24/12/2006
24/12/2006

sonnTAG 160

Wilhelm Hengstler (li)

XXX-CHRISTMAS - von Wilhelm Hengstler

Weihnachten begann am 13. Dezember gegen 11 Uhr vormittags. Als ich am Bahnhofsgürtel unter der Oberkante der Windschutzscheibe hinausspähte, zeichneten sich die Männer, die von dem Kranwagen aus den Weihnachtsschmuck montierten, in ihren orangen Overalls gegen den Feinstaubhimmel ab. Sterne, Glocken, Kometen, sogar Schlitten und Rentiere aus aneinander gereihten Glühbirnen – bei Tageslicht Notat des avisierten Weihnachtsumsatzes, ab Einbruch der Dämmerung elektrifizierte Sehnsucht. Ohne Kinder halbe Weihnachten, Weihnachten ist ein Fest für Kinder. Anneliese, genauer Liese, wird 4 Jahre und Naomi, 21, stammt aus der ersten Ehe. Außerdem gibt es da noch Minka, Lieses Katze und Gudrun, meine Frau.
Was hatte ich gedacht, dachte ich, als ich 20 Minuten später den Gang wieder einlegte. Genau so wie selbst der schmutzigste Witz einmal von irgendjemand erfunden worden war, musste auch irgendjemand für die Montage des flächendeckenden Lichterglanzes zuständig sein. Und diese beinah völlige Auslöschung tröstlicher Dunkelheit ging mit verschärften Verkehrskontrollen einher, jedes Jahr zur Vorweihnachtszeit wurde jemandem aus dem Bekanntenkreis der Führerschein abgenommen.

Eine Woche später verwandelten sie das Rathaus mit Unmengen von buntem Licht in ein ungenießbares Lebkuchenhaus und ich lud Alex in das Konzert von Ginger Baker ein. Es war vermutlich eher ein Weihnachtsgeschenk für mich, als für sie. Alex verband nichts mit Ginger Baker. Hans, der Dritte aus unserem Laden hätte dem Konzertbesuch jeden Eindruck des Verfänglichen nehmen sollen, passte aber im letzten Augenblick, weil er lieber eine Weihnachtsfeier besuchte. Baker war früher Schlagzeuger einer Jazzrockformation namens „Cream“ gewesen, mit Eric „Slowhand“ Clapton als Gitarrist und einem Schotten namens Jack Bruce, Bass und Gesang. Das Trio galt als frühe Supergruppe, Nummern wie „White Room“ klangen endzeitlich und monumental. Aber die Stars wurden es leid, „Sitting on Top of the World“ wie ein Titel ihrer Hits lautete, wieder und wieder das Gleiche zu spielen und gingen auseinander. Aber heute hämmerte Ginger Baker, der das alles aufgegeben hatte, nur um der Routine zu entfliehen, erst wieder die gleichen Songs auf sein Schlagzeug: „As You Said“ oder „Born Under a Bad Sign“.

Wie damals war er ohne einen Blick aus den schmalen, entzündeten Augen für Publikum oder Partner, bis zum Kragen voll mit Drogen, auf die Bühne des halbleeren Orpheum gekommen. Aber seine gegenwärtigen Mitspieler waren viel schlechter, als die Superstars Clapton und Bruce damals, und sie schafften das Tempo nicht, das Baker vorlegte in seiner Wut über ein Leben, dem er nicht entkommen konnte. Ich muss schon sagen, diese Weihnachten ließen sich traurig und pathetisch an.

„Wie gefällt´s dir?“, fragte ich Alex. Sie zitierte eine dieser Grimassen, mit denen junge Frauen in Serien wie „Sex and the City“ ihre ironische Distanz zum Leben signalisieren. In diesem Augenblick erinnerte mich Alex sehr an meine Tochter Naomi, aber wegen des Krachs verstand ich nicht, was sie sagte. Wir standen neben Lautsprechertürmen, die den Boden unter den Füßen, die Wände des Saales und unsere Herzen zum Vibrieren brachten. Der klumpfüßig wirkende Kerl mit der Bierflasche in der Hand, mit einer Bassstimme, hatte allerdings keine Probleme mit dem Rockgetöse. Mit einem Bass, dichter und schwerer als Granit, begann er auf Alex einzureden und hörte auch die ganze Viertelstunde nicht auf, die Bakers Truppe oben für Robert Johnson´s „Crossroads“ benötigte. Ich bin kein eifersüchtiger Typ, hasse es aber, wenn jemand ohne sich vorzustellen ein Gespräch mit meiner Begleiterin beginnt, ganz so, als wäre ich nicht da.
„Wer war der Kerl“, fragte ich, als wir uns auf der Straße durch die Menschen drängten, die freudig erregt an ihren Paketen hingen.
„Er war einmal ein Schüler meiner Schwester in der Handelsschule und blieb später mit ihr befreundet. Er hat mich mit ihr verwechselt.“
„Kann ich mir nicht vorstellen“, sagte ich, da ich wusste, wie Alex´ Schwester aussah.

Am nächsten Tag stellte sich heraus, dass Hans es teuer bezahlt hatte, ein Weihnachtsfest unserem Baker-Konzert vorzuziehen. Am Heimweg war er von einer Streife aufgehalten worden, die ihm umgehend den „Zettel“ abgenommen hatte. Da er außerhalb wohnte, bezog er bis zu den Feiertagen bei uns Quartier. Im neuen Jahr wollte er für die führerscheinlose Zeit eine Wohnung in der Stadt beziehen. Hans stellte keine Belastung für uns dar, nicht einmal in der Hetze vor den Feiertagen. Liese liebte Hans, Mirka strich ihm um die Beine, Naomi nahm ihn so wenig wahr, wie alle anderen im Haus, und Gudrun schätzte es, dass er unaufgefordert den Müll ausleerte, Bierkisten in den Keller schleppte oder seine Tassen automatisch im Geschirrspüler verstaute.

Hans war einer dieser Computerfreaks, und nachdem er den alten IBM Thinkpad mit Programmen beschwert hatte, die anzuwenden ich doch nie imstande sein würde, bestand er darauf, mich auf seinen Streifzügen durchs Internet mitzunehmen. Tatsächlich war ich der einzige, den die Anwesenheit seines Freundes störte. Ich musste hinter meinem eigenen Drehstuhl stehen, und mich, während ich mit Murmeln vorgab die Icons und Schriften auf dem Bildschirm wirklich auszumachen, über Hans´ Schulter beugen, bis mich Rücken und Nacken schmerzten. Er ließ unter dem Vorwand mich eingehend zu informieren, den Cursor rasend schnell von Symbol zu Symbol, von einem Link zum nächsten flitzen, besessen davon irgendetwas da draußen im Cyberspace aufzuspüren und sich günstig anzueignen. Während mein Nacken immer steifer wurde, wünschte ich mich voll Ingrimm ins Wohnzimmer hinüber. Dort könnte ich wenigstens neben Liese, die ihre Teletubbies im Fernsehen gebannt verfolgte, meine FAZ, die Zeit oder wenigstens das „Spectrum“ durchblättern; ich könnte wegwerfen, was ich doch nie mehr lesen würde, herausreißen, was mich interessierte und daraus einen neuen Papierstoß bilden, den ich schließlich irgendwann – nächste Weihnachten vielleicht? – erneut durchforsten würde. Hans spürte meinen Unwillen. „Hier hab ich was für dich“, sagte er schlau, „einen ganz besonderen Link“. Der Bildschirm nahm die Farbe des Rots von Santa Claus´ Mantel an, dann erschienen mehrere große X, dann ein XX-Rating und schließlich X-Christmas. Das Rot auf dem Monitor geriet in Bewegung, wurde zu Weiß, Gold und Fleisch. Helle Haut in roter Reizwäsche, lange Beine auf hohen Stöckeln, schwarze Muskelreliefs begrenzt von weißen Slips und BHs, sehnige Schenkel, die pralle Weihnachtssäcke umklammerten, Wattebärte über Schamdreiecken, Engelsflügel, deren Federn Brustwarzen streiften, Heiligenscheine vor dem V der Beine, Dildos, mit denen das Heu der Krippe durchstöbert wurde… also Weihnachten wie noch nie. Liese stand plötzlich in der Tür, und Hans vermochte das Bild grade noch rechtzeitig zu minimieren. Aber während ich die kleine Unschuld zurück zum Fernseher bugsierte, sah ich im Augenwinkel all die Fleischespracht wieder aufflammen.
„Gibt es viele Christkinder?“ fragte Liesa, „Bringen die mir alle Geschenke? Darf ich deshalb nicht schauen?“
„So ähnlich meine Liebe“, sagte ich und kehrte ins Studio zurück. „Lösch´ das um Gottes Willen, wenn der Weihnachtsfrieden nicht extrem gefährdet werden soll.“ Hans klickte den Link weg, aber die Damen kehrten augenblicklich aus der Tiefe des Raumes zurück, wieder und wieder. Was immer Hans versuchte, die kleinen Racker blieben uns erhalten. „Ein Virus“ sagte der Experte und wandte den so genannten Affengriff an – control, alt, delete… Die Schönheiten schrumpften auf den Schnittpunkt der Parallelen auf Pünktchen, Aufatmen beim Schwarz auf dem Bildschirm.

Hans nahm dann der Einfachheit halber die restlichen Tage bis zum 24. Urlaub und blieb zu Hause. Dafür bekamen wir einen neuen Gast. Das Tagpfauenauge war nicht sehr groß, seine Flügelspannweite mochte vielleicht 4 Zentimeter betragen. Mit zusammengeklappten Flügeln und im Vorhaus beinah schwarz, wirkte der Falter noch kleiner. Minka, Liesas Katze, ließ ihn unbehelligt, weil sie ihn vermutlich für ein Stück Papier oder ein dürres Blatt hielt, das sich zwischen den Fugen der alten Parketten aufgestellt hatte. Aber ich hatte, während ich meinen Kopf ganz nahe heranbrachte, ein leises Zischen gehört, als er die Flügel auseinander klappte und seine blauen und gelben Augenflecken präsentierte. Liesa kam nicht mehr aus ihrem Kinderzimmer oder einem der andren Räume in den Gang geschossen, sondern bog vorsichtig um Türkanten, aus Angst, den Schmetterling zertreten. Einmal sah ich sie, die Zunge zwischen die Lippen geklemmt, mit beiden Händen ihre Kakaotasse haltend, wie magnetisch auf das Tagpfauenauge zusteuern, um es im letzten Moment erleichtert zu verfehlen. Auch Gudrun, die sich, die Arme bis an die Augen mit Einkäufen beladen, blindlings in die Küche schleppte, brachte den Falter niemals in Gefahr. Er überlebte sogar Naomi, die stets spät dran im Eilschritt zu ihren Verabredungen stürmte. Ich selber vergaß immer wieder auf dieses Lebewesen, das wie durch einen selbstverständlichen Zufall unbeschädigt blieb. Dabei hätte es keinen Sinn gemacht, sich seinen Standort zu merken. Es hockte jedes Mal woanders, mal schräg, gleich einer Jolle, die gegen den Wind kreuzt, mal aufrecht, wie atmend mit seinen bebenden Flügeln. Es war aber erst der 19. Dezember, noch eine Menge Zeit bis zum Frühjahr.

Peinlicherweise erwiesen sich auch die Girls auf meinem Laptop als äußerst widerstandsfähig. Als Gudrun übers Internet wieder einige dieser maßlos überteuerten Montessori-Materialien bestellen wollte, und das XX im Rot aufleuchtete, hätte mich der Schock fast getötet. Ich konnte gerade noch den Stecker aus der Dose reißen. Gudrun erklärte ich wegen eines Migräneanfalles über das Kabel gestolpert zu sein, den sie augenblicklich mit einer Schläfenmassage in Schach halten müsse. Ihren nächsten Bestellungsversuch konnte ich nur durch das Umlegen des Hauptschalters vereiteln. Ein andermal lehnte ich mich gegen den Computertisch und schaffte das Kunststück, den Laptop scheinbar unabsichtlich auszuschalten… Große Strafpredigt, weil man ja so ein Gerät stets herunter fahren sollte. Einige Nachtstunden verbrachte ich mit dem Versuch, den Link und die Viren auszumerzen. Ich rief bei der angegebenen Nummer an, wurde aber nur an Verbalverführerinnen weiter gereicht, die mein Problem mit schauerlichem Gestöhn lösen wollten. Auf diesen technischen Service verzichtete ich, nachdem mir ein irrer Betrag in Rechnung gestellt wurde. Besonders peinlich war, dass diese XXX-Engel ausgerechnet während einer Demonstration im Büro landeten.
„Powerpoint“, der Chef lächelte überraschenderweise nur, und in den Augen von Alex schien mein Ansehen beinah zu steigen. Am schlimmsten war, dass Naomi, meine Tochter Naomi, grade als ich wieder an einem Löschversuch saß, durch das Studio stürmte und mit einem Blick alles erfasste. Wenig später stellte sie mir die Rechnung für ihr Stillschweigen, indem sie fragte, ob wir etwas dagegen hätten, dass ihr neuer Freund bei uns Weihnachten feiern würde. Da könnten wir ihn endlich kennen lernen. Sie warf mir einen wissenden Blick zu, nahm unser Schweigen für Zustimmung und stürmte hinaus - vermutlich zu unserem zukünftigen Weihnachtsgast. Wieder ohne das Tagpfauenauge zu zertreten.

Am 24. schaute ich noch bei Hans vorbei, der umgeben von DVDs und CDs seinem Führerschein nachtrauerte. Ich schenkte ihm eine Flasche australischen Shiraz zum Trost, aber in Wahrheit ging es mir darum, ihm Vorwürfe wegen der sexuellen Verseuchung meines Computers zu machen. Er riet mir kaltblütig, einen neuen Laptop zu erwerben, und ich fuhr wieder, bevor unsere Freundschaft Schaden litt. Außerdem war ich schon spät dran, der Christbaum für Liesa musste noch aufgeputzt und die Geschenke eingewickelt werden.

Der Falter im Vorhaus stellte sich tot, während Mirka an ihm vorbei schlich, und aus dem Wohnzimmer meldete sich Naomi, die mir ihren neuen Freund vorstellen wollte. Erst glaubte ich, meine schöne, unberechenbare Tochter hätte ihre Drohung wahr gemacht und sich nun doch die Tibetdogge gekauft, gegen die ich stets opponiert hatte. Dieses Tier, das im Schatten des Himalaya selbst Yaks und Yeti in Schach hält, ist wegen seines besonders mürrischen Wesens berüchtigt. Aber das Geschöpf, das da auf dem Teppich vor der abgewetzten De Sede-Couch alle Viere von sich streckte, konnte schon wegen seiner aufdringlichen Verspieltheit keine Tibetdogge sein. Außerdem trug es ein T-Shirt mit dem Porträt von Ginger Baker auf der Brust, an dem Liesa, die auf dem Bauch des Wesens Platz genommen hatte, neugierig zerrte. Und das lange Haar verdeckte Naomis Gesicht, als sie sich vorbeugte, um das Wesen zu kraulen. Mir schien fast, dass Gudrun neben ihr sich ebenfalls mit dem Kerl beschäftigte. Nachdem sich unser Gast sicher war, dass ich mich kaum an den allgemeinen Liebkosungen beteiligen würde, tastete er nach seiner Brille neben dem Teppich. Der an sich durchdringende Sopran Joan Baez´ auf unserer Weihnachtsplatte wurde von Mikes testesterongeschwängertem Bass, der es mit einer ganzen Lautsprecherbatterie aufnehmen konnte, zum Verschwinden gebracht. Während ich noch meine Chancen abschätzte, den Kerl hinauszuwerfen, sagte er, dass ihm Naomi von meinem kleinen Computerproblem erzählt hätte und er es sofort lösen könnte. Wenigstens erkundigte sich Mike nicht nach Alex. Begleitet wurde das von einem Lächeln, von dem unklar blieb, ob es nur breit, oder auch drohend war. Während Naomi und ich im Wohnzimmer den großen Christbaum und dann im Vorhaus das Bäumchen für Minka, die Katze aufputzten, schaute ich zwischendurch ins Studio, wo der Kerl mit unterschlagenen Beinen auf meinem Wippstuhl hockte und sich am Anti-Virus-Scan zu schaffen machte. Minkas Geschenke bestanden auf Wunsch Liesas aus Trockenfutter und Wursträdern, die, in Baldrian getaucht, mit Baumwollfäden an die Zweige gebunden wurden. Der Falter hatte zwar wieder Position gewechselt, stellte sich aber ansonsten tot. Als wir später im Geschenkrausch das Seidenpapier von den Paketen fetzten und die Kerzen ausbliesen, waren im Vorhaus plötzlich Geräusche und ein heftiges Miauen zu hören. In ihrer Gier hatte Minka so heftig an ihren Naschereien gezerrt, dass das Bäumchen kippte. Der Katze hingen die weißen Baumwollfäden aus dem Maul, an denen ihre baldriangetränkten Naschereien befestigt gewesen waren, während sie den Falter fixierte, der sich ausgerechnet in dieser Stillen Nacht ihr gegenüber outete. Und nun hechtete sie nach dem Tagpfauenauge, das vor ihrer rosa Nase herumtanzte. Der Falter gewann flatternd an Höhe, während Minka, die Baumwollfäden hinter sich herziehend, fruchtlose Pirouetten nach ihm sprang und gleichzeitig mit den Tatzen nach den Fäden schlug. Liesa krähte vor Vergnügen, Weihnachten war gerettet. Schließlich landete das Tagpfauenauge ganz oben auf den Kasten in Sicherheit. Die Kastenwände waren, wie eine Reihe alter Kratzspuren zeigte, viel zu glatt, als dass Minka hinauf gelangen konnte.
„Ob er es schafft?“, fragte ich, „schließlich ist erst der 24.
„Stellen Sie ihm was zu trinken hinauf. Er hat gute Chancen, wenn er nicht austrocknet“, sagte Mike.

WILHELM HENGSTLER ist Filmregisseur und Autor, ausgezeichnet mit dem Manuskripte-Preis 2004. Er lebt in Judendorf/Strassengel bei Graz.

Verfasser/in:
Von Wilhelm Hengstler
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