25/04/2004
25/04/2004

Architektur ohne Architekten

Bernard Rudofsky

Von der Architektur, bevor sie zur Kunst des Fachmannes wurde, gibt es viel zu lernen. Die unverbildeten Baumeister in Raum und Zeit zeigen ein bewunderswertes Talent, Bauten in die natürliche Umgebung einzugliedern. Anstatt die Natur zu „erobern“, wie wir es tun, begrüßen sie die Wechselhaftigkeit des Klimas und die Herausforderung der Topographie. Während wir an flachem, gesichtslosem Land Gefallen finden, (wie leicht werden Unebenheiten im Gelände mit Hilfe einer Planierraupe entfernt), fühlen sich erfahrenere Menschen von einer zerklüfteten Landschaft mehr angezogen. Tatsächlich zögern sie nicht, sich die kompliziertesten Konfigurationen in der Landschaft auszusuchen. Die waghalsigsten unter ihnen sind dafür bekannt, daß sie wahrhafte Adlernester als Bauplatz wählten – Machu Piccu, Monte Alban, die felsigen Bastionen der Möncherepublik auf dem Berg Athos, um nur einige wohlbekannte zu nennen.

Ohne Zweifel kann man die Vorliebe für schwer zugängliche Bauplätze auf den Wunsch nach Sicherheit zurückführen, aber vielleicht mehr noch auf das Verlangen, eine Niederlassung abzugrenzen. Viele Städte in der Alten Welt sind noch von Gräben, Lagunen, Hängen oder Mauern fest umschlossen, auch wenn diese schon seit langem ihren Zweck zur Verteidigung verloren haben. Obwohl die Mauern kein Hindernis für Eindringlinge darstellen, sind sie als Schutz vor unerwünschter Ausdehnung notwendig. Das Wort Urbanität selbst ist damit verbunden, denn lateinisch heißt urbs ummauerte Stadt. Demnach muß eine Stadt, die Anspruch erhebt, ein Kunstwerk zu sein, begrenzt sein wie ein Bild, ein Buch oder ein Musikstück. Da wir in städtebaulicher Familienplanung nicht bewandert sind, strapazieren wir unsere Kräfte mit architektonischer Vermehrung. Unsere Städte mit ihrem Anschein von Zwecklosigkeit wachsen unkontrolliert weiter – ein architekonisches Ekzem, das jeder Betrachtung trotzt. Nachdem wir von den Pflichten und Privilegien der Leute, die in älteren Zivilisationen leben, nichts wissen und da wir Chaos und Häßlichkeit als unser vorbestimmtes Schicksal betrachten, neutralisieren wir alle etwaigen Zweifel über die Eingriffe der Architektur in unser Leben mit lahmen Beteuerungen, die an niemand bestimmten gerichtet sind. Teilweise beruhen unsere Schwierigkeiten auf unserer Neigung, den Architekten oder in diesem Fall allen Spezialisten besondere Einsicht in unsere Lebensprobleme zuzuschreiben, obwohl sich in Wirklichkeit die meisten nur mit ihrem persönlichen Gewinn und Ansehen befassen. Darüber hinaus wird die Lebenskunst in unserem Land weder unterrichtet noch gefördert. Wir halten sie für eine Art Ausschweifung, ohne uns klar zu sein, daß ihre Grundsätze auf Sparsamkeit, Reinlichkeit und einem allgemeinen Respekt vor dem Schaffen beruhen, von der Schöpfung ganz zu schweigen.

In nicht geringem Maße wurde dieser Zustand durch die Emsigkeit der Geschichtsschreiber hervorgerufen. Indem sie beständig die Rolle der Architekten und ihrer Auftraggeber hervorheben, vernachlässigen sie die Talente und Leistungen der anonymen Baumeister, deren Vorstellungen manchmal ans Utopische grenzen, deren Ästhetik sich einer geistigen Verklärung nähert. Lange wurde die Schönheit dieser Architektur als Zufallsprodukt abgetan, doch heute sollten wir imstande sein, sie als Resultat von selten gutem Verständnis im Umgang mit praktischen Problemen zu erkennen. Die Formen der Häuser, manchmal durch hundert Generationen überliefert, sind, wie die der Werkzeuge, von bleibendem Wert.

Vor allem ist es die Menschlichkeit dieser Architektur, die Widerhall in uns finden sollte. Zum Beispiel kommt es uns einfach niemals in den Sinn, Straßen in Oasen statt in Wüsten zu verwandeln. In Ländern, wo deren Funktion noch nicht auf Autobahnen und Parkplätze reduziert worden ist, gibt es eine Menge an Einrichtungen, die die Straßen menschengerecht machen: Laubengänge und Markisen (das heißt Markisen, die sich über die ganze Breite einer Straße ausdehnen), zeltartige Strukturen oder ständige Überdachungen. Alle diese Einrichtungen sind charakteristisch für den Orient oder für Länder mit orientalischem Erbe wie Spanien. Die edelsten Straßenüberdeckungen, ein greifbarer Ausdruck bürgerlicher Zusammengehörigkeit oder, besser gesagt, Menschenfreundlchkeit, sind Arkaden. In unseren Breiten geht ihre einzigartig einschmeichelnde Aufgabe weit darüber hinaus, Zuflucht vor den Elementen zu bieten und Fußgänger vor Verkehrsgefahren zu bewahren. Abgesehen davon, daß sie die Straßen einheitlich gestalten, übernehmen sie auch oft die Stellung des einstigen Forums. In ganz Europa, Nordafrika und Asien trifft man auf Arkaden, weil sie der „formalen“ Architektur einverleibt wurden. Die Straßen von Bologna, um nur ein Beispiel zu nennen, werden von fast zweiunddreißig Kilometern „portici“ begleitet.

Eine weitere spezifische Erscheinung der volkstümlichen Architektur ist die Vorratskammer für Lebensmittel. In Kulturen, in denen man die Nahrung noch als Gottesgabe und nicht als industrielles Produkt ansieht, wird auch die Architektur der Kornspeicher ernst genommen; so sehr, daß die Uneingeweihten sie für kirchliche Gebäude halten. Auch wenn sie von geringem Ausmaß sind, wirken die Speicher monumental, sei es nun auf der Iberischen Halbinsel, im Sudan oder in Japan. Angesichts ihrer überwältigenden stilistischen Reinheit und ihres kostbaren Inhalts bezeichnen wir sie als quasiheilig.

Neben der hochentwickelten bodenständigen Baukunst und der verfeinerten volkstümlichen Architektur Zentraleuropas befaßt sich dieses Buch ( Architektur ohne Architekten, Anmerk. der Redaktion) auch mit Spielarten wie „Architektur durch Weglassen“ oder „bildhauerische Architektur“ mit Beispielen von Höhlenwohnungen und freistehenden Bauten, die aus dem Felsen herausgemeißelt und ausgehöhlt wurden. Die rudimentäre Architektur ist durch Windschutzschirme vertreten, die manchmal gigantische Dimensionen erreichen. In Japan schützen, umgeben sie ein Haus, einen Marktplatz oder sogar ein ganzes Dorf. Von der Nomadenarchitektur gehören tragbare Häuser, Hausboote oder Zelte dazu. Als Musterbeispiel industrieller Architektur seien Wasserräder sowie Taubenschläge, jene lebenswichtigen Düngerfabriken, angeführt. Da wir Ideen gering schätzen, aber Erfindungen hoch schätzen, wird uns vielleicht die Konstruktion dieser Architektur besser gefallen als deren Ästhetik.

Wir erfahren weiters, daß viele kühne „primitive“ Lösungen unseren beschwerlichen Technologien zuvorkamen, daß viele Errungenschaften der letzten Jahre wie Präfabrikation, Standardisierung von Baubestandteilen, biegsame und bewegliche Strukturen und insbesondere Bodenheizung, Klimaanlage, Lichtkontrolle bis hin zu Fahrstühlen, ein alter Hut sind. Ebenso kann man die Annehmlichkeiten in unseren Häusern mit dem unangepriesenen Komfort einer afrikanischen Wohnarchitektur vergleichen, die für einen angesehenen Mann sechs separate Behausungen für seine sechs Ehefrauen vorsieht. Oder wir werden herausfinden, daß, lange bevor sich moderne Architekten mit der optimistischen Vorstellung trugen, daß unterirdische Städte uns vor den Gefahren künftiger Kriege schützen könnten, solche Städte bereits existieren, sogar heute noch existieren, auf mehr als einem Kontinent.

Eine gute Portion Ironie liegt in der Tatsache, daß der Stadtbewohner, um seinen physischen und geistigen Verfall aufzuhalten, regelmäßig sein raffiniert ausgestattetes Heim flieht, um Seligkeit in dem zu suchen, was er für eine primitive Umwelt hält; in einer Hütte, einem Zelt oder, falls er weltoffen ist, in einem Fischer- oder Bergdorf im Ausland. Trotz seiner Sucht nach technischem Komfort hängt die Gelegenheit, sich zu entspannen, gerade von dessen Fehlen ab. Nach logischer Überlegung kommt man zu dem Schluß, daß das Leben unter althergebrachten Bedingungen seine Vorzüge hat. Statt einiger täglicher Fahrtstunden sind es nur einige Stufen, die die Werkstatt oder das Arbeitszimmer eines Menschen von der Wohnung trennen. Da er selbst dazu beigetragen hat, seine Umgebung zu gestalten und vor der Außenwelt zu bewahren, scheint er ihrer auch niemals überdrüssig zu werden. Außerdem hat er für Verbesserungen nichts übrig. Genauso wie das Spielzeug eines Kindes kein Ersatz für menschliche Zuneigung sein kann, können technische Errungenschaften dem Menschen kein Ausgleich für einen Mangel an Lebensqualität sein.

Nicht nur verstehen die unbekannt gebliebenen Baumeister die Notwendigkeit, das Wachstum einer Gemeinde einzuschränken, sie sind sich wohl auch der Grenzen der Architektur selbst bewußt. Selten unterwerfen sie die allgemeine Wohlfahrt dem Streben nach Fortschritt und Gewinn. In dieser Beziehung stimmen sie mit den Philosophen überein. Um Huizinga zu zitieren: „Die Annahme, daß jede Neuentdeckung oder Verfeinerung bestehender Umstände Aussicht auf höhere Werte oder größeres Glück verspricht, ist ein äußerst naiver Gedanke ... Es ist nicht im geringsten widersinnig zu sagen, daß eine Kultur an wirklichem und greifbarem Fortschritt scheitern kann.“
Dieser Text ist ein Abschnitt des Vorwortes von Bernard Rudofsky zu seinem Buch "Architektur ohne Architekten", das erstmals 1964 vom Museum of Modern Art, New York, publiziert wurde.
Die deutsche Übersetzung erschien 1989 im Residenz Verlag, Salzburg und ist seit langem vergriffen. Bernard Rudofsky (1905-1988)wurde in Österreich geboren, wo er in Wien Architektur studierte. 1938 ist Rudofsky in Argentinien und Brasilien eingewandert. Als Gastprofessor in Tokio beschäftigte er sich intensiv mit der damals noch für Japan typischen Lebensweise. Zwischen seinen Reisen lebte er in New York und in Andalusien. "Architecture Without Architects" erschien 1964 zur gleichnamigen Ausstellung im Museum od Modern Art in New York. 1987 lud ihn Peter Noever zur Ausstellung "Sparta/Sybaris" im Österreichischen Museum für angewandte Kunst nach Wien ein.

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