vorerst aber nur von wenigen Führungspersonen und Spezialisten (meist unter Zuhilfenahme von schriftlichen Unterlagen) ge-sprochen. Erstens, von BigBlue, auch BlauBruder oder, bei kamerad-schaft-lichen Feiern, die Messen gleichen, Big Batrachius, kurz jedenfalls BB genannt, den unbestrittenen FÜHRER; zweitens, von Blautaler und, drittens, von Blaucobra, die eine äußerst zungenfertige Version verwendet, ohne allerdings in der emotionalen Ausstrahlung in die Höhen von BBs Bluespeak vorzudringen (Blautaler wird in den Lagern der Rotsocs und Grünsocs hämisch Blaujac genannt; umgekehrt werden Rot- und Grünsocs von Blaulibs süffisant als Rot- oder Tot- bzw. Grünsocs apostrophiert). Der Zweck von Bluespeak ist es nicht nur, der Weltanschauung und den Gei-stes-gewohnheiten der Mitglieder der Blaupartei Ausdruck zu verleihen, sondern alle anderen Weltanschauungen und Ausdrucksweisen obsolet zu machen. Alle Welt soll Blauwelt werden, mit Karanthanien als deren Herz.

Sofern Gedanken an Wörter gebunden sind, sollen andere Bedeutungen als in Bluespeak vorgesehen, als Oldspeak bloßgestellt und lächerlich ge-macht werden. Neue Ausdrücke wurden geschaffen. Da man nicht ohne Phrasen und Wörter des Oldspeak auskommt, hilft man sich, ihnen neue Bedeutungen zu geben. Ein Beispiel dafür ist das Wort frei. Zuerst war überlegt worden, die neue Weltanschauung Bluefree statt Blaulib zu nen-nen beziehungsweise Karfree statt Karlib für die karanthanische Version. Aber frei hat eine deutliche Oldspeak Konnotation. Das frei im Satz „Ka-ranthanien ist frei von Fremden” wird verwendet wie in „der Hund ist frei von Flöhen” (Bluespeak verwendet die Kleinschreibung; die Großschrei-bung bleibt Eigennamen und Elementarbegriffen von Blaulib vorbehalten). Frei wird nicht mehr im Sinne von politischer oder intellektueller Freiheit verwendet, da solche Konzepte im Wortschatz von Bluespeak nicht mehr existieren; sie waren zu namenlosen Konzepten geworden. Karlib hat diese Konnotation, d.h. Schwäche, nicht und bezeichnet sozusagen einen na-menlosen Begriff namentlich.

Bluespeak soll kühl wirken aber emotional geladen sein. Dieser Wider-spruch wird dadurch bewältigt, daß Emotionen mit Körperteilen in Verbin-dung gebracht werden, beispielsweise mit Bauch, Hypophyse, Thalamus etc. bauchfühl wird im Sinne eines emotionalen Verstehens, Billigens ver-wendet wie in bauchfühl Karlib. Das Gegenteil könnte einfach durch un-bauchfühl Karlib ausgesagt werden: das aber ist ein Widerspruch in sich und kein Blaulib wäre auf die Idee verfallen, eine solche Aussage zu ma-chen; unbauchfühl Rotsoc ja, aber unbauchfühl Karlib, nein. Unter den neugeschaffenen, deutlich negativ besetzten Wörtern für fremddenker ist dortalt (doraltet, doralten,...), wie in doralt Rotsoc oder doralt Schwarz-denk, doralt Oldspeak oder undoralt Karlib. Ein weiteres ist pelink (pelinkt, pelinken,...), das sich vorzüglich in der Mehrheitsform eignet, mit dem Rot-socs und Linksintellektuelle – eben pelinker – apostrophiert werden. Mit lit-man ist der kleine Mann, der noch nicht Mitglied der Blaupartei ist, ge-meint. Er wird besonders umworben.

Mit Bluespeak wird zweierlei erreicht, erstens braucht die Sprache nicht intellektuell sondern kann bauchfühl verstanden werden und damit von al-len Mitgliedern der Partei; zweitens können Oldspeak Phrasen verwendet werden, denen aber ein völlig anderer Sinn gegeben wird. Dies wissen eingeweihte Blaulib Lurche wohl. Sie quittieren solche Feinheiten, die nicht eingeweihten litmans verborgen bleiben, mit Kopfnicken, Lächeln oder Händeklatschen. Diese Tatsache soll dem Eindruck entgegenwirken, Blue-speak werde mit Verbissenheit gebraucht. Weit gefehlt. Es wird im eigenen Kreis, wenn auch in einfacher Form, ganz selbstverständlich wie eine Volks-sprache angewendet und von blaumans und Parteianwärtern unter den litmans mit einem genießerischen Lächeln auf den Lippen quittiert, so, als wolle man sich über die Welt des Oldspeak amüsieren. Wenn er sich über Rotdenker, Altdenker oder, allgemein, über Gutdenker äußert, werden Ansprachen BBs mit besonderem Jubel aufgenommen und mit Ausrufen wie bauchfühl!, plusbauchfühl!, plusplusbauchfühl! oder gar B B ! bedacht.

Bluespeak weist rassistische Untertöne auf, wofür Lurche allgemein anfäl-lig sind. Gutjud wird häufig zusammen mit unbauchfühl oder Stamm-formen von pelink verwendet. Erfolgreich und hinterhältig zugleich ist die Verwen-dung von Ariel als Bezeichnung für den ewigen Gutjuden und sol-chen, die sich als „Opfer gebärden", wie in Ariel dreckt oder plusbauchfühl Bärental frei von Arieldreck ..."
Im Papier werden auch Interna bekanntgegeben, aus denen hervorgeht, daß der Machtanspruch der PARTEI zwar gefestigt, die Opposition jedoch noch nicht ausgeschaltet ist. Um die Plumpheit von Bluespeak zu vermei-den wird ihr FÜHRER, obwohl offiziell nicht gut geheißen, im A-Vokabular von Bluespeak, jenem des täglichen, nicht von der Partei diktierten, sprachlichen Umgangs, in dem Namen für Personen statt Funktionärsbe-zeichnungen verwendet werden, etwa liebevoll Hallow Jörg, kurz HJ, statt BB genannt. Dies machten Gutmenschen zu Hollow Jörg. Jedesmal, wenn ein Gutmensch in absichtlich undeutlicher, dem Volksidiom entlehnten Aussprache von Hollow Jörg spricht, spielt ein süffisantes Lächeln um sei-ne Lippen, was Blaulibs in stille Wut versetzt und zu Ausbrüchen Blautalers führt, die auf dem Gesinnungsmonitor des Ordentlichen ReichsFunks (ORF) übertragen werden. Blaujac ärgern ist ein beliebter Zeitvertreib un-ter pelinkern, wenn auch kein ungefährlicher für ihren Leib."

(1)Aufgrund von Recherchen des Herausgebers: gemeint ist Batrachius, der Großlurch, auch der Große Molch oder der Große Salamander genannt, als Stammvater der Bewegung und Emanzipation der Lurche. In der Zeitrechnung der Menschen möglicherweise das Jahr 2000, wobei 0 AB 1950 AD ist.
Literaturhinweis
"Tanz der Lurche"
Gruppensex im Quappenpool, Gedichte und Zeichnungen zum Zeitgeist
Löcker Verlag, 2002
ISBN 3-85409-362-4

Verfasser/in:
Bernhard Hafner
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16. + 17.11.2023
 
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