"Das Aushöhlen des (architektonischen) Objekts als transitäre Bedingung
Es gibt keine Krise der Architektur, es gibt eine Krise in der Gesellschaft" von Michael Homann, Graz
„... ABER DAS BEDEUTET, DASS ÄUßERLICHKEIT EBENSO IMMANENZ ERZEUGT (DA RAUM IN MEINEM GEIST BLEIBT), ... DAS SIND WIR, DIE INNERHALB DER ZEIT SIND UND IM SELBEN ATEMZUG IMMER GETRENNT VON IHR, IN DER ART, WIE SIE UNS BESTIMMT. DIE INNERLICHKEIT HÖRT NICHT AUF, UNS SELBST AUSZUHÖHLEN, UNS SELBST ZU SPALTEN, AUSEINANDERZUFALTEN, OBWOHL UNSERE EINHEIT BLEIBT.“ (aus Gilles Deleuze: „Sur quatres formules poétiques qui pourraient résumer la philosphie kantienne“, critique et clinique, les éditions de minuit, Paris 1993, Übersetzung durch den Autor)
Die Errungenschaften in bezug auf Mitspracherecht und Selbstbestimmung, über einen längeren Prozess seit Ende der Sechziger Jahre erkämpft, wurden aufgrund von Entwicklungen der letzten Jahre über Bord geworfen. Manche Redeführer von damals spiegeln sich inzwischen in ihrer eigenen Retrospektive – Rechtfertigung oder Abgesang? Die vieldiskutierte Emanzipation hat anscheinend nicht stattgefunden.
Das, was besprochen wird, passiert nicht. Jeder, der eine Ahnung von dem Wort Diskurs hat, nimmt es in den Mund und je intensiver es verwendet wird, desto weniger passiert, was es meint: das Besprochene bleibt in seiner eigenen Repräsentation stecken. Oder anders gesagt: es wird vom Tisch geredet oder gleich verschluckt. „Gegessen wird, was auf den Tisch kommt!“ wäre noch verhandlungsfähig. Indessen spart man sich den Tisch, damit der Spaß nicht im Halse stecken bleibt! Entweder leistet man sich die langsame Aufmerksamkeit über das „dérive“, über die vielfältige Konstruktion von Situationen als Aneignungsprozess oder man besorgt sich eine robustere Verdauung bzw. instrumentalisiert den Verdauungsapparat.
Retro ist ein verkürzter Brocken, warum eine Geschichte erzählen, die keinen Raum mehr öffnet?
Die Notwendigkeit von Redundanz in einer Zeit in der keine Diskurse passieren, produziert verkürzte Statements im weiten Raum der Medien, die sofort abbrechen, wenn sie aufgefordert sind, in eine tiefere Bedeutung von Zusammenhängen zu gehen – ein laufendes Abgleiten ins Beliebige. Die Grundmenge einer allgemeinen Verständlichkeit, was ja die Notwendigkeit von Redundanz ausmacht, basiert eigentlich nur auf einer schnellen, allen leicht zugänglichen Verwertung der Dinge, lässt sich aber keineswegs auf eine inhaltliche Auseinandersetzung ein, ist nur mehr Repräsentant für eine Oberfläche und wird nicht symbolisch aus einem Prozess.
Der Raum (Denkraum, diskursiver Raum, Raum einer gesellschaftlichen Auseinandersetzung) ist auf diese Weise kein offener mehr – wird dementsprechend dicht gemacht, die Meinungsbildung wird homogenisiert, die Bewertungsmuster auf dieses Homogene ausgerichtet, damit die innere Welt wieder stimmt und die äußere mit ihren heterogenen Immanenzen möglichst ausgesperrt wird. Diese werden über ein reichhaltiges (Cocktail-) Angebot inhaliert – eine leichtverdauliche Form? – „you can eat the cake“ – verschluckt. Die Immanenz, die hier gebaut wird ist eine kompakte, einfältige. Immanenz ist aber vielfältig und heterogen, ist in einen Prozess eingebunden. Der unentwegte Zwang zur Positionierung sperrt diesen Prozess.
„ABER DIE OBJEKTFIXIERUNG DER MODERNEN ARCHITEKTUR (DER GEGENSTAND, DER NICHT GEGENSTAND IST) INTERESSIERT UNS HIER NUR SOWEIT SIE DIE STADT BETRIFFT, DIE STADT, DIE VERSCHWINDEN SOLLTE. DENN IN IHRER JETZIGEN UND NICHT VERSCHWUNDENEN FORM IST DIE STADT DER MODERNEN ARCHITEKTUR ALS HÄUFUNG AUFFALLEND UNVEREINBARER OBJEKTE EBENSO PROBLEMATISCH GEWORDEN WIE DIE TRADITIONELLE STADT, WELCHE SIE ZU ERSETZEN SUCHTE.“ (Colin Rowe + Fred Koetter: „Collage City”, Birkhäuser Basel Boston Stuttgart 1984)
Im Sinne der klassischen Moderne wurde der Architektur forciert ein Objektcharakter zugeschrieben, der den Städtebau als etwas Additives beschreibt. Die Organisation der Objekte formt die Stadt. Der Hohlraum dazwischen wurde dabei kaum in Erwägung gezogen, er wurde durchwegs zum Restraum, zum Rest für das, was nicht die Architektur war. Die Stadt der isolierten Objekte und der kontinuierlichen Leere.
Auf diese Weise wurde eine Trennung zwischen Architektur und Städtebau vollzogen, die den Umraum zwar freistellte, aber unterordnete. Es passierte eine architektonische Verdichtung auf das Objekt hin, aber eine urbane Entdichtung auf den Hohlraum hin.
Dieses Ungleichgewicht forderte in den 50er Jahren in zunehmendem Maß einen Diskurs heraus: über den verdichteten Stadtkern, die urbane Vernetzung, über neu entstandene Peripherien und die Automobilisierung urbaner Bewegungsräume. Der übriggebliebene undefinierte Freiraum wurde zum Bewegungsraum, der die starre Ordnung der bis jetzt bekannten Stadt umzubauen begann. Damit hatte man nicht gerechnet. Er bekam die Wertigkeit eines „wilden“ Raums, eines Aneignungsraumes, eines Vernetzungsraumes.
In der Nachkriegszeit wurden viele Städte entweder am Reißbrett entworfen oder fielen einem blinden Wiederaufbau zum Opfer. Es gibt nur wenige Beispiele, die das Potential der Bewegungsräume bewusst aufgegriffen, dadurch zu neuen Zusammenhängen gefunden und auf notwendige kontextuelle Bezüge aufmerksam gemacht haben.
Die Hafenstadt Rotterdam ist eines dieser Beispiele, das nie kritisiert wurde. Die Lijnbaan von Van den Broek und Bakema im neuen Zentrum wurde zum Vorzeigemodell für ein innerstädtisches Geschäftsviertel mit durchdachten Straßenräumen für den Warentausch. Rotterdam funktionierte als Stadt – in Hinblick auf ihren speziellen Kontext, obwohl sie im 2. Weltkrieg durch Bombardierung und Brände fast völlig zerstört wurde.
Mehrere Gründe waren allerdings für dieses „Funktionieren“ ausschlaggebend: Der Wiederaufbau erfolgte aufgrund der noch vorhandenen Infrastruktur (Straßennetz, Kanalisierung etc.) bzw. aufgrund ihrer bestehenden Topographie und aufgrund langjähriger Polderisierung und Deichbildung, die Bewegungslinien für die moderne Verkehrsmaschine der Gürtelstraßen und Transitrouten in großzügiger Weise vorgab.
Ebenso war der gleichzeitig rapid wachsende Hafen über seinen Warenumschlag noch einmal Motor für eine verstärkte Mobilisierung – die Hafenstadt als Stadt der ständigen Abreise / Durchreise / des Übergangs bleibt in vielen Gebäuden bis heute lesbar. Die Trennung zwischen Urbanismus und Architektur war damit ausgesetzt, die Transität der Stadt erzeugte die urban-architektonischen Zusammenhänge neu.
„ES IST ALS WECHSELTEN WIR DEN MAßSTAB UND ERSETZTEN FIGURATIVE ELEMENTE DURCH MIKROSKOPISCHE ODER KOSMISCHE EINHEITEN. EINE SAHARA, EINE NASHORNHAUT, DAS IST DAS PLÖTZLICH AUSGEBREITETE DIAGRAMM.“ (aus Michael Homann: Die Transität der Hafenstadt, Graz 2001)
Die Stadt als Hohlraum und die Stadt als Vollraum. Die Auseinandersetzung über diese Grenze produziert kontextuelle Festlegungen – Potentiale. Kontextuelle Ausprägungen verändern die Räume und Objekte selbst, das Ineinanderspielen, die Vernetzung ermöglicht Heterogenität. Ebenso stellt sich ein Wechsel der Deutung ein: zwischen Objekt und Textur-Struktur.
Allison und Peter Smithson unterscheiden Schichten im städtischen Umfeld – jede Schicht hat ihre eigene Gesetzmäßigkeit. In Diagrammen werden unterschiedliche Schichten dargestellt, die ihre eigenen Hierarchien beschreiben. Die Hierarchisierung kommt durch Maßstabsprünge zustande, sie haben eine Entsprechung in Assoziationsmustern wie Haus, Straße, Viertel und Stadt selbst. Wichtig hierbei ist, dass diese Diagramme und Hierarchisierungen nur als Grundlage dienen, Potentiale für Entwicklungen auszuloten. Das Urbane zeigt sich im Makro und im Mikro.
Das monumentalste Beispiel für das hier Beschriebene wäre Constant’s „New Babylon“. Es ist sein unitäres Modell, ein Netzwerk, das über mehrere Städte gelegt wurde. Es gibt auch einen Plan für Rotterdam, die Überlagerung mit den Hafenräumen ist hier gut vorstellbar – bleibt aber konstante Utopie.
Das Hafengebäude von H.A. Maaskant für das Pier von Müller-Thomson im Schiehaven – mit dem ins Gebäude eingebauten Hohlraum des Warenumschlags von der Schiene auf das Schiff – ist ein prägnantes Beispiel dafür, wie der Transit in die Erscheinung und Raumbildung eines Gebäudes einfließt. Schon Jahre vorher zeigt sich dieser Transitraum in den innenliegenden Expediträumen des Großhandelsgebäudes, in Bahnhofsnähe gelegen, an dem ebenso Maaskant beteiligt war, hier mit W. van Tijen. Das Gebäude selbst zeigt sich hier allerdings noch als geschlosseneres Objekt zum umliegenden Stadtraum. Genau diese Prinzipien der Raumbildung finden sich Jahrzehnte später in der Kunsthalle von Rem Koolhaas und OMA und im Megabioscoop von Koen van Velsen mit ihren Bewegungsräumen durch das Gebaute. Es sind oft nicht der Architektur immanente Anteile, die hier wirksam werden. Die Bewegungen durch das Gebäude nehmen die Menschen- und Warenströme der Stadt auf: die Form des Durchgangs wird der belebte Raum, es ist seine Wahrnehmbarkeit und Konzeption.
Der Weg durch das Gebäude macht den Raum zum Ereignis. Viele zeitgenössische Bauten spielen mit diesem Paradigma. In der Kunsthalle von Rem Koolhaas und OMA wird der Weg zum Konzept, das den Außen- und den Innenraum in gleicher Weise betrifft. Jedes Ereignis hat seine Entwicklung, seine Dauer. Der dazugehörige Raum ist Ausdehnung, Materie – vektoriell, nicht nur nach Dimensionen geordnet. Er ist von Ereignissen belebt, nicht nur von stofflichen Formen.
Mit dem langsamen Verschwinden der wilden Räume steigt offensichtlich auch die Bereitschaft, das Ereignis selbst in der Architektur darzustellen: einerseits durch Simulationen im Medialen, andererseits durch Bewegungsschnitte im Gebauten. Es geschieht die Inszenierung des Öffentlichen über die Auswechslung der wilden Räume. Die Spaßgesellschaft konstruiert die Form der Vergeudung als Schein, als Mantel für die vorherrschende Sparsamkeitsökonomie.
(Über das Deleuze-Zitat wurden zwei Texte miteinander verknüpft: der eine als Pamphlet auf „das Unbehagen mit der herrschenden Ordnung“, bezugnehmend auf neuere universitäre Entwicklungen – der andere auf den Begriff der Transität hin, der Potentiale im Urbanen und in der Architektur aufzuzeigen sucht)
Michael Homann
Studium der Architektur in Graz und Marseille
Forschungsarbeit über „Die Transität der Hafenstadt“ und „rotterdam material project“ u.a. in Rotterdam, Montevideo und Marseille seit 1992
Filmprojekte, Mitarbeit in diversen Architekturbüros, diverse Wettbewerbe
Lehrtätigkeit über Architekturtheorie und Entwerfen seit 1998 an der TU-Graz
Selbstständige Tätigkeit als Architekt in Graz seit 1998