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"Topographie bauen – Über eine schnell vergangene Faszination der Moderne" von Heinrich Jennes, Berlin

Nachdem Hubert Hoffmann 1959 auf dem berühmten CIAM-Kongress der Funktionalismuskritiker im holländischen Otterlo sein Konzept für eine Dezentralisierung der Stadt Graz und für eine Gleichberechtigung der umliegenden Gemeinden darlegte, bekam er harte Schelte seitens der Gastgeber. Hoffmann war sich sicher: "Was die Stadt belastet (...), das sind die großen Industrien. Diese müssen wir herausbringen und die Produktionszentren (...) organisieren" (CIAM , 59 in Otterlo, Hrsg. Jürgen Jödicke, Stuttgart 1961, S. 61). Die Gastgeber aber waren der Meinung, sein Konzept würde lediglich die Anzahl der Autobahnen steigern, und es würden die Dörfer ausgelöscht werden, weil die Stadtbewohner ihre Wohnsitze dorthin verlegten; ohnehin seien die dörflichen mittelalterlichen Strukturen, die von Hoffmann für wert gehaltenen Kirchtürme und Gemeinschaftsbauten, keine sonderlichen Zielvorgaben für eine moderne Architektur, sondern vielmehr vollkommen unzeitgemäß. In allen Köpfen dominierte die Stadt. Oder war es Hoffmann, der vielleicht erinnerte, daß das industrialisierte Umland nicht bloß das Resultat der entflochtenen Stadt sein könnte, sondern daß es umgekehrt seinerseits in der Lage war, die Stadt zu prägen?

In seinem Buch "Bauen in Frankreich – Eisen Eisenbeton" (Leipzig 1928) schwärmt Sigfried Giedion von der Transparenz der Eisenkonstruktionen, von ihrer Leichtigkeit, Entdinglichung und Simultaneität im Raum: "Es gibt nur einen großen unteilbaren Raum, in dem Beziehungen und Durchdringungen herrschen, anstelle von Abgrenzungen." (S. 9). Zur Veranschaulichung "des großen unteilbaren Raumes" zieht Giedion nicht den unbebauten Landschaftsraum heran. Statt dessen zeigt er neben Detailphotos vom "Eiffel Turm" zwei weitere, nun aber verblüffende, Photographien einer "Industrielandschaft" bei Marseille.

Im Bild treten allerdings außer einer kleinen Eisenbrücke, die über einem kaum kenntlichen "Eisenbahneinschnitt" liegt, nichts Eisernes oder Transparentes in Erscheinung. Im Gegenteil. Es handelt sich einerseits, rechts, um einen gewaltigen geböschten, natursteinverkleideten "Petroltank", bekrönt mit dem schlichten, arkadenumsäumten Rundbau eines ,Belvedere'; auf der anderen Seite, links im Bild, erhebt sich der streckenweise terrassierte Hügel eines Steinbruchs, hinter dem die zahlreichen Schornsteine einer Zuckerraffinerie aufragen. Weil die Fabrikgebäude selbst verborgen bleiben, scheinen die Schornsteine unmittelbar aus dem vorgelagerten Hügel hervorzustoßen. Beide, der Petroltank und der Hügel, ähneln sich, beide sind zweigestuft und perspektivisch so photographiert, daß die Stufen auf gleicher Höhe liegen und im Hintergrund sogar zusammenzulaufen scheinen. Vor allem aber ähneln sich die beiden Protagonisten des Bildes durch den gegenseitigen Tausch ihrer Funktionen: Der Hügel erscheint als Fabrik und der Petroltank als Hügel. Insgesamt dominieren im Bild die geschlossenen Massen und die Botschaft einer künstlichen Topographie; und dies wäre uns Beweis genug für die Neuigkeit eines "Großen unteilbaren Raumes".
Giedions Kommentar zur Photographie betont allerdings statt der künstlichen Topographie den Aspekt der im Bild relativ untergeordneten Verkehrswege: "Die verschiedenen Niveaudifferenzen der Verkehrswege, das nur durch Notwenigkeit bestimmte Nebeneinander der Objekte, enthält – gleichsam unbewußt und im Rohstoff – Möglichkeiten, wie wir später unsere Städte o f f e n und ohne den Zwang starrer Niveaubeibehaltung gestalten werden". (S. 8) Das ist eine überraschende Wende: Ihm geht es nicht nur darum, den räumlich dreidimensional vernetzenden Einsatz der Wege, Rampen, Brücken vorzustellen, sondern auch indirekt darum, den Unterschied zwischen erschließenden und erschlossenen Elementen, zwischen Wegen und Bauten aufzulösen. Die Konsequenz, die Giedion uns nahelegt, ohne sie doch auszuführen, besteht darin, daß die Architektur sich triftiger als in filigranen Stahlbauten entdinglicht, wenn sie nicht nur sich einläßt auf die Topographie, sondern wenn sie bereit und in der Lage ist, als wenig filigrane Baumasse Topographie selber zu simulieren. Dies ergäbe dann die Industrielandschaft, die zum Vorbild taugte für dreidimensional lebendige Städte.

Warum führt Giedion die im Bild deutliche topographische Chance moderner Konstruktionen nicht aus?:
a. Dem Bild eiserner Stabwerke liegt eine lineare Vernetzung im dreidimensionalen Raum näher als eine plastische Topographie.
b. Giedion kann sich unter "Masse" nur die historistisch steinerne Kostümierung von modernen Konstruktionen vorstellen.
c. Giedions Aversion gegen "Masse" ändert sich auch dann nicht, wenn er vom Eisen zur Entwicklung des Eisenbetons übergeht. Weiterhin favorisiert er lineare, orthogonale Lösungen, wenn auch transparente und raffiniert geöffnete.
d. Der Futurismus kommt nicht vor, obwohl er gänzlich das Thema des Bildes ausfüllt: Futuristisch ist allgemein die Faszination an der Industrielandschaft, speziell die im Bild gezeigten Motive, futuristisch ist die plastische Betonästhetik des Tankgebäudes und der Brücke, und futuristisch ist die Übertragung industrieller Motive auf den Städtebau.
e. 1928 ist der Futurismus längst in die Bahnen des Italienischen Faschismus eingeschwenkt. Ist das – oder auch die früh schon ausreichend schaurigen Verse Marinettis – der Grund, warum Giedion ihn meidet, obwohl er seine Variante moderner Gestaltung nicht missen will und sich bemüht, sie in den Kontext einer demokratischen Perspektive zu binden?
f. Giedion ist fasziniert von der Vorstellung, daß bei der Anlage und Gestaltung der Bauten allein die Notwendigkeit, die Funktion, eine Rolle gespielt habe und daß umso betörender die ästhetische Wirkung ausfalle. Er glaubt aber, daß dieses ideale quasi "Naturverhältnis" nicht direkt zu übertragen wäre auf die Stadt. Bei aller Ratio liefert es ihm "nur" den "Rohstoff", der in der Übertragungssituation auf den ungeteilten Stadtraum eine weitergehende, nämlich kompositorisch-ästhetische Überarbeitung nötig macht, die womöglich die topographischen, naturalistischen Elemente der Vorlage – trotz ihrer Rationalität und gegen ihre topographisch organische Konsequenz – abstreifen und statt der funktionalen Ratio die offenbar höherwertige formale Ratio der Stereometrie zur Erscheinung bringen. Einen so gearteten städtischen Kontext verkörpern alle von Giedion gezeigten Betonbauten, zumal diejenigen Le Corbusiers. Deshalb auch fallen die futuristischen Bauten aus der Betrachtung heraus, da sie den Schritt zu einer städtischen Sublimierung und Auflösung in stereometrische Struktur nicht mitgemacht haben.

Giedion, so unser Schluß, hätte also das topographische Angebot der Industrielandschaft nicht genutzt und ausgeführt, weil er von vorne herein die stereometrisch gereinigten Übertragungsformen im Auge gehabt habe. Was 1928 noch Utopie war, wurde in den folgenden Jahren zur Realität: Das Rockefeller Centre besitzt die Ausmaße einer Berglandschaft, die im Sinne Giedions städtisch zugerichtet wurde zu einer stereometrisierten Landschaft, zwischen deren Türmen sich allerdings kein luftiges Netz von schrägen Laufbändern, Schienen und Straßen spannt. Dennoch, in seinem berühmten Buch von 1941:"Raum, Zeit, Architektur" nimmt Giedion die Begegnung mit dem Rockefeller Centre zur Schlüsselerfahrung für die moderne Ästhetik: Das Bauwerk ist so naturhaft riesig, daß es sich nicht auf einmal überblicken läßt. Der Passant muß es umrunden, kubistische Blickausschnitte sammeln und im Kopf zusammenmontieren. Jetzt kann er mit der Erinnerung an die schrägen Schnitte und Fragmente die verlorene, topographisch befangene Lebendigkeit auferstehen lassen in der eigenen Wahrnehmung. Architekturästhetik ist höhere Geographie!

(Fortsetzung folgt)

Datum:

Sun 09/05/2004
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