Die gleiche Industrielandschaft. Im Hintergrund noch Kamine von Zuckerraffinerien. Bilder aus dem Buch: Sigfried Giedion, "Bauen in Frankreich – Eisen Eisenbeton" (Leipzig 1928)
"Topographie bauen - Teil 2" von Heinrich Jennes, Berlin
1.
Seine Abbildung des „Petroltanks“ überschrieb Sigfried Giedion mit der Zeile: “Die Erdoberfläche gestalten“, und wir hatten vergangenen Sonntag gezeigt, welche Elemente diesen Titel rechtfertigten. Damals hat uns allerdings nicht wesentlich interessiert, dass Giedions Eindruck der „Industrielandschaft“ vor allem auf den Blickwinkel des Photographen zurückgeht, dass erst durch den besonderen Standort und Bildausschnitt die Landschaft so erschien, dass sie durchdrungen wäre von Industrieanlagen. Nur weil das Hügelplateau die „Zuckerfabrik“ verdeckt, kommt es zur Vorstellung, als stießen Schornsteine unmittelbar aus seinem Inneren hervor. Und nur weil der relativ kleine Petroltank so mächtig in den Vordergrund stößt, kann er als Ableger und dramatischer Höhepunkt der im Hintergrund ziehenden Landschaft erscheinen.
Dass hier die “Erdoberfläche gestaltet“ wurde, entspricht also mehr dem Wunschdenken des Autors als der Realität.
Es kommt Giedion auch gar nicht darauf an, unberührte Landschaften, seis real, seis nicht real verändert zu sehen als Industrielandschaften. Schon die frühe Moderne verhielt sich nicht anders. Als etwa der junge Adolf Loos zum Ende des 19. Jahrhunderts sich unterwegs auf seinen Bahnreisen durch Amerika begeistern ließ von gewaltigen Betonsilos an den ländlichen Verladestationen, hatte er selbstverständlich die Chance für städtische Bauwerke im Sinn. Offensichtlich konnten ihn die phantastischen, in Europa seit einem halben Jahrhundert erprobten Glas-/Stahlkonstruktionen nicht zu vergleichbaren Assoziationen reizen. Statt der Transparenz faszinierte zwischenzeitlich die Geschlossenheit, noch auch bei Giedion und vielen anderen Architekten der Moderne!
Giedions Wunsch besteht also glücklicherweise nicht im Alptraum eines jeden halbwegs vernünftigen Menschen, die Landschaft mit Industriebauten zu besiedeln, sondern in der Hoffnung, dass das städtische Gefüge durch die Reize einer von Kompromissen unbehelligten Architektur in einer anscheinend unbeschadeten Landschaft nur gewinnen könnte.
Aber Giedion greift bloß einen Aspekt dieser neuartigen Erfahrung heraus, und nicht einmal den wesentlichen.
Ihn interessieren vor allem die „dreidimensional“ kommunizierenden stählernen Elemente, die schrägen Erschließungstrassen, Stufen, Bahnstrecken, Oberleitungen, Brücken.
IHN INTERESSIERT NICHT DIE KOMMUNIKATION DER MASSEFORMEN, ihre gegenseitige Aufnahme, Bezugnahme - gewissermaßen die Grundlage der technischen Vernetzung, das eigentlich Topographische, obwohl es sicherlich mehr als die Erschließungsmedien ursächlich gewesen war für seine Faszination.
Giedion hat offensichtlich den ersten Schritt zur städtischen Adaptation bereits selber vollzogen: Die funktionalen Verkehrswege ersetzen die Massen, auf denen sie beruhen. Also nutzt er die Differenz zwischen der Photographie und der industrielandschaftlichen Realität für die städtische Ausdünnung der Form, einerseits zur schrägen Lineatur der Verkehrswege, andererseits zur Stereometrie der städtisch verdichteten Volumina.2.
Nehmen wir als Beispiel für die Hoffnung Giedions den Entwurf eines Hochwasserpumpwerks in Köln Bayenthal. Das Büro Kaspar Kraemer in Köln hat kürzlich dafür den ersten Preis erhalten.
Auf den Plänen finden wir zahlreiche Elemente, denen wir schon auf den Photographien Giedions begegnet waren, stählerne Bogenbrücke, Bahntrasse, Basaltböschung, schräge Erschließungstrassen. Diese Szenerie befindet sich am Ufer des Rheins, kurz vor seinem Eintritt in die Kölner Innenstadt, also zwar noch in der „fließenden Geländemodulation“ einer Uferpromenade, aber schon in durchaus städtischem Kontext.
Wir können nur einen kleinen Teil des Pumpwerkes als ein Gebäude identifizieren, vielleicht ein Sechstel seines tatsächlichen Volumens: einen flachen eingeschossigen gläsernen Quader, der leicht abgesetzt über einer vorgeschobenen Basaltböschung zu schweben scheint. In Wirklichkeit aber sitzt er dem verborgenen Großteil des Pumpwerkes auf. Dieser Teil erstreckt sich nicht nur zweigeschossig in die Tiefe, sondern auch parallel flußabwärts noch um das doppelte des gläsernen Quaders, und er scheint mit gerader Wand und ebener Decke abzuschließen, so wie es gewöhnlich die nüchternen Vorgaben solcher Technikbauten verlangen. Die Topographie des auf- und abschwingenden Ufersegments entsteht also nicht durch das Gebäude, sondern im wesentlichen durch die an- und aufgeschüttete Erdmasse und steinerne Verblendung.
Das bedeutet eine erste wichtige Differenz bei der Übertragung von Topographischem auf Urbanes. Während die landschaftliche Illusion verlangt, dass der Baukörper die topographische Modulation vollständig ausfüllt und rechtfertigt, darf sich die städtische Realisation die Arbeitsteilung zwischen Gebäudeform und Landschaftsform erlauben, sprich die Erdanschüttung, das „befahrbare Gründach“ und die geböschte Basaltverkleidung, die gewichtig – rationalerseits und heute unumgänglich - mit der Abwehr des „Vandalismus“ begründet wird.
Im Gegenzug scheint sich das Städtische ausweisen zu müssen als geometrisch Rationales. Dazu genügt es nicht, dass ja bereits seine kompakte, typologisch versierte und fast unabänderliche Vorgabe längst genügend rational ist, nein, es bedarf noch des rationalen Extraausdrucks in Gestalt des oben wahrnehmbaren Glasquaders. Dieser Quader trägt die Rationalität und Einheit des gesamten Bauwerks nicht nur als der einfache stereometrische Körper nach außen, sondern auch in seiner nächtlichen Lichtwirkung: „Farbige Lichtszenarien ... spiegeln die jeweiligen Lastfälle“, die die arbeitende Apparatur als Ganzes ausdrückt und, sublimiert zum spiegelnden Leuchtereignis, ins Bewußtsein der Passanten und Anwohner rückt, die – rational - Bescheid wissen sollten darüber, welche Farbe welchen Fall anzeigt.
3.
Dieser Ausdruck des Rationalen wird noch gesteigert, wenn nicht ermöglicht, durch das Moment der Ignoranz des Glasquaders gegenüber der sockelnden Uferböschung und ihrem „Gründach“. Ist es diese Ignoranz, die die Faszination an der Lösung Kraemers und so vieler zu recht als bestens benoteter Entwürfe begründet? Zu recht, weil wir offenbar noch immer die städtische Sublimation nicht gelassen genug austarieren können. Das machen uns nicht nur die zwanghaft gestrengen Bauten der Neorationalisten deutlich, sondern unwillkürlich auch die Bauten ihrer vermeintlichen Antipoden, der Vertreter einer plastischen Architektur. Beide Versionen sind nicht gemeint, das ist das besonders Wohltuende an Giedions Photographien vom „Petroltank“, auch wenn er die Konsequenz verfehlt.
Vergessen wir also neben den weißen Würfeln, zuletzt noch vom japanischen Büro „Sanaa“ als Designzentrum auf dem Gelände der Zeche Zollverein in Essen geplant und prämiert, auch die Bauten von Gehry bis Spuybroek. Denn gleichermaßen verfügen ihre Baumassen über keine Verbindung mit und Bindung an ihren Unter- und Nebengrund. Nirgends zeigen sie einen Anlaß ihrer Formentstehung; sie haben keinen Anfang und kein Ende, die ihre formalen Bedingungen, seis stereometrische Spannungslosigkeit, seis plastische Spannung, bestimmen und erklären.
Ergänzen wir kurzum die Hoffnung Giedions und behaupten, dass das Städtische heute aus vielerlei Gründen diese Ignoranz nicht mehr nötig hat! Behaupten wir, dass eine gegenseitige baukörperliche Reaktion von Bau und Boden wünschenswert ist und mit viel entwurflicher Raffinesse auch in dichtesten städtischen Lagen angebracht wäre, besonders in den Erdgeschossen und ihren nach oben und unten anliegenden Schichten!
Setzen wir eine Miniatur dagegen, eines von sieben Reliefs der Serie „Sinking Site“, angefertigt in Ton, abgeformt in Polyester, mit eingelegten Fundstücken aus dem Abfallkontainer der Grazer Stahlbaufirma Treiber:
Stählerne Rahmen in der Größe von etwa 40 x 60 Zentimetern fassen eine verformbar erscheinende Stoffmasse, auf der jeweils eine Konstellation aus zwei bis drei metallenen Körpern liegt.
„Sinking Site“ thematisiert die Topographie im Verhältnis zur Gestalt eines Baukörpers. Es handelt sich um Reliefs, die vor allem ihrer geringen Größe wegen es erleichtern und erlauben, ihre beiden Komponenten, einerseits die „Konstellation“ zu deuten als “Architektur“, andererseits den „Plastischen Stoff“ zu deuten als „Umfeld“, „Landschaft“, „Topographie“. Demnach zeigten die Reliefs, wie das Lasten nicht formlos vertikal, sondern formbildend horizontal abgetragen wird von der Oberflächenspannung des Bodens. Die Skulptur hat in diesem Falle ein leichtes Spiel. Nicht aber die Architektur, die eine solche Skulptur nur als ihr Anfangsmodell deuten kann. Gestalterisch nämlich käme neben den nötigen Reduktionen hinzu, den Übergang zu fassen, Volumina des Topographischen architektonisch zu integrieren, mitunter sogar die Bodenmaterie einzulassen und innere Räume zu prägen, wenn nicht zu füllen, ähnlich den nichtunterkellerten Partien eines Bauwerks - und im Gegenzug, ausgehend von der Konstellation Tentakel auszufahren oder die Randflächen nach Art von Manschetten zu befestigen.
Sinking Site 2 - „Kniff“
Die plastische Masse zeigt eine bestimmte anfängliche Dichte und Viskosität, die weitgehend erst durch das Verhalten der aufliegenden Stahlteile in Aktion und Erscheinung treten. Das Rechteck der Bodenmasse wird vom Eindringen der Körper diagonal erschlossen, d.h. es gibt eine untere gezogene und eine obere gestauchte Eckzone. Ähnlich ergeht es den seitlichen Feldern, links eine gezogene, rechts eine gestauchte Zone. Allerdings liegt die Ursache dieser seitlichen Spannung nicht im Eindringen der beiden Körper, sondern in ihrem Verhalten - seitlich - zueinander, sobald der lineare Vorgang ihres Eindringens beendet ist: es kommt links zu einer Kneif-und Scheraktion, rechts zu einer sanften Druckwelle.
Der Hauptakteur ist ein langgestrecktes Rechteckrohr mit offenen Enden. Von unten stößt es, eine Kerbfalte hinterlassend, vor und staut die Bodenmasse, die nur mühsam intakt bleibt und nicht zerschnitten wird vom Profil.
Der zweite Körper ist ein gleich langes Rohr mit sehr viel kleinerem Quadratprofil, das leicht gebogen sich dem Hauptakteur unterschiebt und offenbar dessen leichte Kipplage verantwortet. Aus der Tiefe, als befände sich dort ein Scharnier, scheint der Stab seine schließende Kraft zu gewinnen und Druck nach rechts auszuüben, um vielleicht gänzlich unter seinem Partner zu verschwinden. Jedoch verhindert dies der eingeklemmte Teil der Bodenmasse, seinerseits bedroht, gleich abgeschert zu werden.
Die Bodenmasse reagiert äußerst differenziert, mit der Kerbspur unten, dem in den Winkel stauchenden Wulst oben, vor allem aber mit ihrem ondulierenden Manöver um die schneidenden Profile. Die Bodenmasse scheint sie überwuchern zu wollen. Entlang des linken Steges der Hauptform ergibt sich eine Diagonalwelle, oben in die Tiefe gezogen, unten hervorquellend, während am Kopf mal die Stauchung, mal die Ausbuchtung eine Schwellung hervorrufen.Publikation: Heinrich Jennes: "Architektur des Horizonts - Bericht vom territorialen Entwurf, Berlin 2001 (Gebr. Mann Verlag Berlin), 225 Seiten, 36 Euro.
"Topographie bauen" ist ein Auszug aus dem im nächsten Jahr erscheinenden zweiten Band.