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Beobachtungen zum Bauen am Land von Gerhard Roth, aus: "Der stille Ozean"

“Wir wollen jetzt unser Haus umbauen“ sagte die Frau. „Wir wollen neue Eingangstüren. Die Türen machen den Vorraum so dunkel, und wir hätten gerne Glasscheiben, daß die Sonne hereinleuchtet. Auch das Heizen ist schwierig. Wir haben überall noch Öfen, ich muß oft drei gleichzeitig warmhalten im Winter, das ist viel Arbeit. Das Wasser holen wir vom Brunnen, so daß wir beim Baden große Häfen auf dem Herd zustellen müssen, und da wir sechs Personen sind, können wir uns nicht oft genug waschen. Dann sind auch die Fenster nicht dicht, und den Bretterboden muß ich häufig ausreiben, wenn wir es sauber haben wollen. Die Wände sind noch dazu im Winter feucht, sehen Sie sich die Flecken an.“ Sie streckte einen Finger aus. Dabei hätten sie es ohnedies noch gut. Die Witwe, deren Haus über dem Kuhstall aufgebaut sei, habe Schaben. Nachts, wenn es dunkel sei und einige Zeit still, dann könne man sie, betrete man die Küche, an den Wänden sehen. Vermutlich kämen sie aus dem feuchten Kuhstall. „Sie wissen gar nicht, wie schwer es ist, in einem alten Haus zu leben“, ereiferte sie sich. Die Angestellten von der Landwirtschaftskammer rieten ihnen immer zu, die alten Häuser nicht aufzugeben, aber selbst in einem alten Haus wohnen und eine Wirtschaft führen, das wolle keiner. Natürlich könne man ein altes Haus herrichten, die alten Häuser seien jedoch klein. Man wohne beengt in ihnen. Sie hätten aber viele Kinder, die es im Winter warm haben wollten und hell, und für die genug Wasser da sein müsse, damit sie sich waschen könnten, denn sie verrichteten jeden Tag körperliche Arbeit oder liefen draußen herum. Auch sei es nicht angenehm, bei großer Kälte ins Freie auf das Klosett zu gehen oder Schüsseln und Kübel zu verwenden, die bis zum Morgen im Zimmer stehen blieben, denn niemand wolle bei Nacht die Toilette aufsuchen. Auch wenn man bis zum Abend heize, so sei es in der Früh doch immer eiskalt, und die Kinder würden vom Herbst bis zum Frühling mit den Zähnen klappern und stöhnen, wenn sie aufstünden. Dann gäbe es Probleme mit den elektrischen Leitungen, die nicht für so schwere Belastungen, wie sie heutzutage ein Haushalt erfordere, gedacht seien. Wenn man schließlich alles umbauen wolle, müsse man auch bedenken, daß währenddessen die Arbeit und das Leben am Hof weitergingen, so daß es gescheiter sei, ein neues Haus zu bauen und bis zur Fertigstellung im alten zu wohnen. „Wir haben vom alten Zeug genug“, schloß sie.
„Trotzdem ist es traurig“, sagte Aschers Frau.
„Traurig? Was ist traurig?“ fragte die Bäurin. „Warum sollen wir das Haus stehen lassen? An was soll es uns erinnern? Worauf sollen wir stolz sein? Wenn einer ein Großbauer ist oder sehr genügsam oder so alt, daß es sich nicht mehr für ihn auszahlt, ist das etwas anderes. Aber wir?
Vielleicht, daß wir, wenn wir ein neues Haus haben, an das alte zurückdenken. Aber dann müssen wir ja nicht mehr darin wohnen.“
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Er hörte den Mann sprechen. „Morgen wird die Küche fertig abgetragen und weggeführt.“ Ascher blickte sich um: Der Mann sprach mit ihm. Er blieb stehen und sah zu, wie die Ziegel über das Dach rutschten und zu Boden fielen und langsam immer größere Teile der Dachbalken freigelegt wurden.
„Die Tür“, fuhr der Mann fort, den er nicht sehen konnte, „hat mir der Architekt abgekauft. Er ist zu mir gekommen und hat sich nach der Tür erkundigt. Ich habe ihn gefragt, wozu er eine Tür brauche. Für sein Haus, hat er gesagt. Da habe ich sie ihm gegeben.“
„Ja“, sagte Ascher.
„Ich wohne unten in der Ebene“, fuhr der Mann fort. „Das Haus habe ich geerbt. Im Frühling bringe ich meine Kühe herauf und lasse sie bis zum Herbst hier.“ Er hatte zu stochern aufgehört, und seine Stange stand jetzt ruhig in der Luft. Da Ascher nichts sagte, fing er wieder an, die Ziegel hinunterzuschubsen.

Auszug aus: Der stille Ozean, Band 2 (1980) des großen 7-teiligen Romanzyklus "Die Archive des Schweigens" von Gerhard Roth.Nachgedruckt mit freundlicher Genehmigung des Autors.

über Gerhard Roth:
Gerhard Roth zählt zu den wichtigsten deutschsprachigen Autoren der Gegenwart. Er wurde am 24.Juni 1942 in Graz geboren und studierte zunächst Medizin. Um sich dem Schreiben widmen zu können, brach er das Studium jedoch 1967 ab und arbeitete bis 1977 im Rechenzentrum Graz. Seither lebt er als freier Schriftsteller. Nach einigen Jahren in Berlin kehrte er 1986 zurück nach Österreich, wo er seitdem in Wien und in der Südsteiermark lebt.

Gerhard Roth wandelte sich vom Experimentalschriftsteller zum Groß-Epiker. In seinen Romanen stehen die "kleinen" Menschen im Mittelpunkt; er erzählt von Arbeitern, Bauern, Knechten und Mägden, von Sonderlingen und tragischen Figuren. Als sein Hauptwerk bisher gilt der 7-bändige vielschichtige Romanzyklus "Archive des Schweigens", an dem Gerhard Roth 14 Jahre - von 1977 bis 1991 - gearbeitet hat. Derzeit arbeitet er an einem neuen Zyklus, von dem bereits vier Bände erschienen sind: Der See, Der Plan, Der Berg, Der Strom. In diesen Büchern führt Gerhard Roth seine LeserInnen nach Ägypten, Griechenland und Japan.

Gerhard Roth hat eine Reihe von bedeutenden nationalen und internationalen Preisen erhalten, darunter den Preis der SWF- Bestenliste, den Alfred-Döblin-Preis, den Marie-Luise-Kaschnitz-Preis und den Preis des Österreichischen Buchhandels. 2002 wurde Gerhard Roth der "Bruno-Kreisky-Preis für das politische Buch" verliehen.

Zahlreiche Werke Gerhard Roths sind verfilmt worden, zuletzt sein politischer Schlüsselroman "Der See" (1996) und "Schnellschuss" (1995) von Thomas Roth. Michael Schottenberg verfilmte "Geschäfte" (1194), "Das Geheimnis" (1192) und "Landläufiger Tod" (1990).Die Romane von Gerhard Roth sind im S.Fischer Verlag und im Fischer Taschenbuch Verlag erschienen.

Verfasser/in:
ausgewählt von Karin Tschavgova

Datum:

Fri 28/05/2004
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