03/10/2004
03/10/2004

"Vom Schlaf auf Reisen"
von Bernd Schuhmann, Bamberg

"Die Sesshaftwerdung bringt dem Menschen das Reisen ... er beginnt sein Leben zu ordnen und die Natur zu vergeistigen, er wandelt sie um in Kultur ... Dies ist der Beginn der Reise des Menschen nach innen ..." (Hajo Eickhoff, Welt erfahren, Kunstforum Bd. 136, Ästhetik des Reisens, s.S.104)

Der Nomade hat keine Fremde. Nur der Reisende bewegt sich im Fremden als das Nicht-Eigene. Für viele Reisen ist dies das eigentliche Ziel des Unternehmens.
So ist die Reise geprägt von der Bewegung im Fremden. Es ist das Fremde im Anderswo. In dieser Form sucht der Reisende das Fremde und die Auseinandersetzung mit diesem. Als Motive fungieren Neugier, Wissensdurst, Selbstfindung in der Auseinandersetzung mit dem Gegenüber, In-Frage-stellen des Eigenen und vielleicht des Selbst. Neben romantischen, ja letztlich erotischen Motiven sind dies überwiegend humanistische Argumente. Die Reise ist ein Kind der Romantik.

Antipodisch zu dieser Form der Auseinandersetzung verhält sich das Reisen im abgeschirmten und verschlossenen Abteil der transsibirischen Eisenbahn (Jochen Gerz, Der Transsibirien-Prospekt, Dokumenta 6). Diese Reise konstruiert den Fall der bewussten Bewusstlosigkeit, die Negation der Außenwahrnehmung zugunsten einer verstärkten Innenwahrnehmung, was aber vom Sinn und Zweck der Reise, der Wahrnehmung und Verarbeitung des Fremden, des Anderen absieht.

Doch die in der Kunst streng stilisierte Situation steckt vergleichbar in jeder längeren Reise: als Nacht, besser als Schlaf.

Der Schlaf ist die forcierte Verinnerlichung im Fremden, nicht etwa des Fremden. Er ist auch ein Ausgeliefertsein im und ins Fremde, eine Befindlichkeit ohne Voyeurismus (der diesen emphatischen Reisen unweigerlich anhaftet).
Schlaf ist zweckfrei unabhängig von der Absicht einer Reise.
Atmen, Essen/Trinken sind Akte der physischen Verinnerlichung des Fremden ins Eigene auf ganz unmittelbare Weise, über das Geschmackserlebnis hinaus. Unter Ausklammerung dessen sind sie von daher in rudimentärer Weise von ähnlicher Unmittelbarkeit und Einfachheit wie der Schlaf. Dagegen wohnt jeder Art von sinnlichem Eindruck bereits ein reflexives Element der Wahrnehmung inne. Schauen und Hören konstituieren immer ein Gegenüber.

Der Schlaf ist als Entlassung in die reine Befindlichkeit des Nicht-Bewussten im Fremden auf der Reise ein besonderer Ort.
Ein Versuch, diese Orte des Schlafes auf Reise auf ihre räumlichen Verhältnisse hin zu untersuchen, ist auch der Versuch, die reverse Seite einer Reise zu beschreiben – sind doch gerade die erfahrenen und oft vergessenen Räume der Ruhe die Unorte einer jeden Reise.
Was erzählen nicht auch die Unorte der WCs und Latrinen über eine Reise – und vor allem wie erzählen sie es?

Schlaf ist immer die Heimkehr ins Eigene, sowohl im Zuhause wie in der Fremde.

Es könnte so eine Typologie des Schlafes auf Reisen entstehen, indem weniger der Schlaf selbst oder gar der Traum – denn die Reise des Schlafes ins Innere bleibt mir und muss somit auch dem Leser verborgen bleiben – betrachtet wird als das Umfeld und die Situation, in dem er stattfindet (Stätte findet) als das Spezifikum der äußeren Reise, in der die innere sich ereignet, die wir ungestört lassen wollen.
Einige Elemente werden aus einer persönlichen Erfahrung beschrieben, die Typologie aber wird verweigert. Die Beschreibung der Ortes des Schlafes erfolgt in Form eines Tagebuches, das in diesem Fall wohl nur ein Nachtbuch sein kann.

Beschreibung des Schlafes auf Reisen einer Gruppe von 4 Personen anhand seiner Stätten:30. Juli, Freitag
Bernau bei Berlin
ehem. Wochenendhaus einer Berliner Besitzerin aus kommunistischen Zeiten
Schlaf in Privatwohnung (Verwandtschaftsbeziehung), Wohnzimmer, gemeinsam in einem Raum, Besitzerin schläft im Nebenraum
2 x Wohnzimmercouch, 2x Matratzen auf Boden
/OO o o/ x

31. Juli, Samstag, 22.00 - 02.00 Uhr
Fährschiff Sassnitz-Trelleborg, Scandlines
Schlaf während des Reisens
Schlafen gemeinsam: das ganze Schiff ist ein einziger Schlafsaal, jeder schläft irgendwo und völlig durcheinander, aber sehr eng: am Boden, auf Stühlen, auf und unter Tischen, im Speisesaal, am Gang, in Sitzen, auf dem Deck, unter Verwendung eigener Decken und Schlafsäcke
extrem reduzierte Privatheit der Passagiere
4x am Boden des Aufenthaltsraumes
+ + + +++ +Ooo +O+ +++

03.00 - 09.00
Strand in Südschweden
Schlaf am Rand einer Einfamilienhaussiedlung, Siedlungsweg einer Kleinstadt parallel zur Küste im öffentlichen Raum
3x im eigenen Pkw am Straßenrand, 1x daneben im Schlafsack am Strand
---/Ooo/ O------

1. August, Sonntag
Mem, Vandrarhem
Denkmalgeschütztes Gebäude (1832, Magazin)l errichtet anlässlich der Einweihungsfeier des dort beginnenden Göta-Kanals, durch den König als Festhalle genutzt,
kleiner Hafen vor dem Haus, ruhig, viel Natur, vergleichbar einer Berghütte, Wirtsleute
die 2-3 cm breiten Spalten des Dielenbodens gestatten Beobachtung des darunter liegenden Kaufladens (nachts geschlossen), Gemeinschaftraum mit den anderen Gästen, gemeinsame Toiletten
Schlaf im Zimmer mit 7 Betten/ Lager als Etagenbetten, einfachster Standard, eigene Bettwäsche
4x in Raum, 3 Betten bleiben leer
/O Ooo/

2. August, Montag
Stockholm-Helsinki
Fähre der Vikingline Mariella
ein Schiff wie eine Stadt, inkl. Nachtleben, mehrere 100 Mitreisende
Kabine ist sehr intim, extrem minimiert und mit allem Komfort, angenehmes Tuckern der Schiffsmotoren, leises Schwanken des Schiffes, Ankunft um ein Haar verschlafen
Schlaf während der Überfahrt in einer Innenkabine für 4 Personen (Etagenbetten)
/Oo Oo/

3. August, Dienstag bis 5. August, Donnertag
Helsinki, Mannerheimintie
Hauptverkehrsstrasse im Zentrum, laut und heiß
Privatwohnung im 4. Stock eines ca. 8-geschossigen Wohnblockes,
2 Zi, Kü, Bad, WC; vollmöbliert
Die Besitzer der Wohnung sind selbst auf Reisen, sie sind uns persönlich nicht bekannt
seltsame Nähe und Vertrautheit mit Überlasserfamilie auf Grund vieler persönlicher Dinge (zB. Bücher, Bilder, Notizen, vergessener Zutz des Kindes)
Stecken wir mit Sophie Calle unter einer Decke?
Schlafen im Kinderzimmer und Schlafzimmer, in den Doppelbetten der Besitzer
/oo-OO/

6. August, Freitag bis 12. August, Donnerstag
Keski-Suomi, Kalmari
1,5 geschossiges, einsam gelegenes Ferienhaus, ca. 300m vom See
vermutlich im Besitz einer Sekte
gemietet zusammen mit 2 befreundeten und untereinander verwandten Familien
4 Schlafräume, 2x Bad, 2x Kü für 9 Personen aus 3 Nationen: 3-4 Finnl., 4-5 Österr., 1 Deutschl.;
oder: 2 Pensionisten, 4 Erw., 3 Kinder
Tag/Nachtrhythmus durch Mitternachtssonne gestört
Schlaf in Zimmer mit Kniestock und Dachschrägen in Doppelbett, Fenster mit Fliegengitter verschließbar, eigene Bettwäsche
+/+ I OO/o+o/++

13. August, Freitag bis 15. August, Sonntag
Veikkola
karge Kleinstadt, mittlerweile im Einzugsbereich Helsinkis an der Autobahn nach Turku, ursprünglich Sommerhausgebiet für die Bewohner Helsinkis, noch stark ländlich geprägt
kleines, reparaturbedürftiges, privates Einfamilienhäuschen mit Garten in Seitenstraße, 200 m vom See
Befreundete Gastgeber:
2 Erw., 3 Kinder (m,w,m), 2 große Hunde und etliche Hühner
Dachgeschossraum von Gastgeber eigenhändig ausgebaut
Tag/Nachtrhythmus noch immer gestört
Spannungen in Gastgeberfamilie
Schlaf in einem Kinderzimmer auf Matratzenlager, im Nebenraum schläft Gastgeberfamilie gemeinsam, Poster des Fußballstars Ronaldo unter Dachschräge, eigene Bettwäsche/Schlafsack
OoO/+++++

16. August, Montag
Campingplatz, nördl. Helsinki, nahe See
Eines von 5 Einraumhäusern ( ca. 12 m²) in schlichter Holzkonstr. mit 2 Stockbetten, Tisch mit 2 Bänken, Kühlschrank, 2 Herdplatten und Veranda
Sanitäranlagen mit anderen Campingplatzbesuchern gemeinsam
Eigene Bettwäsche, Morgentoilette auch im See möglich (Strandbad)
/OOo/

17. August, Dienstag
Grankula/Kauniainen
Nobler Wohnort innerhalb des Großraums Helsinki
klass. Reihenhaus aus den 60er Jahren,
Wohnung der befreundeten Familie aus Ferienhaus
Schlaf in der Bibliothek am Boden auf von dritten organisierten Matratzen,ein Kind im Kinderzimmer bei Freundin
OOo/o+/++/+/-+

18. August, Mittwoch
bei Pärnu in Estland, an der Via Baltika
einsam auf flachem Land neben Forellenzuchtstation, Streuobstwiese mitten in der Landschaft
Schlaf getrennt in zwei von 6 Gartenhäuschen a là OBI mit jew. 2 Betten ohne weitere Einrichtung, ohne sanitäre Anlagen (Pixi-WC in 200 m Entfernung)
/Oo/ -I- /Oo/

19. August, Donnerstag
Landhotel bei Riga Lettland, an der Via Baltika
grobschlächtiger Blockhausbau aus Rundholz, mit ausgebautem Dachgeschoss, direkt an romantischem Flusslauf
Luxussuite des Hauses (ca. 60 m²)
Schlafen in Wohnraum mit Ausziehbett und Balkon und Schlafraum mit Doppelbett, eigenes Bad in der Suite
Oo/oO

20. August, Freitag
Polen 1
Kleines Gasthaus („Winde“) abgelegen in Masuren,
im EG kleine Gaststube für Nachbarschaft
im DG 4 Zimmer mit gem. WC-Anlage und Bad
3 Zimmer von polnischen Straßenarbeitern belegt
4. Zi (ca. 14 m²) für uns hergerichtet: 2 Kästen herausgetragen und durch 2 Notmatratzen ersetzt
/OoOo/

21. August, Samstag
Polen 2
Verschlafenes Motel an der Autobahn von Posen nach Frankfurt/O. zwischen mehreren dubiosen Etablissements
Schlafen in kleinen Schlafraum mit Doppelbett und Vorraum mit Couchbett, Bad
/oOo-O/

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