06/03/2004
06/03/2004

"Vom Grunzen und Rekeln oder das Trauma von der Gemütlichkeit" - Friedrich Achleitner

„Deutsches Wörterbuch von Jakob und Wilhelm Grimm:
„5, a) gemütlich heiszt nun auch, wer vor lauter gemüt die strenge des denkens, wie die entschiedenheit des thuns scheut und dem ernst des lebens aus dem wege geht oder ihn ganz übersieht, um nicht aus seinem gemütlichen behagen hinausgetrieben zu werden…“

„Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache“ von Friedrich Kluge:
„Gemütlich, kaum vor Adelung 1775, nennt Görres 1814 als neues Stichwort zeitgenössischer Deutschtümmler. Der deutschen Gemütlichkeit folgt die Wiener 1839, die sächsische 1847.“

Karl Kraus (Pro domo et mundo, 1912, Kap. II., Von der Gesellschaft):
„Ich verlange von einer Stadt, in der ich leben soll: Asphalt, Straßenspülung, Haustorschlüssel, Luftheizung, Warmwasserleitung. Gemütlich bin ich selbst.“

Meyers Enzyklopädisches Lexikon:
Ein Lichtblick: In den 24 Bänden des „Großen Meyer“ kommt das Stichwort „Gemütlichkeit“ nicht vor.

Vermutung
Vermutlich ist Ge-müt-lich-keit eine Dekonstruktion von Mut. Und zwar des „guten Mutes“, dessen sich der Geborgene erfeut. Guten Mutes kann man nur unter bestimmten vertrauten Personen und Dingen sein. Deshalb wird auch zur Inszenierung von Gemütlichkeit nur Altvertrautes genommen; Symbole einer überwundenen, stillgelegten Welt oder Zeichen einer nie erreichten. Beide erlauben absoluten Besitz, totale Verfügbarkeit. Dazu gesellt sich die Geborgenheit: der niedere Raum, das Eck, der Winkel, die Nische. Gemütlichkeit braucht die Verkleinerung und die Unterteilung. Was sich nicht mehr unterteilen lässt, das fülle man mit vertrauten Formen und Materialien. Die Formen der Erinnerung sind die Daunen, mit denen man die Polster der Gemütlichkeit füllt.

Gemütlichkeit ist die gewonnene Distanz von allem Fremden, Feindlichen, Gefährlichen, Unbestimmten und Unbestimmbaren. Kein Wunder, dass die fremden Sprachen, die Ausländer das Wort Gemütlichkeit nicht kennen. Da haben wir´s. Auf die deutsche Sprache ist halt doch Verlass. Gemüt, das ist die Konstruktion eines psychischen Zustands, der es erlaubt, über die gemütliche Wahrnehmung von Wirklichkeit hinaus die Wirklichkeit selbst in Gemütlichkeit zu verwandeln. Das Gemüt wird nur sauer, wenn der Kraftakt nicht funktioniert. Das Gemüt wird zur Bestie, wenn die Gemütlichkeit nicht hinhaut. Aber es gibt noch den sich rekelnden Humor: man kann es sogar mit Gemütlichkeit der Ungemütlichkeit heimzahlen.

Die Silbe „lich“ hat etwas mit gleich zu tun, es ist das tautologische Element in der Dekonstruktion von Mut. Und „keit“? Macht die Sache erst richtig perfekt. Es macht Würde und institutionalisiert. Das bisschen Härte kann Gemütlichkeit schon vertragen, wenn es sich mit Redlichkeit, Obrigkeit, Vergänglichkeit, Unmöglichkeit, Minderwertigkeit etc. verwandt fühlen will. In Gemütlichkeit steckt etwas Herrschendes, Expansives, ja Imperiales. Wo wir gemütlich sind, da bleibt kein Auge trocken. In Gemütlichkeit steckt ein unverschämtes Potenzial. Wer kann schon etwas gegen Gemütlichkeit haben? Außer jenen, die uns nicht verstehen oder nicht verstehen wollen. Gemütlichkeit rechnet von vornherein mit dem Einverständnis der anderen. Das macht die mit Grölen gefüllten Autobusse so sympathisch. Gemütlichkeit als die totale Projektion der Innenwelt in die Außenwelt. Die kollektive Inszenierung eines infernalischen Zustands. Warum hat eigentlich Nitzsche nie über den deutschen „Willen zur Gemütlichkeit“ geschrieben? Eine satanische Steigerung ist die Verwandlung dieses Willens (oder Zwangs) in Bewegung und Rhythmus – das Schunkeln. Der deutsche Mensch traut offenbar erst seiner Gemütlichkeit, wenn er sie in eine Bewegung der Massen verwandeln kann, auch wenn dabei die Gesichter einfrieren und sich die Lachmuskeln verkrampfen. Ein wenig Verbissenheit braucht die Gemütlichkeit schon. Eine Steigerung schafft nur mehr der Gesang: erklingt in einer Bierrunde "ein Prosit der Gemütlichkeit“, beginnt ihre Schlachtung, ihre öffentliche Hinrichtung.

Vielleicht war die Erfindung des Wortungeheuers „Gemütlichkeit“ nur die Bekundung eines Defizits: ein Begriff, erfunden für einen Mangel, für etwas, das man nicht hat? Denn gäbe es im Deutschen die Gemütlichkeit, bräuchte es, wie in anderen Sprachen, kein Wort dafür. Ein interessanter sprachtheoretischer Ansatz: die Sprache als Ersatz für eine nicht vorhandene Wirklichkeit? – die Sprache als Ersatzwelt?

Gemütlich bin ich selbst
Hinter diesem Ausspruch steckt mehr als pointierter Witz. Genaugenommen besagt er, dass Gemütlichkeit – getreu der deutschen idealistischen Tradition – ein Phänomen der Anschauung, nicht der Eigenschaft (oder Wirkung) der Dinge ist. Sie ist also eine gewollte Einstellung der Wirklichkeit gegenüber. Wie lächerlich oder ärgerlich wirkt ein „gemütlicher Raum“, wenn man aus irgendeinem Grunde nicht imstande ist, dessen Wirkung zu ertragen oder zu estimieren. Der gemütliche Raum verlangt also die entsprechende psychische Disposition, den arglosen, entspannten Geist, der bereit ist zu übersehen, der passiv und versöhnlich gestimmt ist. Wachheit ist a priori ungemütlich. Gemütliche Inszenarien verlangen den Konsens, im Urlaub sind wir besonders konsensbereit. Der Kitsch der Urlaubsländer ist allemal erträglicher als der heimatliche. Gemütliche Räume zeigen einen laxen, dumpfen, unkontrollierten Umgang mit der visuellen Welt. Sie haben sicher nichts Insistierendes, Forderndes oder gar Belehrendes, Aufklärerisches, Infragestellendes. In gemütlichen Räumen menschelt es, sie sind in allem unzulänglich, sie leben von Halbheiten: halb hell, halb dunkel, halb laut (auch optisch), halb leise, halb bunt, halb perfekt, halb vordergründig, halb verdeckt.

Ich entdecke mit Schrecken, dass es vielleicht mehrere Gemütlichkeiten gibt, sozusagen gute und schlechte, liebenswürdige, unaufdringliche, zufällige oder eben penetrante, verordnete, beherrschende und unverschämte. Jedenfalls entwickelt die Gemütlichkeit als Massenphänomen beachtliche Qualitäten in der Darstellung menschlicher Leidensperspektiven: der Wiener Heurige als Fegefeuer, das Münchner Oktoberfest als Vorhölle und der Mainzer Karneval als Hölle. In Bayern sind Planungen bekannt geworden, Gefängniszellen – zur Strafverschärfung – als Bauernstuben einzurichten, und es sollen auch schon einschlägige Restaurants beim Europäischen Gerichtshof in Straßburg angezeigt worden sein. Nun man sollte es mit der Gemütlichkeit und den Menschenrechten nicht zu weit treiben, schließlich weht sie als Geist – die Gemütlichkeit – oder geht sie als Gespenst um, wo sie will. Ich, für meinen Teil, würde ihre Pflege gerne Gerhard Polt anvertzrauen - etwa in der Rolle eines Bundesgemütlichkeitsverwesers -, dann könnte man vielleicht nach einigen Jahren das Problem auf EU-Ebene richtig durchdiskutieren; im Anschluss würde ich dann ein „gemütliches Beisammensein“ vorschlagen.
(Essay aus dem Buch "Region, ein Konstrukt? Regionalismus, eine Pleite?", erschienen bei Birkhäuser, 1997)Neuerscheinungen von Friedrich Achleitner:
"Einschlafgeschichten", Zsolnay, 2003
"Wiener Linien", Zsolnay, 2004.

Verfasser/in:
Friedrich Achleitner
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