06/06/2004
06/06/2004

John Berger "Ein Haus, von Le Corbusier entworfen"

André erwartet, daß er sein Haus im Pariser Vorort Boulogne-Billancourt räumen muß. Zeitlebens hat er dieses Haus als Inbild eines Zuhauses in seinem Kopf mit sich herumgetragen; und während der letzten fünfundzwanzig Jahre hat er auch tätsächlich darin gewohnt. Das Haus allerdings gehört jemand anderem – eine Frage amerikanischer Rechtsanwälte.

Wieder ein Etáp! erklärt André. Vielleicht der letzte, mein einhundertfünfundzwanzigster! Etáp bedeutet auf Russisch „Transfer“. Es war das Wort, das die Gefangenen im Gulag benutzten, wenn sie von einem Lager in ein anderes verlegt wurden. Transfer fürchteten die Seks am meisten; gleichwohl gab es sie oft.Das Unbekannte erschien bedrohlicher als das Bekannte, selbst wenn letzteres unerträglich war. Dem Körper, der bereits erschöpft war, fiel es oftmals verhängnisvoll schwer, sich anderen Bedingungen anzupassen. Und bei jedem Transfer wurden die Stückchen, aus denen die Identität bestand, zerstreut oder zerbrochen und mußten wieder eingesammelt oder neu zusammengesetzt werden.

Zuerst leistete André gegen die Kündigung Widerstand – er weigerte sich, das Haus in Boulogne-Billancourt zu verlassen und verbarrikadierte sich darin. Neben dem schweren Metalltor, das auf die Straße führt, verwahrte er einen Russenspaten mit kurzem Stiel. Manch einen habe ich gesehen, sagte er, der mit solch einem Instrument geköpft wurde.

Jahrelang leistete er Widerstand. Doch dann entschied er sich anders. Wenn sie kommen und ihn dort vorfinden, so überlegt er sich heute, dann werden sie aus purer Gehässigkeit alles zerstören, was ihnen unter die Finger kommt. Etwas davon zu verkaufen lohnt sich nicht. Du kriegst nichts dafür, sagt er, doch mir hat dieser Krimskrams sehr viel zu sagen. Er zwinkert mit einem seiner verschmitzten, mandelförmigen Augen.

Ein Umzug muß geplant werden wie ein Ausbruch, so sagt er mit Nachdruck, keine Einzelheit, sei sie noch so klein, ist unwichtig. Tag für Tag packt er Papiere, Kleiderfetzen, Bücher, Zeichnungen, Briefe, Zeitungsausschnitte, Ersatzteile für Gott weiß was, eine Plastikflasche für Olivenöl in Form einer griechischen Vase, an der seine Mutter einst ihre Freude gehabt hat, in Pappkartons, die er nummeriert. Auf diese Weise hofft er, noch vor dem Transfer auszubrechen und alles mitzunehmen.

Achtmal ist er damals ausgebrochen. Und das war im Kolyma ein berühmter Rekord. Der Ausbruch aus Boulogne-Billancourt wird das neunte Mal sein. Wenn du erst mal auf der anderen Seite des Zauns bist, sagt er, dann hast du nicht gerade Tourismus im Sinn! Er wird in ein einziges Zimmer ziehen, fünf mal drei Meter, im fünften Stock.

Das Haus, das er räumen muß, wurde 1923 von Le Corbusier für Berthe, Andrés Mutter, und seinen Stiefvater, einen Bildhauer entworfen. Mit der Atelierwand aus trübem Glas und dem zerbröckelnden Beton auf dem Flachdach sieht es heute eher nach einer verlassenen Reparaturwerkstatt aus, deren Benzinpumpen schon vor langer Zeit demontiert wurden! Gleichviel, es ist eine Frage amerikanischer Rechtsanwälte.

Es gibt ein Doppelportrait von Andrés Mutter und seinem Stiefvater, das Modigliani 1917 gemalt hat: Berthe, die aus Moskau stammte, ist rechts zu sehen, Jacques Lipchitz links. Manchmal meine ich, in der Stellung von Berthes Mandelaugen eine Ähnlichkeit mit André zu erkennen.

Ein Fremder, der nach dem Augenschein urteilt, könnte André für einen Renaultverkäufer halten, der vor einem Jahr in den Ruhestand gegangen ist. Mit seinen achtundsiebzig Jahren ist er für sein Alter bemerkenswert lebhaft, drahtig und jung.

Im Inneren des Hauses gibt es eine Wendeltreppe, die zum Wohngeschoß hinaufführt. Das erste Zimmer, zu dem die Treppe führt, ist ein Schlafzimmer, nach Maß entworfen für André, als er noch ein Junge war. Über dem Bett hängt heute ein Gemälde, das einen Steppenwolf im Schnee darstellt. Mein Portrait, witzelt André und nickt dem Wolf zu.

Das ist nun mein letzter Transfer, und dabei muß ich an meinen ersten denken. Wußte ich denn vorher, was Transfer bedeutet? Ich war vierzehn. Ich nahm den Zug von der Gare du Nord, in Begleitung von Lunatscharski, dem Erziehungsminister des Volkes! Mutter hatte das arrangiert. Als der Zug in Berlin abfuhr, fiel der Geliebten des Ministers plötzlich ein, daß sie nicht all die Unterwäsche gekauft hatte, die sie kaufen wollte – ah! diese geheime Welt! – und also stand sie auf, ich war im selben Abteil, und sie zog die Notbremse. Der Zug kam rumpelnd zum Stehen. Und die Männer spielten Karten, bis sie von ihren Einkäufen zurückkehrte ... Als ich einunddreißig Jahre später rehabilitiert wurde und Lunatscharski tot war, habe ich sie bei meiner Rückkehr nach Moskau gesehen, eine alte Frau im schwarzen Kleid.

Nach Berlin, Warschau, Brest-Litowsk und Minsk kam ich am Morgen des zehnten Jahrestags in Moskau an. 7. November 1927.

Ich ging direkt zum Roten Platz, um mir die Militärparade anzuschauen und zum ersten Mal im Leben meinen Vater zu sehen. Er stand in seiner Generalsuniform auf dem Podest und nahm die Parade ab! Ich blickte zu ihm empor, doch es waren achtundzwanzig Grad minus, und ich konnte an nichts anderes denken, als daß mir furchtbar kalt war. Ich war angezogen, als ginge ich in Paris ins Lycée – mein leichter Anzug mit Knickerbockern, ein modischer weißer Regenmantel mit dunklen Bernsteinknöpfen und Schuhe mit dicker, schwammiger Gummisohle. Ich fiel auf, und ich fror mich zu Tode.

Ein paar Offiziere hinter dem Podest bemerkten mich und hatten Mitleid. Damals sprach ich kaum Russisch. Einer von ihnen näherte sich meinem Vater und fragte ihn flüsternd, was zu tun sei. Wickeln Sie ihn in eine Persenning und liefern Sie ihn bei mir zu Hause ab! befahl er. Und so geschah es. Man rolte mich in eine Armeepersenning, hievte mich in einen Motorradbeiwagen und schob mich durch die Eingangstür. Meine Stiefmutter dachte, ich wäre ein neuer Teppich! Schließlich meinte sie, den Teppich vor sich hin murmeln zu hören! Bald darauf verließ ich das Haus der beiden. Zwei Jahre lang war ich Vagabund, und schon im Winter 1930 war ich ein Volksfeind. Mein Vater, der General, wurde 1937 hingerichtet.

Um das Haus in Boulongne-Billancourt liegen viele unbearbeitete Stein- und Marmorblöcke verstreut. Lipschitz ging 1940 nach Amerika und kehrte niemals wieder. Am Hintereingang steht gewöhnlich ein blauer Emailleteller, bis zum Rand gefüllt mit Katzenbiskuits. Für die Vögel, erklärt André, sie picken daran ... Siehst du den Kirschbaum dort? Er ist von selbst gewachsen, ein Jahr nach Mutters Tod. Als sie noch lebte, hatte sie sie Angewohnheit, Kirschkerne aus dem Wohnzimmerfenster zu spucken. Schattenmorellen hatte sie besonders gern.

Berthe bestand 1946 nach Ende des Krieges darauf, New York zu verlassen und in das Pariser Haus zurückzukehren: Mein Sohn ist noch irgendwo am Leben, das fühle ich, sagte sie, und wenn er freigelassen wird, geht er zu dem Haus in Boulogne, um mich zu finden, und wenn ich nicht da bin, wenn er kommt, dann werden wir einander auf dieser Welt niemals wiedersehen.

Sie kam allein zurück, und sie mußte vierzehn Jahre darauf warten, daß André zurückkehrte und in dem Zimmer schlief, daß nach seinem Maß entworfen wurde, als er ein Junge war. Inzwischen war er fünfundvierzig Jahre alt, er hatte siebenundzwanzig Jahre im Gulag verbracht und war einhundertvierundzwanzigmal verlegt worden.

Der Sohn kümmerte sich um die Mutter, bis sie starb. Er verdiente seinen Lebensunterhalt in Paris, indem er Lebensversicherungen verkaufte.

Als erstes hängte er bei seiner Rückkehr einen Tennisball in einem Netz an einen Baum, zwanzig Zentimeter über der Erde. Damit die Katze seiner Mutter damit spielen konnte. Heute hängt er immer noch da.

Während er einen der Pappkartons vollpackt, stößt er auf ein Aquarell, hält inne und betrachtet es mit ausgestreckten Armen. Es ist besser, als ich dachte, damals, als ich es gemalt habe, sagt er, willst du es? Das Aquarell zeigt eine Hütte in den Alpen zur Sommerzeit. Um die Hütte herum liegen Heuhaufen. Alles war ganz deutlich ausgeführt, wie eine Kinderzeichnung, aus der Phantasie, nicht vor Ort gemalt. Ja, ich nehme es gern.

Ich werde es signieren, sagt er, und auf die Rückseite schreibt er in großen Einzelbuchstaben: „Meinem lieben John – in Erinnerung an meine herrlichen Ferien im August 1905, die ich in deiner Berghütte verbringen durfte – André.“

Während er schreibt, beißt er sich auf die Lippe, um nicht laut herauszulachen und den Witz zu verbergen. 1905 war noch keiner von uns geboren und keiner von uns auch nur einmal verlegt worden.

Mit freundlicher Genehmigung des Verlags entnommen aus:
John Berger. Mann und Frau, unter einem Pflaumenbaum stehend.
Erschienen 1995 im Carl Hanser Verlag, München Wien

Über den Autor John Berger
geb. 5. November 1926 im englischen Stoke Newington als Sohn eines Juristen; Besuch der Central School of Art und Chelsea School of Art in London; von 1944 bis 1946 Kriegsdienst; nach 1945 bis 1955 Kunsterzieher und Maler; wechselt Anfang der 50er Jahre vom Malen zum Schreiben, weil er glaubt, als Journalist und Schriftsteller während des kalten Krieges effektiver gegen den drohenden nuklearen Gau ankämpfen zu können; seit jener Zeit galt Berger als intellektueller Aktivist der marxistischen Szene; bis 1960 Autor für die Londoner Zeitungen Tribune und New Statesman; 1958 wird sein Romanerstling wegen prokommunistischer Tendenzen von seinem Verlag zurückgezogen; verlässt darauf aus Protest England; seit Anfang der siebziger Jahre in dem kleinen Bergdorf Quincy in der Haute Savoie (Frankreich). Für einen Eklat sorgte Berger bei der Verleihung des Booker Prize, den er 1972 für seinen Roman „G.“ bekommen sollte, als er das Preisgeld den Black Panthers stiftete, um damit gegen die langjährige Ausbeutung der Karibik durch den preisstiftenden Großhandelskonzern Booker McConnell zu protestieren.
Das literarische Werk Bergers umfasst Hörspiele, Theaterstücke, Drehbücher für Film und Fernsehen, politische Reportagen, Sachbücher über Photographie und Malerei, Erzählungen, Romane, Gedichte und Essays; Auszeichnungen
1972 Booker Prize für den Roman „G.“
1989 Österreichischer Staatspreis für Kulturpublizistik
1991 Petrarca Preis

Verfasser/in:
ausgewählt von Karin Tschavgova
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16. + 17.11.2023
 
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