21/03/2004
21/03/2004

"Der Abstand zu mir dort drüben oder: bei sich sein im Fahren auf der Autobahn" - von Max Peintner

Wenn meine kleine Tochter jetzt, im Alter von nicht ganz zwei Jahren, mit der Mutter Schlafenlegen spielt, braucht die nicht zu liegen; es genügt, wenn sie bequem handhabbar auf dem Boden sitzt, die Beine ausgestreckt und den Oberkörper nicht allzu aufrecht angelehnt. Nachdem die Mutter die Augen auf leichtes Antippen hin geschlossen hat (und dem nötigenfalls nachgeholfen worden ist), muss sie die Hände über dem Bauch aufeinanderlegen oder verschränken. Das kann gar nicht sorgfältig genug geschehen, und meistens wird das Kind die Stellung der Hände korrigieren oder wenigstens noch einen Finger zurechtrücken. Dann wird auch die Lieblingspuppe zum Schlafen fertig gemacht, das heißt, es werden ihr die Ärmel und Hosenbeine an den Stoffgliedmaßen hochgeschoben. Weil das Kind beim Schlafengehen die Situation umkehrt und erst einmal die Mutter zu Bett bringt, als sei sie das Kind, ist nicht mehr recht klar, wen die am Boden Sitzende und wen die Puppe vorstellt. Entweder ist die eine Person, aus technischen Gründen sozusagen, außerhalb des Schlafes der anderen, oder es sind die zwei Figuren, während sie dem Anschein nach Mutter und Kind sind, doch letztlich beide das Kind, das solcherart „schlafend“ in sich beschlossen und zugleich bloß schlafengelegt im verkörperten „Nachklang“ seines Wachzustandes aus sich herausgestellt wäre.

Ich rate also darauf, dass mit dem Verschränken der Hände am Körper ein Raum zurückgenommen werden soll, der bei offenen Augen nach vorne ausgespannt ist, ein zugehöriges Segment der Welt. Die verschränkten Hände deuten nicht einfach die Bettdecke an oder ersetzen sie; denn auch wenn die Mutter „wirklich“ zu Bett gebracht wird, muss sie trotz eines ausgeprägten Zudeckrituals erst einmal die Hände in die beschriebene Stellung bringen. Die Pose gehört aber hauptsächlich zur Theorie des Kindes – einer ganz wortgedankenlosen – und nicht zu seiner Einschlafpraxis. Im Bett nimmt es sie keine Sekunde lang ein; selbstvergessen und vergleichsweise lässig allerdings immer dann, wenn es in seinem Wagen sitzt und spazierengefahren wird. Ich vermute darin eine teilweise Abschirmung; die sanfte, in der Geborgenheit des Wagens abgegebene Erklärung, dass das Kind für die wechselnde Umgebung, so interessant sie ist, nicht als für einen Teil von sich die Verantwortung übernehmen mag.

Ich nehme es als halb schon abgetanes, noch einmal nachgestelltes Welt-Bild, wenn ich mich in einen Zufallswinkel zwischen Möbelstücken zurückziehen, mit der herausgeklappten Tür eines Regalunterbaus mein Gehäuse verschließen und darin eine Weile sitzen bleiben muss, mit einem Buch oder sonstigen Gegenstand in der Hand, den meine Tochter ausgewählt hat. Ich soll zurückversetzt werden in eine Zeit vor der Begegnung mit meiner Gestalt draußen: ich bin ein Spüren meines Körpers auf der einen, der Anblick des vertrauten Ding-Menschen-Hintergrundes auf der anderen Seite; der Gegenstand in meiner Hand stellt das unbestimmte Zwischenreich dar, halb ich, halb es, das ich mit diesem doppelten Sein umschließe und in das mein Wollen und Handeln sich richtet. Ich pflücke mir die Welt von den eigenen Wänden. Ich fange an, das Gefühl von meinem Hineinlangen in mich zu werden. Vielleicht war die Weltblase im eigenen Fleisch manchmal irritierend. Vielleicht auch wiederholt die Empfindung maßloser Gedunsenheit der Lippen, Wangen, Hände oder des ganzen Körpers, die einen im Halbschlaf überfallen kann, ein altes Bemühen, möglichst schnell wieder mit sich zusammenzuwachsen. Die Baumhütten und Versteckplätze der späteren Kindheit, bei denen so wenig Platz zwischen dem Körper der Benützer und den Wänden bleiben darf, mögen als Gebärmutter gemeint sein; doch möglicherweise sollen sie zugleich – oder statt dessen – die abenteuerliche Situation reproduzieren, in der jeder sich zwischen Umhüllen und Ausfüllen der Welt gefunden hat.

Selbst die Besessenheit vom Auto kann ich mir besser begreiflich machen, wenn ich es als besonders wirksames Mittel zur Neuinszenierung dieser Situation deute. Die Haut zählt nicht mehr so sehr; die Grenze ist durchlässig geworden, weil eine Schicht sich abgelöst hat und mir greifbar als durchsichtige Wand vor Augen steht. Die Welt, die gegen die Scheibe läuft und an der Scheibe klebt, gehört, mit dem Wagen, mir, beinahe zu mir; es ist, als näherte ich mich mir, wäre schon daran, mich einzuholen und käme doch nie in die Lage, mich mit mir zu vermischen. Der Abstand zu mir dort drüben, der fortgesetzt schrumpft und sich ergänzt, darin unheimlich wie die Zeit, ist – entschärft und heimelig geradezu – noch einmal da zwischen meinem Körper und dem Glas.

Ein Freund hat mich darauf aufmerksam gemacht, dass dieses Bild wohl nur für das Fahren auf den großen Überlandstraßen einigermaßen Sinn ergibt; ich überlege, ob es nicht gerade das vorgeblich so enervierende Autobahnfahren ist, das am meisten auf das Autofahren süchtig macht. Das Fahrbahnband gibt uns eine so übersichtliche, saubere Vorschau auf den Wechsel der Blickpunkte, dass wir jeden schon eingenommen haben, bevor wir dort sind, und so nach einiger Zeit, vom Unausweichlichen hypnotisiert, die Szenenfolge gleichsam am festen Ort über uns hereinbrechen fühlen. Bei den neueren Fernverbindungen quer durch die Alpen ist in engen Tälern die Straße völlig vom Gelände abgesetzt auf Betongalerien den Hang entlanggeführt, vier- bis sechsspurig und komplett mit Pannenstreifen. Man ist auf der dem Boden näheren Seite noch immer in Höhe der Baumwipfel und fährt also durch eine Landschaft, die in einem neuen Sinn unberührt ist. Die einmündenden Täler sind ohne Wimpernzucken durch Brücken überspannt, wie es sich gerade im Zug der glatten Trassenführung ergibt, und scheinen hinten mit der Erdkrümmung wegzusacken, als sähe man vom Flugzeug aus in sie hinein.
Im Autobahntal ist in blanker Bedeutungslosigkeit versunken, was unterhalb des Fahrbahnniveaus liegt. Der Talgrund läuft zerdehnt durch die endlos sich ziehenden Galerien nebenher, merkwürdig abwesend, wie entvölkert. Es gehört zu den Aufgaben der großen Straße, einem jede Anteilnahme an Leben und Tätigkeit der Menschen zu ersparen, durch deren Tal man fährt. (Dasselbe gilt für die Straßenstücke, die neuerdings mehr und mehr, nahezu lückenlos, mit Lärmschutzwänden von der sie umgebenden Landschaft abgeschirmt werden. Anm. der Redaktion) Ein Gefühl von beschwingter Verantwortungslosigkeit, von Überlegenheit kommt auf, wie im Schnellzug, wenn er ganze Ansiedlungen wegzaubert, indem er in ihren Bahnhöfen dasselbe Tempo hält wie auf freiem Feld. Das wiederkehrende Wort Ausfahrt am Autobahnrand trägt zu dem Eindruck bei, man sei umgeben von Ausland; und auch bei anderer als deutschsprachiger Beschilderung ist aus der entsprechenden Bezeichnung eine Aufforderung zum Weiterfahren herauszulesen, die Mahnung, das Eigentliche nicht zu verlassen. Steigt man an der Autobahn aus dem Wagen, dann kann man etwas wie Blutleere im Kopf darüber spüren, wie der Beton plötzlich zum Stillstand gekommen ist und dass man unvermittelt in derselben Luft wie die Dinge steht: weil man nicht mehr bei sich im Auto ist, ist man nun wirklich nirgendwo. Zudem ist man in der Vergangenheit abgesetzt; bis man sich gefasst hat, ist die lebendige Zeit eindeutig auf seiten eines jeden Fahrzeugs, das vorbeirollt.
Gemeinsam im Auto unterwegs sein fühlt sich manchmal beinahe so an wie eine gemeinsame Zukunft haben. Das Auto eignet sich deswegen zum Familienfetisch und muss anscheinend sogar ein Wundermittel gegen den Zerfall der Familie abgeben. Die Familienmitglieder haben dank der Windschutzscheibe und dank der Perspektive, die der Leitplankenhorizont (und Lärmschutzwand-, Anm. der Redaktion) vorgibt, teil an ein und derselben Utopie, einem erreichbaren Nirgendland, einer Welt zum Zusammen-Verbrauchen und -Wegwerfen; ihre Leiber, oder genauer: Körpersensationen, sind in der gemeinsamen Vereinsamung durch einen Anblick zur Person ergänzt, als wären sie vorne draußen miteinander verwachsen, wo die Welt sich ihnen einkörpert und sich im Näherkommen durch Preisgabe ihrer Details wieder entzieht.Dieser Text ist mit freundlicher Genehmigung des Autors dem Band „Bilderschrift“ entnommen
Residenz Verlag, Salzburg, 1984
ISBN 3-7017-0376-0
Biografie Max Peintner

Zeichner und Schriftsteller, geboren 1937 in Hall, Tirol, lebt in Wien

Einzelausstellungen (Auswahl)
1986 Vertreter Österreichs auf der Biennale Venedig mit dem Generalthema "Kunst und Wissenschaft" (mit Karl Prantl)
1989 Galerie Clairefontaine, Luxemburg
1991 Zentrales Künstlerhaus des Künstlerverbandes der UdSSR, Moskau (Flügel und Feuer)
Kulturhaus Graz (Sinneswerkzeug - Kunst als Instrument; im Rahmen des steirischen herbstes (mit Bernhard Leitner und Alfons Schilling)
1993 Galerie im Taxispalais, Innsbruck (Im Paradies)
1997 Galerie im Traklhaus, Salzburg (Die weißen Flecken auf der Karte; in Zusammenarbeit mit den Salzburger Landessammlungen Rupertinum)
Künstlerhaus Klagenfurt (Zum Greifen nah)
Galerie 3, Klagenfurt
1999 RLB Kunstbrücke, Innsbruck (Licht und unsichtbare Nacht)
2000 TAKE-OFF. Wahrnehmung im technologischen Zeitalter, Neue Galerie, Graz (Kurator Peter Weibel)

Ausstellungsbeteiligungen: (Auswahl)
1972 Fetisch Jugend - Tabu Tod, Frankfurter Kunstverein und Kunsthalle Kiel
1973 The Austrian Exhibition, Richard Demarco Gallery, Edinburgh und Institute of Contemporary Arts, London
1973-75 Gemeinschaftsausstellungen der Galerie Grünangergasse 12, Wien
1974 Zeichnungen der österreichischen Avantgarde, Galerie im Taxispalais, Innsbruck; Palais Thurn und Taxis, Bregenz; Bündner Kunsthaus, Chur; Galerie Stampa, Basel; Städtische Kunstsammlungen, Ludwigshafen; Museum Schloß Morsbroich, Leverkusen; Neue Galerie am Landesmuseum Joanneum, Graz
1975 Architectural Studies and Projects, The Museum of Modern Art, New York
1976-77 Gemeinschaftsausstellungen der Galerie Schapira & Beck, Wien
1977 documenta 6, Kassel
1978 Positionen der Zeichnung in Österreich heute, Kunsthalle Baden-Baden und Neue Galerie, Linz
1982 Die Handzeichnung der Gegenwart II, Staatsgalerie Stuttgart
1984 Arte Austriaca 1960-84, Galleria d'Arte Moderna, Bologna
1985-86 Innovativ, Kulturhaus Graz und Moderne Galerie Rupertinum, Salzburg
1988 Peinture et Dessin en Autriche, Musée Cantonal des Beaux-Arts, Lausanne
1989 Land in Sicht, Mücsarnok, Budapest
Wien-Wien 1960-1990, Museum für Moderne Kunst, Bozen und Palazzo della Permanente, Mailand
Regard sur 150 Tableaux, Musée Cantonal des Beaux-Arts, Lausanne
1992 Identität:Differenz, Tribüne Trigon, Graz
Art Tirol, Galerie der Österreichischen Botschaft, Washington; Fine Arts Center der Bowling Green State University, Ohio; 479 Gallery, New York; Museum of Fine Arts der University of Arizona, Tucson; Cullen Center, Houston; Montcalm Gallery, Hul-Quebec
Körpernah, Galerie Krinzinger, Wien und Galerie ak Hans Sworowski, Frankfurt am Main
1996-97 Austria im Rosennetz, Österreichisches Museum für angewandte Kunst, Wien und Kunsthaus Zürich
Jenseits von Kunst, Ludwig Museum Budapest und Neue Galerie am Landesmuseum Joanneum, Graz
1997 Über die Berge, Rabalderhaus, Schwaz
Art Tirol, Stadtmuseum für Grafik, Bruneck
1997-98 Alpenblick, Kunsthalle Wien
1998 arttirol 98, Kunst aus Tirol, Südtirol und dem Trentino, Tirolbüro, Brüssel
Mobilität, Palais Liechtenstein, Feldkirch
Voorbij de Kunst, Museum van Hedendaagse Kunst, Antwerpen
1998-99 Landschaft, Galerie 3, Klagenfurt
1999 Archipelago, Architettura Sperimentale 1959-1999, Palazzo Fabroni Arti Visive Contemporanee, Pistoia

Buchveröffentlichungen:
Otto Wagner - Unbegrenzte Großstadt. Beginn der modernen Architektur (mit Heinz Geretsegger). Salzburg und Wien 1964, 1978, 1983 und 1986; London 1979; New York 1979; Brüssel 1984; Tokyo 1984; Mailand 1985 (Österreichischer Literaturstaatspreis).
Ewigkeit im Tagbau, Linz 1977.
Bilderschrift, Salzburg und Wien 1984, 85.
Krieg nach dem Sieg. Salzburg und Wien 1995.

Verfasser/in:
Max Peintner
Netzwerktreffen
16. + 17.11.2023
 
GAT+