18/04/2004
18/04/2004

Im Spiel des Kreuchens

Warum wir gerade dabei sind auszusterben - und was das mit der Gestaltung hiesiger Plätze zu tun hat. Oder: ein Lob des Blumenrabattls.

Beim Fußgänger, der auch regelmäßig öffentliche Verkehrsmittel benützt, beginnt sich im Laufe der Zeit ein Gefühl für Kultur zu befestigen. Überall, wo im Graz der umtriebigen letzten Jahre ein Busch, Baum oder Blumenrabattl gepflanzt und gepflegt wurde, ist für mich, den Fußgänger, eine kulturelle Tat - um nicht zu sagen: Großtat - vollbracht worden.

Leider gilt Begrünung in ästhetisch ambitionierten Kreisen als reaktionär, wie mir vor einiger Zeit von einem Kulturjournalisten beschieden wurde. Wohl nur so ist es zu erklären, dass ein Grazer Platz nach dem anderen in eine heiße, für die Menschen unleidliche Geh- und Stehzone ohne Grünzeug verwandelt wird, und zwar mit den immer gleichen Phrasen: Funktionalität, Struktur und Transparenz sollen zu einer zeitgemäßen Synthese verschmolzen werden - was immer das bedeuten mag -, der Ausblick auf das umliegende Althausensemble soll optimiert werden, es soll Freiraum für Events und mobile Schaustellungen geschaffen werden. Im Klartext heißt das: Isolierung des Einzelnen, Lärm, Umtriebigkeit, immerwährende Auf- und Abbauaktivitäten, Staub. Ich habe keinen derjenigen, die so argumentieren, jemals am zerstörten Jakominiplatz oder am fast zerstörten Hauptplatz in einem der verdreckten transparenten Wartehäuschen, wo man an heißen Tagen geröstet wird, auf die Straßenbahn oder den Bus warten sehen - falls man überhaupt daran gedacht hat, dass der Einzelne, der wartet, einen menschenwürdigen Unterstand benötigt.

Nun zu etwas anderem, das nur scheinbar etwas anderes ist: Wie wir alle wissen, sind wir dabei auszusterben. Kinderkriegen ist zu einer heiklen und oft unattraktiven Lebensoption geworden. Langfristige Paarbeziehungen werden immer schwieriger und, wie es scheint, durch die Wohllebensjagd des Einzelnen immer reizloser. An eine Familiengründung vor dem 35. Lebensjahr ist gar nicht zu denken, vorausgesetzt, man gehört zu den Intelligenten, Raschen, Beziehungstalentierten und gut Aussehenden. Im Umkehrschluss heißt das: Ehe, Familie, Kinder sind etwas für Sitzenbleiber und arme Schlucker, die sonst nichts zustande bringen, oder aber für Reiche, die sich den Luxus eines traditionellen Zuhauses leisten können.

Die Gesellschaft, von der ich rede, ist nicht nur meinem Blumenrabattl feindlich gesinnt, sie ist auch zunehmend kinderfeindlich. Gärten und Kinder gehören - zu unser aller Nachteil - nicht mehr zu den poetischen Quellen, aus denen sich das Leben unserer Gesellschaft speist. Das gibt dem schönen Wort "Kindergarten" für mein Gefühl einen neuen, ungewohnten Klang. Ich selbst habe meine Kindheit nicht in einem Kindergarten, wohl aber in einem Garten verbracht. Vielleicht ist mir deshalb lange Zeit entgangen, dass Kindergärten von Anfang an wenig mit Gärten zu tun hatten, in denen man ungestört spielen, Verstecke suchen, den Vögeln nachschauen oder sich in den Wolken verlieren konnte. Die Kindergärten waren eher vorschulische Disziplinierungsanstalten. Das musste nicht weh tun, aber gestutzt wurde doch. Man schickte seine Kinder in den Kindergarten, damit sie lernten, stillzuhalten, still zu sitzen, kurz: brav zu sein und, in der Gruppe unter Aufsicht spielend, einer kleinen geregelten Arbeit nachzugehen.

Kindliche Seelen sind formstrebig, formbar und deshalb verletzlich. Nicht das schlechteste Bild für ihr Entfaltungsstreben lieferte die Pflanze, die, worin immer auch verwurzelt, ihre Blätter und Blüten ausfaltet und dem Licht entgegenhebt. Schon deshalb sollten wir nicht leichtfertig auf die Begriffe vergessen, die von Rousseau bis Schelling, von der naturbezauberten Aufklärung bis zu den Hoffnungen der Romantik leitend waren. "Was wir Natur nennen", sagt Schelling im "System des transcendentalen Idealismus" knapp nach 1800, "ist ein Gedicht, das in geheimer wunderbarer Schrift verschlossen liegt."

Die Rücknahme der Entfremdung, in die alle Zivilisation den Menschen verstrickt, lebt als Vorschein und Versprechen in den Träumen der Kindheit, die ihrerseits in den Gärten geträumt werden, deren Urtyp eben jener ist, in dem Gott selber wandelte. Dort sind Geist und Freude eins, und dort hat die Seele ihre Heimat. Es ist die Paradiesperspektive, die selbst noch auf das mickrigste Blumenrabattl in einem dunklen Hinterhof ein Licht fallen lässt, das verklärt.

Die Seele des Kindes: Das sagt man so und weiß doch nichts damit anzufangen außerhalb einer Anschauungsweise, wie sie Rudolf Borchardt in seinem Buch "Der leidenschaftliche Gärtner" 1938 niedergeschrieben hat: "Denn der Garten, eine Ordnung der menschlichen Seele, und allen anderen ihrer Ordnungen verwandt, ist eine Ordnung der ganzen Seele und nicht der halben, der tätigen und nicht der schlaffen, und kennt keinen ästhetischen Frömmler, es sei denn als den Spazierer, dem er nichts verargt: der Garten will den Gärtner."

Der Kindergarten will keinen Pädagogen oder Vorschultrainer, er will einen Gärtner; und der Gärtner sollte es, im tatsächlichen und übertragenen Sinne, mit Gärten zu tun haben und mit Kindern in Gärten, das heißt, wie Borchardt sagt, mit der Ordnung der ganzen Seele, die auf Schellingschem Niveau die ganze Schöpfung umspannt. Angesichts solcher Horizonte sehe ich die Hüter der realen Ordnung schon die Hände ringen oder sich achselzuckend abwenden. Was soll das Garten- und Seelengewäsch?

Ich weiß schon: Nur keine Sentimentalitäten, nur keine Vergangenheitsbeweihräucherung! Wir glauben zu wissen, dass im Mittelalter das Kind, sobald es laufen und sprechen und Befehle befolgen konnte, wie ein kleiner Erwachsener behandelt wurde. Daraus mag viel Kinderleid entstanden sein. Andererseits hat der französische Historiker Philippe Ariès in seiner "Geschichte der Kindheit" darauf hingewiesen, dass die mit dem 16. Jahrhundert aufkeimende Vorstellung, das Kind sei ein Wesen eigener Art, mit eigenen Bedürfnissen, eigener Wahrnehmungsweise und eigener Gefühlswelt, zu bis dahin unbekannten Formen der Disziplinierung führte. Kind zu sein war gewiss kein Honiglecken, sondern ein dauerndes Wegschauen und Kuschen- und Parierenmüssen.

Darüber hinaus ist festzuhalten: Mit der Psychologie stirbt die Seele. Aus dem Garten, in dem die Unschuld gedeihen konnte, wird eine dämonische Landschaft, in welcher geysirartig und chaotisch die asozialen Triebe brodeln. Das ist die Sichtweise der Psychoanalyse im späten 19. Jahrhundert, durch die eine neue Epoche des Kindes eingeläutet wird.

Und nun lautet meine Behauptung, dass es einen großen, ja entscheidenden Unterschied macht, ob wir unser Leben mit dem unserer Kinder unter Schellings oder Borchardts Sehnsuchtsperspektive verknüpfen oder ob wir in unseren Kindern Freudsche Triebwesen ohne Transzendenz sehen oder einfach Behinderungen auf dem Weg zu Karriere und Selbstverwirklichung.

Was den letzten Punkt betrifft, so ist er mir in meinen jungen Jahren besonders aggressiv nahe gelegt worden. Denn seit den 1960er Jahren wurde es üblich, von "Kinderaufzucht" zu reden. Das machte den Blick der Eltern ideologisch hart: Kinderaufzucht hatte etwas mit Frauenunterdrückung, Männerherrschaft und schmutzigen Windeln zu tun. Kleinkinder waren Wesen, die nachts nicht schliefen, rund um die Uhr gefüttert werden mussten und in kurzen Abständen zu stinken begannen. Von Kindern und Gärten sprachen nur mehr wenige Einzelne, Verbohrte. Am verbohrtesten war der Neo-Goetheaner und Naturschauer Peter Handke, der 1981 in seiner "Kindergeschichte" zornig auf die "Wirklichkeitler" zurückblickt, die ihn traktierten.

Ob polemisch oder nicht, wahr an Handkes Ingrimm scheint mir zu sein, dass der Menschentyp, den er den Wirklichkeitler nennt, in dem Wust an trostlosen Weltfakten herumwühlt wie die Mistkübelstierer, die etwas zum Überleben brauchen; dabei haben sie kein Verständnis für jene, die sogar noch beim Mistkübel der Schöpfung nahe sein wollen. Wenn ich - was ich nicht selten tat - im Hinterhof bei den Mistkübeln saß, gab ich mich zwischen Grasnarben, Unkrautbüscheln und Kellerasseln häufig einer Tätigkeit hin, die Franz Werfel in seinem Gedicht "Kindheit" so schön als "Indenhimmelschaun" charakterisierte.

Auf meinem Nachhauseweg komme ich gelegentlich bei einem Kindergarten für besser Gestellte vorbei. Während links von mir eine dicht bewachsene Böschung, die zur Mur hinabführt, die schönsten Möglichkeiten für Vögel und Insekten bietet, liegt rechts von mir, hinter einem dezenten Drahtzaun, der Kindergartenspielplatz. Die Geräte zum Herumturnen sind alle aus Holz, aber das Holz ist so tot, wie es nur tot sein kann: Renommierholz, abgerundete Kanten, glattpoliert. Auch die anderen Spielzeuge, die bunten zumal, wirken, als ob sie da wären, um mit ihrer Buntheit zu sagen: "Hier geht's aber fröhlich zu!" Der natürliche Boden, vermutlich sandig, einst mit Unkraut, Löwenzahn, ein paar mickrigen Nesseln und einigen freundlichen Gänseblümchen bewachsen, wurde durch etwas den pädagogischen Zwecken Angepassteres ersetzt, nämlich einen Plastikrasen.

Das ganze Arrangement ist nicht reizlos, aber es ist fantasielos in einem mehr als oberflächlichen Sinne. Für die Kinder, die in diesem Nobelkindergarten aufwachsen, gelten von Anfang an die Gesetze von Funktion und Design, während sich die tiefen Bilder der Seele erst gegenüber, jenseits des Zauns, in den Winkeln, Lichtflecken, Blattnestern, im selbstvergessenen Spiel des Kreuchens und Fleuchens über die ganze Flussböschung hin entfalten können.

Ich will keiner Kinderidylle das Wort reden. Mir geht es nicht darum, frommen Lügen über die Unschuld der Kinder nachzutrauern, die man aus den Seelengärten geholt und in Plastikgärten gesteckt hat. Die kindliche Wesensart hat Teil an dem, was Natur ist, im Guten wie im Bösen, und der Gärtner ist hoffentlich auch schon da und hält die Dinge in Ordnung. Alles soll miteinander gedeihen, und selbst das Übel, soweit nicht aus dem Garten verbannt, soll der Schönheit des Ganzen dienen.

Ich habe allerdings den Eindruck, dass unsere Zeit, die schon mein Blumenrabattl beargwöhnt, meiner Vision des Gartens für Kinder verständnislos gegenübersteht. Aber das kann sich ja ändern, vielleicht in zwei -, dreihundert Jahren, wer weiß?
PETER STRASSER, Univ.-Prof. Dr.
Jahrgang 1950, unterrichtet an der Karl-Franzens-Universität in Graz Philosophie und Rechtsphilosophie. An der Universität Klagenfurt ist er als Gastprofessor tätig.
Strasser war von 1990 bis 1995 Beirat im Festival "steirischer herbst".
Seit September 2000 leitet Strasser ein FWF-Forschungsprojekt, das auf drei Jahre anberaumt ist:
"Das Problem des Paternalismus im Kontext der Intensivmedizin" (Mitarbeiterin Mag. Monika Wogrolly).Dieser Beitrag ist die gekürzte Form eines Textes, der in der Juniausgabe der Zeitschrift "Wespennest" erscheinen wird. In der Langform kritisiert Peter Strasser die "Leerräumung" der Grazer Plätze im Zuge ihrer Neugestaltung und thematisiert bauliche "Highlights" von 2003 wie das Kunsthaus und die Acconci Insel.
In der vorliegenden Form erschienen am 27.12.2003 im Spectrum der "Die Presse".

Netzwerktreffen
16. + 17.11.2023
 
GAT+