10/07/2005
10/07/2005

Arch. Peter Hellweger

Arch. Peter Hellweger

Arch. Peter Hellweger

Peter Hellweger (re) im Gespräch mit Volker Giencke.

Im Mai 2005 veranstaltete GAT gemeinsam mit dem Augartenkino kiz in Graz eine dreiteilige Matinee-Reihe zur Architektur Louis I. Kahns (5., 22., 29. Mai), in deren Rahmen der Film "My Architect. A Son´s Journey" gezeigt wurde und die drei Grazer Architekten Bernhard Hafner, Peter Hellweger und Volker Giencke in Kurzvorträgen unterschiedliche Bezüge zu Werk und Leben des großen amerikanischen Architekten herstellten.

Lesen Sie nachfolgend den Vortrag, den Peter Hellweger am 22. Mai 2005 im Rahmen der zweiten Kino-Matinee gehalten hat. "Sidesteps"

Schwieriges Thema heute, um eine Einführung zu machen; die Zeit ist sehr knapp und alle wollen den Film sehen.
Über Kahn würde man heute sagen, er ist ein Mann der Postmoderne. Es ist nur heute nicht möglich, in wenigen Sätzen zu definieren, was Postmoderne ist, aber die Moderne, wie sie sich programmatisch mit den 10er und 20ern Jahren angekündigt hat, ist es nicht mehr. Das sieht man ja auch Kahns Bauten an. Ich würde fast sagen, seine Kunst steht im Vordergrund. Der Mann baut, aber er macht Kunst. Er ist kein Ausführender, er ist kein Dienstleistender, das ist er auch, doch das ist nicht der Mittelpunkt seiner Interessen und seines Wirkens. Alles, was man auf den ersten Blick an seinen Bauten bemerkt, kann man sagen hier geht nichts nach der Industrie, hier geht nichts nach dem Management. Es ist zwar enthalten, aber es ist nicht wichtig. Hier wird gearbeitet, als wäre die Moderne mit ihren Errungenschaften dieser Art etwas Fremdes. Wegen der Komplexität dieses Themas bin ich in einem zusammenfassenden Vortrag fast gescheitert. Ich will mich lieber auf gescheiterte Leute verlassen, die nachgedacht haben, und möchte hier zitieren.
Der Zugang zur Architektur Kahns ist für mich weder technisch konstruktiver Art noch funktionalistisch. Sie ist außerhalb, aber wo? Für mich ist es vor allem ein ästhetisches Gefühl. Es ist nicht das Schöne, das hier auftritt im Betrachter, sondern es ist das Erhabene.
Das Erhabene unterscheidet sich grundsätzlich stark vom Schönen in der Moderne und ist konstitutiv für die Moderne. Darüber sind sich die Denker, die philosophierenden Ästheten einig. Ich nenne Namen wie Theodor Adorno oder in Frankreich Jean Francois Lyotard. Sie haben ein Leben lang daran gearbeitet, gedacht oder darüber geschrieben. In der Architektur hat man das gewissermaßen links liegengelassen und sich mehr mit den immer wieder verlängerten Anfangserfolgen, die von Corbusier und den Deutschen ausgehen, beschäftigt und ins Zentrum der Interessen gestellt, bis es fast ausgelaugt war. Heute stehen ja die Architekten vor einer Überwältigung durch die Industrie, da braucht man sich nichts vormachen. Was kann uns noch retten, wenn wir Kunst machen wollen? Die Frage lautet generell: wollen wir es überhaupt noch?
Es treten dann so seltene Künstler auf, Personen wie Louis Kahn, die zeigen, es ist noch möglich. Wir haben in Wahrscheinlichkeiten ausgedrückt, einen Mann vor uns, einen unter Millionen, der etwas repräsentiert und zeigen kann, was vermarktet wird. Es gibt Material genug und ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Ich weiß auch nicht, wie sehr Sie sich bis jetzt interessiert haben für die Ästhetik des Erhabenen, das Thema ist ja schon alt.

Den heute noch gültigen Begriff, aber nicht als einziger, hat Immanuel Kant gebracht. Und setzt sich fort, bis zu dem erst vor ein paar Jahren verstorbenen Lyotard. Aber es ist nicht der gleiche Begriff des Erhabenen. Es beginnt im 18. Jahrhundert bei den Engländern, bezieht sich zuerst auf die Naturgewalten, auf das Erschüttende, Erschauende und dann das Erheben, weil der Mensch bemerkt, das er weder in Sicherheit ist, das die Naturgewalten ihn nicht packten und vernichten und er den Standpunkt des Beobachters einnehmen kann und in ihm sozusagen der Gedanke der Vernunft entsehen kann:
Ich als Mensch, als Vertreter der Menschheit, kann die Katastrophe meistern. Das Ich und Wir sind da verschmolzen. Ich ist dann ein Gattungsbegriff und nicht Subjekt und wir sind in der Lage, gegenüber der Katastrophe zu bestehen. Zuerst versagt, wie Kant sagt, das Einbildungsvermögen, das Größte, das Kleinste das Erschütternde kann nicht mehr im Kopf dargestellt werden, das überschreitet eine Grenze und das Darstellungsvermögen wird durch die Vernunft überfordert, bricht zusammen und es entsteht dann Negatives und jetzt erhält sie sozusagen etwas im Menschen, das ihm ermöglicht, aus dieser Negativität der Darstellung doch zu einer positiven Behauptung seiner selbst zu kommen. Das ist nach Kant so ungefähr das Gefühl des Erhabenen. Beim Engänder Edmund Burke schaut das anders aus, da überwölbt sich sozusagen ein Gefühl des Scheiterns, ein Über- Ich übre das ich, als eine Steigerung des Ichs, den Gefühlseindruck der Natur noch möglich macht zu meistern.

Jetzt mache ich einen Sprung in die Gegenwart: bei Lyotard ist es das nicht mehr. Für ihn ist in der Moderne die Kunst grundlegend die Darstellung des Undarstellbaren. Weil das aber nie gelingen kann, ist es immer wieder aufgenommene angestrengte Arbeit. Und davon wäre gleich einmal zu sprechen.

Ich kann das nicht das zusammengepressen auf 3-4 Seiten, diese ganzen Gedanken und Schwierigkeiten. Ich kann nicht einmal direkt auf die Architektur Kahns zurückgehen, sondern muss vom Grundlegenden des Erhabenen sprechen. Man wird hoffentlich merken, dass sich diese Grundlagen direkt auf die Kunst und die Architektur übersetzen lassen.
Ich nehme hier ein Interview auf, das eine Frau Dr. Pries mit Lyotard gemacht hat und zitiere einen Auszug. Damit ist erst eine Andeutung gegeben. Ich habe da mehrere solche Stellen aus dem Buch ausgewählt. Das Buch heißt „Das Erhabene“, und ist eine Zusammenstellung von Aufsätzen, erste Auflage 1989 in Deutschland. Man kann nichts Besseres bekommen. Insofern ist meine Sache mehr oder weniger zitiert.

Ich beginne:

Die Frau Dr. Pries fragt Lyotard: „Da Sie sich so ausdrücklich auf Kant beziehen, stellt sich die Frage, ob ‚Ihr’ Erhabenes gegenüber dem Kantischen nicht so beträchtlichen Veränderungen ausgesetzt ist, dass es vielleicht gar nicht mehr dasselbe ist. So sprechen Sie erstens in Bezug auf das Erhabene von der Kunst, was Kant ausdrücklich ausgeschlossen hat. Wie rechtfertigen Sie diese Modifikation? Zweitens übernehmen Sie meines Erachtens nur die Struktur des Erhabenen, nämlich die Dialektik von Unlust und Lust angesichts des Undarstellbaren.“ (1) Hellweger: Das habe ich schon darzustellen versucht.

„Bei Kant ist es die Vernunftidee, die die Lust garantiert.“ (2)

Hellweger: Die Vernunft. besiegt die Einbildungskraft, die Sinnlichkeit, das Darstellungsvermögen.

„Die Einbildungskraft scheitert am natürlichen Chaos, woraus nur Unlust entsteht. Die Vernunft greift ein und ordnet dieses Chaos gewissermaßen. Erst dadurch entsteht Lust. Bei Ihnen scheint es mir eher umgekehrt zu sein: man empfindet Lust, weil etwas in Unordnung gebracht wird. Was schockiert in ‚Ihrem’ Erhabenen? Das Ereignis? Oder ist das das Ereignis ganz im Gegenteil das positive Moment, das die Gefahr, dass nichts geschehen könnte, bannt? Wie würden Sie die Kantischen Vermögen Einbildungskraft und Vernunft in diesen Mechanismus einordnen? Zumal die Vernunft heute ziemlich suspekt geworden ist.“ (3)

Lyotard antwortet: „Ich protestiere aufs Entschiedenste. Die Vernunft ist überhaupt nicht suspekt, jedenfalls nicht die Vernunft, die Kant im zweiten Teil der ersten Kritik und in der zweiten Kritik ausgearbeitet hat.
Mir ist daran gelegen, Kant vollkommen getreu zu sein, und ich glaube, ich bin es auch. Kant thematisiert in der Tat ein Unvermögen dessen, was er Einbildungskraft als Vermögen der Darstellung oder Synthese nennt. Dabei handelt es sich zwangsläufig um die grundlegendsten Synthesen.
Er sagt z.B. über die Seiten der Pyramide sehr klar: in dem Maße, wie ich in der Synthese fortschreite, verliere ich das, was ich schon synthetisiert habe. Es handelt sich also um die Synthesen, die in der Deduktion der Kategorien der ersten Kritik beschrieben werden (Apprehension, Reproduktion, und Rekognition), also wirklich um die grundlegendsten Synthesen, durch die etwas gegeben wird. Das Erhabene ist eine Art Loch, eine Bresche im Gegebenen selbst. Das ist die Unlust, fast die Angst, dass nichts gegeben wird, genau wie Sie am Ende Ihrer Frage sagten. Auch diese Interpretation ist meines Erachtens Kant getreu. Dann sagt Kant, dass gerade anlässlich dieser Unordnung zugleich eine absolut große oder absolut mächtige Vernunftidee gegeben wird. Diese erlaubt zwar nicht, das Loch zu überwinden, aber sie kommt sozusagen aus der Lichtung dieses Lochs hervor. Jedenfalls kommt es zu einer Art „Quasi“ – er benutzt sogar den Ausdruck „Quasi-Darstellung“ - von etwas, was qua Voraussetzung nicht darstellbar, nämlich Gegenstand einer Vernunftidee ist. Auch in diesem Punkt meine ich, Kant vollkommen getreu zu sein, wenn ich sage, dass es eine Art Präsenz gibt, die eben gerade nicht durch die Darstellung entsteht.“ (4)

Dr. Pries: „Und von da aus gehen Sie zur Kunst über…
JFL: Wenn Sie sagen, dass es bei Kant um Natur geht und nicht um Kunst, dann ist das meines Erachtens eine etwas voreilige Lektüre. Möglicherweise hat Kant das selbst gedacht, aber wenn man sich den Text ganz genau (und so getreu wie möglich) ansieht, bemerkt man folgendes: Die großen Schauspiele der sich in Unordnung befindenden Natur sind ein Beispiel dafür, dass die menschliche Kunst niemals etwas Derartiges hervorbringen kann. Denn alle menschliche Kunst ist immer nur Mimesis und letztlich suspekt, weil immer die Möglichkeit besteht, dass sie mit einer Absicht konzipiert worden ist und daher ein Begriff und eine Zweckmäßigkeit auf ihr lasten. Schon das Schöne ist relativ suspekt, das Erhabene scheint aber offensichtlich noch suspekter zu sein. Trotzdem ist das eigentlich Wichtige – und das sogar vom Kantischen Standpunkt aus - dieser Bruch oder split im Darstellungsvermögen durch Synthese, also in dem Vermögen, dass etwas in Raum oder Zeit zu einer einzigen Form synthetisiert, daher das Thema der „Unform"*.“ (5)

Kant spricht vom Scheitern des Darstellungsvermögens von einer „Unform“.
„Die natürliche Unordnung, der Sturm usw., also das Inkommensurable für die imaginative Synthese, dient meiner Ansicht nach nur zur Veranschaulichung dessen, was Kant sagen will. Der eigentliche transzendentale oder kritische Inhalt dessen, was Kant das Erhabene nennt, ist viel eher das Unvermögen zur Synthese, und man kann sich sehr wohl vorstellen, dass Künstler entweder durch Abstraktion oder Minimal Art versuchen, etwas hervorzubringen, was diese Formsynthesen zum Scheitern bringt und deshalb mit der transzendentalen Essenz des Erhabenen bei Kant ziemlich genau übereinstimmt.“ (6)

Da setzt sich etwas grundsätzlich ab. Wir haben ja heute eine Architektur, die sehr viel herum spinnt mit Abstraktion und minimal art. Aber diese minimal art zielt auf diese Transzendenz überhaupt nicht hin. Das ist nur ein Weitertreiben eines ganz materialistischen Ansatzes, die Form immer weiter zu reduzieren aus Ökonomie, aus Rationalität, die die industrielle Montage und das Produkt verlangen. Also hier ist von einem transzendentalen Ansatz die Rede – ganz etwas anderem.
„Sie verbinden das Erhabene häufig mit der Arbeit der modernen Avantgarden,“ (7) sagt die Pries, „ja definieren die Avantgarde sogar durch die Aufgabe, vom Undarstellbaren Zeugnis abzulegen. Kann dieser vollkommen moderne Begriff von Avantgarde in unseren „postmodern“ genannten Zeiten überhaupt noch gültig sein? Ist er nicht viel zu normativ und streng, weil er direkt zur non-figurativen, abstrakten Kunst führt? Mich hat erstaunt, dass Sie in Que peindre? auch von figurativer Kunst sprechen. Dort handeln Sie allerdings weniger vom Undarstellbaren als von der „Präsenz“. Ist diese Modifikation ein Zeichen dafür, dass Sie das bis dahin der abstrakten Kunst eingeräumte Privileg heute vielleicht als Irrtum oder Sackgasse betrachten? Aber wie kann eine figurative Kunst erhaben sein, bzw. auf das Undarstellbare anspielen?“ (8)

Antwort von Lyotard: „Ich verabscheue das Wort „Avantgarde“, das zum militärischen Vokabular gehört. Als ob die Künstler eine Armee wären, die als erste die Grenzen oder den limes erkundet. Das ist nicht besonders ernst zu nehmen und deutet zumindest auf eine aktivistische Kunstkonzeption hin, die mir gar nicht gefällt. Ich habe den Ausdruck zwar selber verwendet, weil er in der Kunstgeschichte anerkannt ist und erlaubt, eine im übrigen seht komplizierte Bewegung zu bezeichnen, aber er ist trotzdem sehr anfechtbar. Das geschehe ich Ihnen zu.
Es stimmt auch, dass ich der abstrakten Kunst besonders viel Aufmerksamkeit geschenkt habe, doch das war keine Sackgasse, sondern nur ein Moment. Ich bin, wie gesagt, über die Problematik des Erhabenen in dieser Sphäre gelandet, insbesondere über die Texte von Newman“, (9)
diesen bekannten amerikanischen Maler, Stichwort: einfärbige Bilder mit gewissen Texten. Darüber wäre in einem eigenen Aufsatz, den Max Inntal geschrieben hat, über Newman, zu referieren, würde unbedingt direkt hier anschließen, aber ich glaube, das greift viel zu weit. Nur eingeflochten: Das Newmansche Erhabene das er in den Mittelpunkt seiner Malerei, seiner Kunst stellt, ist gekennzeichnet durch große Bilder, an die der Betrachter eng herantreten muss und deren ganze Übersicht soz. vermieden werden soll. Die Präsenz, die der Betrachter von den Newmanschen Bildern mitmacht ist, steht für das Erhabene, ist ein vollkommenes Verschmelzen mit dem Bild, sei das, was man Eindruck nennt, vollkommene Gegenwärtigkeit, ohne dass etwas dazwischen kommt. Dass etwas störend wirkt, in einem Gefühlsüberschwang könnte man von Rausch sprechen. Das ist, was das Wort Präsenz kennzeichnet. Ich habe die starke Empfindung bei der Kantschen Architektur. Das Erhabene in der Kantschen Architektur bzw. die Präsenz ist bis heute nicht heraus gearbeitet. Und ich kann es als Nichtwissenschaftler bestimmt nicht leisten. Ich kann nur von meinem Gefühlseindruck sprechen und ihn betonen und ihn sozusagen um den Hals hängen, vielleicht geht es Ihnen auch so. Und das scheint mir die wichtigste Erkenntnis an der Kantschen Architektur zu sein. Diese Erkenntnis ist eigentlich durch nichts zu ersetzen. Das ist das Wichtigste überhaupt in der Kunst.
„Anhand dieser drei heterogenen und inkommensurablen künstlerischen Vorhaben habe ich zu zeigen versucht, dass es in allen drei Fällen eigentlich um die „Präsenz“ geht und dass es nicht stimmt, dass die Malerei einfach nur dazu dient, etwas, was man schon gesehen hat oder vielleicht auch noch nicht gesehen hat, einfach so zu zeigen. Selbst bei jemandem wie Adami steht absolut fest, dass seine Arbeit an der Zeichnung – weniger an der Farbe, weil er vor allem Zeichner ist - , seine Kompositionsweise selbst auf etwas anspielt, was eben gerade außerhalb jeder möglichen Darstellung liegt. Seine ganze „figurative“ Malerei spielt also auf etwas Unfigurierbares an. Ich weiß nicht, ob ich mein Ziel erreicht habe, aber meine Schlussfolgerung besteht darin, dass wahrscheinlich jede wichtige Malerei immer schon an der Grenze der Repräsentierbarkeit arbeitet und dass es in der großen Malerei wie in der großen Literatur darum geht, die Schuld einer Präsenz zu begleichen, die immer verfehlt wird.“ (10)

Also diesen Anspruch kann man sich für die Architektur nur wünschen. Denn wir reden uns immer nur aus: Auftrag – Bauherr – Zweck – Funktion, das alles vernebelt, zerstört sozusagen die Möglichkeit einer Präsenz. Kahn zeigt, dass es sehr wohl möglich ist. Aber dazu braucht es einen sehr seltenen Menschen, besondere Aufgaben und einen unglaublichen künstlerischen, persönlichen Mut. Einen Mut, der über Leichen geht. Wir sehen ja in seiner Biographie, dass ihm seine nächsten Angehörigen fast wurscht sind. Die Beschäftigung mit diesen Fragen ist derartig bindend und ausschließend zugleich, dass eigentlich nichts übrig bleibt. Wir sehen ihn ja in dem Film, wo die Kamera in Bangladesh im Regierungszentrum steht, und ein Bangladeshi spricht zum Sohn sozusagen. tröstende Worte, ich mache Sie nur auf die Stelle aufmerksam, der Mann, der Inder, steht ganz unter dem Eindruck der Erhabenheit, die in ihm aufkommt, angesichts des Bauwerks. Und angesichts des Sohnes, ein weiteres Gefühlsmoment, das sich hier überlagert. Selbst der Filmmacher steht ja unter diesem ästhetischen Gefühl – das Gefühl heißt ja nicht: mein Vater, sondern: mein Architekt. Mein Vater würde ja etwas blöd oder anmaßend klingen gegenüber dam, dass er einen Film macht. er kann ja nicht „mein Arzt“ heißen, der Film. Es bleibt also schließlich gar nichts anderes übrig, als ihn „mein Architekt“ zu nennen, mehr kann man nicht sagen „mein Künstler“, wäre genau so dumm wie „mein Arzt“. Also ich fahre fort.

Die Pries fragt weiter: „Würden Sie so weit gehen zu sagen, dass jede wichtige Malerei oder Literatur von dieser Präsenz Zeugnis ablegen muss? Das wäre doch ziemlich normativ.“ (11)

Lyotard: „Ich kann nicht sagen, dass sie es „muss“, ich meine das nicht normativ. Ich kann nicht zu einem Künstler sagen, was er machen muss, um diese Schuld“ (12)

– die Präsenz in seiner Kunst zur Darstellung zu bringen – „um diese Schuld zu begleichen.“ (13)

„Um wichtig zu sein“ (14), sagt die Pries.
Lyotard: „Das weiß man erst im nachhinein. Ein Beispiel aus der Literatur: Montaigne, Proust und Beckett kommt es auf absolut unterschiedliche Weise eigentlich auf das Gleiche an. Es geht immer darum zu sagen: Wissen Sie, da gibt es etwas. Ich habe versucht, es Ihnen zu sagen, aber wie ich es schaffen soll, das weiß der Himmel.“ Man sieht sehr wohl, dass die Arbeit an dem enormen Ding, das sich Sprache nennt, bei Montaignes ganz anders als bei Proust, aber die Arbeit ist bei beiden offensichtlich. Montaignes enorme, in ihrer Verrücktheit faszinierende Arbeit, seinen Essais mehr und mehr lateinische und griechische Brocken hinzuzufügen. Diese Arbeit ist übrigens Joyce sehr ähnlich. Bei Proust ist es dagegen eine Art Entfaltung eines Satzes, der eben gerade durch seine Entfaltung zu verstehen gibt, dass er beim Entfalten verfehlt, was er ver-sucht. Bei Beckett wird es dann in einer ganz spezifischen Art angespannter Nervosität und Traurigkeit und gleichzeitiger Schelmenhaftigkeit fast thematisiert.“ (15)

Godot, nicht? „Es ist nicht meine Aufgabe, einem jungen Mann, der vor seiner weißen Seite oder vor seinem Bildschirm sitzt – ich weiß nicht, ob man auf einem Bildschirm schreiben kann -, zu sagen, was er zu tun habe. Das hat gar keinen Sinn. Ich kann bloß im Nachhinein sagen: hier scheint es mir um etwas Wesentliches zu gehen. Und genauso verhält es sich offensichtlich mit einem Maler. An der so genannten transavantgardistischen Malerei heute regt mich auf, dass ich im Allgemeinen - nicht immer - nichts dergleichen sehe. Im Allgemeinen sehe ich da eher Leute, die sich in Szene setzen, um zu zeigen, dass sie die Wünsche des Publikums verstanden haben und genau so gut malen können wie alle anderen auch. Mich frappiert, dass Männer wie Montaigne oder Proust – so mondän dieser auch gewesen sein mag - mit ihren Mitteln, Phobien und Leidenschaften machen, was sie nur können, um von diesem Etwas“ (16)

– der Präsenz – „Zeugnis abzulegen. Meines Erachtens ist jedes Kunstwerk, das die Existenz dessen vergisst, was immer vergessen wird, vollkommen uninteressant. Das ist nicht normativ, sondern konstativ.“ (17)

Pries:„Um Sie noch einmal auf den häufig verwendeten Terminus „Postmoderne“ anzusprechen, an dem Sie auch nicht ganz unschuldig sind: worin besteht der Unterschied zwischen einer modernen und einer postmodernen Kunst? Jencks wirft Ihnen zum Beispiel vor, dass sie eigentlich nur ein Spätmoderner seien, der einen Gesichtspunkt der Moderne als postmodern bezeichnet und auf diese Weise eine vollkommen moderne Linie fortsetzt. Er sucht dagegen die wahre Postmoderne in einer eher prämodern zu nennenden Haltung, die auf eine neue Einheit ausgerichtet ist. Was halten Sie davon?“ (18)

Lyotard: „Jencks sagt das und versucht in der Tat in einer postmodernen Architektur eine Art Einheit wiederherzustellen. Mich wundert nur, dass die zwei, drei großen italienischen und englischen Architekten, mit denen ich ziemlich lange diskutiert habe, nicht dasselbe denken wie Jencks. Sie verstehen im Gegenteil ganz gut, dass man mit dem, was in der eigentlichen Architektur Postmodernismus heißt - und von dort ist das Wort im Prinzip gekommen -, übereinkommen ist, dass im Grunde das modernistische Projekt, nicht das moderne, das modernistische, im Sinne der großen Architektur von 1910 bis 1930 oder sogar 1940 nicht mehr weiterverfolgt werden kann. Dieses Projekt bestand immerhin darin, ein Heim (habitat) für einen Menschen zu konstruieren, der dabei ist, sich in jeder Hinsicht zu emanzipieren.“ (19)

Denken wir nur an die Le Corbusierschen Programmatiken des Formulierens.
„Dafür gab es unterschiedliche Lösungen. Offensichtlich hat Mies van der Rohe, ja eigentlich das ganze Bauhaus das Problem anders gelöst als Frank Lloyd Wright in den Vereinigten Staaten. Von den merkwürdigen Spaniern ganz zu schweigen. Die Antworten waren also sehr unterschiedlich, aber die Frage war dieselbe. Die Architekten, mit denen ich gesprochen habe, waren sich mindestens in einem Punkt einig: dass ihnen diese Frage in gewisser Weise enteignet worden ist, weil es eine Bauindustrie gibt. So einfach ist das. Es werden für die Konstruktion von Häusern keine Architekten mehr benötigt, mit anderen Worten: die Durchsetzung des industriellen Modells hat eine Krise des Modernismus in der Architektur ausgelöst. Das ist sehr schwerwiegend. Und wenn die Architekten keine einfachen Ingenieure – also kleine Angestellte eines Bauunternehmens - werden wollen, müssen sie sich die Frage stellen, was sie angesichts dieser Tatsache tun können. Schon der Begriff des „Wohnens“ oder des „Bauens“ im Sinne von „ein Heim bauen“ ist problematisch. Trotzdem versucht der Modernismus im Grunde, das Problem der Bestimmung der Behausung (demeure) unter den Bedingungen der Emanzipation, deutlicher gesagt der Aufklärung* wieder aufzunehmen. In allen großen Zivilisationen hatte jede Behausung traditionell eine Bestimmung. Sie war einem Fürsten, König, Gott, Volk oder einer Entität bestimmt, gewidmet, geweiht. Besonders im europäischen Modernismus (z.B. bei Le Corbusier oder den großen Architekten des Bauhauses*) waren die Gebäude eindeutig z.B. für das Volk oder das Proletariat bestimmt. Oder für das Kapital: die Gebäude von Mies van der Rohe in New York sind große Unternehmen. Die Form, die dem so seltsamen Verhältnis von Außen und Innen gegeben wird und die das ganze Problem des Heims in der Architektur ausmacht, d.h. die Antwort auf die Frage, was draußen und was drinnen sein wird, bleibt magisch – wenn ich so sagen darf - von einer allgemeinen Idee angezogen. Das kann die Idee der Emanzipation der Freiheit sein oder im Gegenteil die Idee der Herrschaft eines Schöpfers.“ (20)

Diese Ambivalenz steckt in unserer Moderne immer drinnen.
„Die Christen des mittelalterlichen Europas bauen wie zufällig eher Kathedralen als Paläste, die des monarchistischen Europas eher Paläste als Kathedralen. Und die Juden bauen eine kleine transportable Arche, die sie als Taschen - oder Reisebücherei mit durch die Wüste nehmen. Für sie ist das ein Heim, weil dort die Stimme wohnt.“ (21)

Wir werden dann im Film den Vorschlag Kahns für die Urga, die Synagoge in Jerusalem, ich möchte auf den Punkt hinweisen. Nicht, dass da jetzt eine Arche in der Wüste… da entsteht etwas, was Präsenz hat. Leider ist diese Synagoge nie gebaut worden.
„Sie werden mir entgegnen, dass das keine Architektur sei, doch im Grunde sind das Entitäten, die als Modell, als pattern, für eine ganze Architektur innerhalb einer gegebenen Kultur gelten können. Meine italienischen, englischen und amerikanischen Freunde sagen: „Was wollen Sie eigentlich, wir haben kein pattern mehr. Wir befinden uns am Ende der Aufklärung*. Man kann nicht fortfahren, für eine sich gerade emanzipierende Menschheit Bauwerke zu konstruieren, weil man sehr wohl weiß, dass das nicht der Fall ist.“ Um die Sache auf den Punkt zu bringen, würde ich sagen, dass nach den Konzentrationslagern das Bauenkönnen wirklich zum Problem wird. Denn diese waren zwar eine Antwort, aber nicht, um die Menschheit zu emanzipieren. Man kann auch Baracken bauen, und letztlich wird das auch getan. Daran muss man sich immerhin erinnern. Vielleicht hält Jencks mich für einen alten, kaputten und archaischen Modernen, ich sage nur: diese Frage kann man nicht umgehen. Die sollen mir doch keine Geschichten erzählen! Ich will nicht, dass man mir sagt: „Ach wissen Sie, ich nehme eine neoklassische Kolonnade und bringe da ein bisschen Barock oder Rokoko an. Gleichzeitig sorge ich für moderne Lebens- und Komfortbedingungen und setze all das in eine Landschaft. Oder ich konstruiere eine Landschaft so, dass sie Spuren von dem behält, was Heidegger über den griechischen Tempel und seinen Bezug zur Natur geschrieben hat. Aus all dem mache ich dann einen Vorort.“ Meinetwegen, einige sind ja gar nicht so schlecht, aber das ist kein Projekt, man antwortet nicht auf die Frage. Man nimmt sie nicht ernst. Sie werden mir sagen: „Sie sind vielleicht lustig. Was würden Sie denn machen wenn Sie Architekt wären?“ Ich bitte vielmals um Entschuldigung, aber ich bin von Haus aus Philosoph, und in der Philosophie herrscht dieselbe Situation wie in der Architektur. Ebenso wie es wegen der Bauindustrie keine Architektur mehr gibt, gibt es wegen der Kulturindustrie keine Philosophie mehr. Wir kommen auch erst nach der Philosophie, aber das hindert uns nicht daran, weiterhin nachzudenken. Die Architekten mögen doch bitte nachdenken.
Das soll nicht heißen, dass man die Avantgarde fortsetzten muss, das hat überhaupt keinen Sinn, sondern bloß: hier stellt sich eine Frage, also?

CP: Gibt es denn auch keinen Unterschied zwischen einer modernen und einer postmodernen Kunst, nachdem diese entscheidendere Frage gestellt worden ist?

JFL: So einfach ist es nun auch wieder nicht. Mit dem Namen Postmoderne belege ich – heute, denn ich glaube, im Postmodernen Wissen war mir das noch nicht so klar – einen sehr wichtigen Gedanken, nämlich, dass der Modernismus, nicht die Moderne, nicht mehr möglich ist, nämlich eine Kunst, die ein allgemeines Emanzipationsprojekt begleitet, unterstützt und illustriert. Irgend etwas ist zerbrochen. Es ist vollkommen uninteressant, das zu datieren, vor allem weil man schon bei jemandem wie Diderot eine Kritik am Modernismus sehr leicht nachweisen kann und es sogar bei Stendhal offensichtlich eine Art Kritik am Modernismus gibt, eben gerade aufgrund seines Bonapartismus. Die Kritik am Modernismus war also sicherlich immer schon innerhalb des Modernismus vorhanden. Er hat sich unaufhörlich selber kritisiert, aber jetzt ist es mehr als eine Kritik. Es ist eine Art Melancholie – um ein etwas sanfteres Wort zu gebrauchen, das im übrigen gar nicht so sanft ist -, die man Beckett oder bestimmten Werken der Kunst und er Musik sehr wohl anmerkt. Es gibt ein wunderbares Musikstück von der großen italienischen Musiker Nono für vier, fünf Instrumente und ein Tonband: Guai ai gelidi mostri. Es ist mir egal, ob es zur Avantgarde gehört. Es gehört jedenfalls nicht zur Wiener Schule, es ist nicht wie Schönberg, sondern kommt danach.
CP: Wenn Sie nun sagen, dass das wahre Problem darin besteht, die Präsenz fühlen zu machen oder Zeugnis von ihr abzulegen, und ausdrücklich dazu aufrufen, wie ja auch im Widerstreit, wie legitimieren Sie diesen Aufruf? Beruht er auf der vollkommen modernen Idee der Gerechtigkeit? Dich wie legitimieren Sie diese Idee der Gerechtigkeit, ohne eine prämoderne Theologie oder in eine weitere der von Ihnen kritisierten „großen Erzählungen“ der Moderne zurückzufallen?“
Der Film jetzt soll mehr ein Genuss sein, hier soll nicht die intellektuelle Anstrengung stehen. Mein Vortrag hieß „Sidesteps“.
Das, was eigentlich interessant wäre, sind aber nicht die Sidesteps, sondern das Zentrum. Wir müssen uns wieder daran gewöhnen, dass Architektur Kunst werden könnte.

FUSSNOTEN:
(1) Pries, Christine (Hrsg.): Das Erhabene. Zwischen Grenzerfahrung und Größenwahn. Weinheim 1989. S 320
(2) Ibid.
(3) Ibid. S 320 f.
(4) Ibid.
* Im Original deutsch.
(5) Ibid., S 322
(6-9) Ibid.
(10)Ibid., S 323
(11-14)Ibid.
(15)Ibid., S 324
(16-18)Ibid.
(19)Ibid., S 325.
(20-21)Ibid.
(21)Ibid.KURZBIOGRAFIE
PETER HELLWEGER wurde 1941 in Leoben geboren. Er studierte Architektur an der Technischen Universität Graz.
Mitarbeit in Büros in München und Wien.
1982 - 1992 war er Assistent bei Günther Domenig am Institut für Gebäudelehre an
der TU Graz.
Peter Hellweger lebt und arbeitet als Architekt in Graz.

Bauten:
Kapelle in Kaindorf a.d. Sulm bei Leibnitz
Maschinenhaus Naturkraftwerk in Unzmarkt (mit Günther Domenig), ausgezeichnet mit dem Geramb Dankzeichen für Gutes Bauen in der Steiermark und dem Österreichischen Staatspreis für Industrielles Bauen.

> > VORSCHAU:
Am Sonntag, den 24. Juli 2005 auf GAT:
> sonnTAG 086 "Architektur & Emotionen", Vortrag von Architekt Volker Giencke, gehalten am 29. Mai 2005 anlässlich der 3. Kino-Matinee zur Architektur Louis I. Kahns im augartenkino kiz in Graz.

Verfasser/in:
Peter Hellweger, Architekt
Netzwerktreffen
16. + 17.11.2023
 
GAT+