11/02/2007
11/02/2007

sonntag 163

From outer space?
Architektur und Gender Studies. Neue Perspektiven auf eine alte Disziplin

Ein Beitrag von Barbara Zibell (*) zum Thema Gender Studies.

Architektur(-theorie) 'from outer space' zu betrachten, wie es sich diese Ausgabe des „Wolkenkuckucksheim“ zum Thema gemacht hat, erscheint als interessante Herausforderung. Dabei nehmen die Gender Studies – gegenüber den anderen hier aufgeforderten Perspektiven – jedoch eine Sonderstellung ein: Gender Studies bzw. Geschlechterforschung ist per se eine Querschnittsthematik, die im Prinzip selbstverständlich in die Architektur wie in jede andere wissenschaftliche Disziplin gehört – sei dies die Soziologie, die Geschichte, die Geographie oder die Philosophie. Gender Studies gehören jedoch zu den jüngeren Forschungsperspektiven, die erst mit der – durch die Neue Frauenbewegung ausgelöste – Feminisierung der Wissenschaften seit den 1970er Jahren begonnen haben, andere Perspektiven einzunehmen, andere Fragen aufzuwerfen, andere Schwerpunkte zu setzen, andere Zusammenhänge herzustellen und diese nun nach und nach zu dokumentieren und empirisch zu untermauern. Insofern ist deren selbstverständliche Präsenz auch in der Architektur bisher kaum gegeben, auch wenn es mittlerweile eine Fülle an Projekten und theoretischen Ansätzen gibt, die in der Regel von Fachfrauen, seltener -männern, vertreten werden, nicht nur von Architektinnen, sondern gerade auch 'from outer space'.

Gender Studies in der Architektur: Beitrag zu einem Perspektivenwechsel

Was versteht man eigentlich unter Gender Studies? Die Gender Studies entwickelten sich um 1970 aus den Women's Studies, die seinerzeit an einigen US-amerikanischen Universitäten als Studienfach aufgenommen wurden. Die Women's Studies beschäftigten sich mit der wissenschaftlichen Betrachtung der Situation von Frauen in einer von Männern dominierten Gesellschaft, und zwar aus einer feministischen Perspektive, das heißt mit dem Ziel einer Veränderung der Geschlechterverhältnisse. Wissenschaft war bis dahin - auch wenn es um Frauen ging - von Männern betrieben worden; entsprechend einseitig waren die Ergebnisse. Die Objektivität der Wissenschaft wurde mit den Women's Studies in Frage gestellt. Neu wurde die weibliche Erfahrung sozialer und kultureller Realitäten zum Gegenstand wissenschaftlicher Erkenntnis gemacht. Mit der Einnahme einer "frauenzentrierten" Sichtweise (Begriff nach Lerner, 1984) sollten die Diskrepanzen zwischen der männlichen Sicht auf Frauen und der von Frauen selbst erfahrenen Lebenswirklichkeit aufgedeckt und erörtert und die männlich dominierten Theorien revidiert werden. Damit sollte einerseits gezeigt werden, dass Männer und Frauen gleich bzw. gleichwertig und damit gleichberechtigt seien, andererseits wurde daran festgehalten, dass es eine eigene "Frauenkultur" gäbe. In der Unvereinbarkeit dieser beiden Ansätze stießen die Women's Studies an ihre Grenzen. Aus diesem Dilemma entwickelten sich seit 1975 die Gender Studies, die den Unterschied von biologischem (sex) und sozio-kulturell überformtem Geschlecht (gender) untersuchten und das Verhältnis der Geschlechter in Abhängigkeit vom jeweiligen historischen und gesellschaftlichen Kontext in den Fokus rückten. Auch im deutschsprachigen Raum entwickelte sich die Geschlechterforschung als eigene Disziplin.

Die Geschlechterforschung zeichnet sich durch die Anwendung unterschiedlicher wissenschaftlicher und analytischer Methoden aus, die je nach Forschungsobjekt variieren und die Subjektivität bzw. die Abhängigkeit der Forschungsinhalte, -methoden und -ergebnisse vom forschenden Subjekt thematisieren. Sie integriert verschiedene separate Diskurse: zum einen radikal-feministische oder konstruktivistisch orientierte, die eher auf der theoretischen Ebene geführt werden, zum anderen unmittelbar anwendungsbezogene Ansätze, die Grundlagen liefern sollen für das konkrete Handeln in der Praxis. Die Berücksichtigung der Geschlechtsrollen in der wissenschaftlichen Forschung stellt eine Form der Wissenschaftskritik dar, die Anwendungsorientierung führt zu konkreten politischen Forderungen, die an die betreffenden AkteurInnen gerichtet werden. Letzteres spielt gerade in der hier betrachteten Disziplin, der Architektur, eine gewichtige Rolle.

Gender Studies in Architektur und Planung

In der Architektur wie auch in der (Stadt- bzw. Raum-) Planung lag der Schwerpunkt - im Sinne der konzeptionellen Orientierung dieser entwurfs- und gestaltungsbezogenen Disziplinen – zunächst auf den praktischen, unmittelbar handlungsorientierten Ansätzen. Eine feministisch gegründete bzw. die Geschlechterverhältnisse berücksichtigende und kritisch hinterfragende Architekturtheorie wurde dabei eher vernachlässigt, zumindest wenig explizit verfolgt. Eine Ausnahme bilden hier – zumindest für den deutschsprachigen Raum – insbesondere die Arbeiten von Kerstin Dörhöfer, eine der ersten Architektinnnen, die auf eine Professur berufen wurde und die seit Beginn der 1980er Jahre – häufig in Zusammenarbeit mit der Soziologin Ulla Terlinden – kontinuierlich zu einer entsprechenden theoretischen Fundierung und Positionierung beigetragen hat (1985, 1990, 1998).

Angesichts der stark männlich geprägten und dominierten Architekturdisziplin wurden die Forschungen in Architektur und Planung insbesondere aus der Perspektive der Women's Studies bzw. Frauenforschung vorgenommen. Dabei ging es um die Kritik an den bestehenden Bau- und Raumstrukturen, zunächst bezogen auf Wohnung und Wohnumfeld (Warhaftig 1985; Zibell 1983), in der Folge auch auf die öffentlichen Räume der Stadt (Greiwe/Wirtz 1986) und schließlich auf regionale Siedlungsräume (Bock u. a. 1993) und Planungsprozesse (Grüger 2000), die im Hinblick auf die Bedürfnisse und die Präsenz von Frauen untersucht wurden, regelmäßig mit dem Ziel der unmittelbaren Anwendung bzw. der Umsetzung vor Ort. Auf der Grundlage der ersten zum Teil empirisch gestützten, zum Teil von Selbsterfahrung geprägten Untersuchungen wurden Konzepte und Projekte entwickelt, aber auch Netzwerke gebildet und Strategien entworfen. Wichtige Beiträge zur theoretischen Fundierung dieser eher planungs- und prozessbezogenen, politisch motivierten Ansätze stammen von Ruth Becker (1997), einer Volkswirtin mit Schwerpunkt Wohnungswirtschaft, zum Teil auch von Marianne Rodenstein (1994), einer Soziologin mit Bezug zur Stadt- und Regionalplanung, also 'from outer space'.

Die Einnahme einer ausdrücklichen Gender Perspektive hielt in Architektur und Planung erst in den 1990er Jahren Einzug; Vorreiterinnen waren hier die Bearbeiterinnen eines Forschungsprojektes des Bundes zum Thema 'Frauengerechte Stadtplanung', bei dem erstmals ausdrücklich eine 'gender-sensitive' Sichtweise eingenommen wurde (BMBau 1996). Hier geht es nicht mehr um eine Polarisierung der vermeintlichen Lebenswelten von Frauen und Männern, sondern um eine differenziertere Betrachtung unterschiedlichster Alltagsmuster und Lebenszusammenhänge. Anlass für diesen Perspektivenwechsel war insbesondere das Leitbild der nachhaltigen Entwicklung, das in Folge der Rio-Konferenz von 1992 weltweit eingeführt wurde und im Rahmen der gesellschaftlichen Dimension der Nachhaltigkeit zum Diskurs über die Bedeutung der Geschlechtergerechtigkeit auch in Architektur und Planung führte (vgl. SRL 1998). Die Einführung der Gender-Mainstreaming-Strategie zum Ende der 1990er Jahre hat zu einer Verstärkung dieses Perspektivenwechsels beigetragen.

Welches sind nun die Erkenntnisse, zu denen Frauenforschung und Gender Studies in Architektur und Planung beigetragen haben?

1. Planen und Entwerfen / Bauen sind nicht geschlechtsneutral

Es spielt eine Rolle, wer plant und entwirft, baut und entscheidet: Alltagserfahrungen und persönliche Geschichte prägen Maßstäbe und Zielsetzungen, auch beim Planen und Entwerfen.
So kann man feststellen, dass – als Frauen begannen, sich in die Architektur einzumischen – sie typischerweise Themenfelder besetzten, die ihrem Lebensalltag entsprangen: Wohnungsbau und soziale Infrastruktur, Küche und Hausarbeit. Das zeigen sowohl die Beispiele der utopischen Feministinnen auf dem amerikanischen Kontinent des 19. Jahrhunderts als auch die Projekte der ersten Architektinnen der Moderne im Europa des frühen 20. Jahrhunderts. Die sog. "utopischen Feministinnen" waren übrigens selten selbst Architektinnen, sondern zum Beispiel Pädagoginnen wie Marie Stevens Howland oder Sozialtheoretikerinnen wie Melusina Fay Pierce, die Erfinderin des Cooperative Housekeeping und der küchenlosen Häuser, oder politisch motivierte Feministinnen wie Charlotte Perkins Gilman, Erfinderin einer kollektiv organisierten Hauswirtschaftsindustrie und Autorin von 'Herland' (1915), der Utopie einer reinen Frauengesellschaften. Alice Constance Austin schließlich, eine Radikale aus der Oberschicht von Sta. Barbara, entwickelte eine ganze Stadt in Kalifornien, die mit ihren unterirdischen Transportsystemen einer umfassenden Ver- und Entsorgungsindustrie für einmal die Anforderungen der Hausarbeit zur Grundlage der Stadtentwicklung machte (vgl. hierzu: Hayden 1982). Daneben nehmen sich die Architektinnen der europäischen Moderne – wie zum Beispiel Grete Schütte-Lihotzky (1897-1998) mit ihren Beiträgen zur Entwicklung der modernen Einbauküche oder auch Lilly Reich (1885-1947) mit ihren Entwürfen für Möbel wie platzsparende Kochschränke oder für Boarding Houses – recht bescheiden aus. Dennoch haben all diese Frauen nachweislich auf den Gebieten, in denen sie als "Hausarbeiterinnen" qua Geschlecht sozusagen professionell tätig waren, jeweils eindrückliche und innovative Leistungen vollbracht.
Der durchschnittliche Planer / Architekt ist jedoch bis heute männlich, gut situiert, gesund, in den besten Jahren und hat in aller Regel einen entsorgten Alltag – entweder durch eine Ehefrau oder Lebenspartnerin, die ihm "den Rücken freihält" oder wie Statistiken bis heute belegen den Löwenanteil der Hausarbeit übernimmt, oder durch den Einkauf bzw. Zukauf entsprechender Dienstleistungen wie Reinigung, Putzhilfe, Gastronomie etc., die Frauen – auch als Singles und insbesondere als Alleinerziehende – aufgrund ihrer durchschnittlich schlechteren Einkommenssituation ungleich weniger zur Verfügung stehen. Blinde Flecken in Architektur und Planung sind vorprogrammiert (gender blindness); Bedürfnisse an Architektur und Stadt, die sich aus den Anforderungen der Haus- und Versorgungsarbeit ergeben, spielen regelmäßig eine untergeordnete Rolle gegenüber den Anforderungen von Wirtschaft und Erwerbsarbeit (vgl. Bock u. a. 1993; Dörhöfer / Terlinden 1998).

2. Der Lebensalltag prägt die Bedürfnisse bzw. die Anforderungen an den Raum: Bedarfslagen sind zu differenzieren, nicht zu standardisieren

Frauen und Männer, Familien und Singles oder Dinkies (kinderlose Doppelverdiener, Anm. d. Red.), gesunde und kranke oder behinderte Menschen, Alte und Junge sowie Menschen verschiedener sozialer und kultureller Herkunft stellen aufgrund unterschiedlicher Alltagserfahrungen andere Anforderungen an Raum- und Siedlungsstrukturen. So ist die Wohnung für Frauen zum Beispiel traditionell der primäre Arbeitsplatz, egal ob sie berufstätig sind oder nicht, ob sie Kinder haben oder allein leben. Auch für Kinder, die ihre Schulaufgaben erledigen, oder für alte und betagte Menschen, ist die Wohnung zentraler Lebensraum, in dem sie nicht nur schlafen und sich pausenlos erholen, sondern wo sie sich versorgen und auf vielfältige Weise tätig sind. In der Wohnsoziologie wird Wohnen jedoch immer noch unreflektiert überwiegend aus einer androzentrischen Perspektive betrachtet und in erster Linie als Ort der Ruhe, Muße und Erholung definiert (vgl. z. B. Häußermann / Siebel, 1996: 15). Dies gilt sicher für das klassische Modell des berufstätigen Familienvaters, der abends nach einem anstrengenden Arbeitstag nach Hause kommt und vor allem ausspannen möchte, aber auch für gesunde und aktive Singles und Dinkies, die nach dem Arbeitstag noch ins Fitnessstudio gehen, ins Restaurant oder Kino und Konzert und für die die Wohnung allenfalls Ausgangs- und Endpunkt ihrer täglichen Aktivitäten oder auch mehrtägiger berufsbedingter Abwesenheiten darstellt. Dennoch sind hier weniger kleine Wohnungen und Appartements gefragt, sondern vielfach gerade besonders großzügige, loftartige Wohnformen. Mit zunehmendem Wohlstand dient die Wohnung zunehmend auch der Lagerung für allerlei Sport- und Freizeitgerät; hierfür braucht es ausreichend Platz und Stauraum, wenn nicht in Keller oder Garage, dann in entsprechenden Nebengelassen innerhalb der Wohnung. Daneben nehmen angesichts der Tendenzen der Flexibilisierung in der Arbeitswelt und der Möglichkeiten der Informations- und Kommunikationstechnologien neue Formen der Heim- und Hausarbeit für verschiedene Büro- und Beratungsberufe zu.
Standardisierung war jedoch – insbesondere in den 1950er und 1960er Jahren, der Hochkonjunktur des Sozialen Wohnungsbaus – sehr verbreitet. Die Konsequenz ist, dass wir es heute mit recht einseitigen Wohnungsbeständen von Klein- und Normalwohnungen – noch dazu polarisiert in Geschosswohnungsbau und Einfamilienhaus – zu tun haben, die einem Umbau für die aktuelle Vielfalt an Haushalts- und Lebensformen gegenüberstehen und sich mehr oder weniger für eine bedarfsgerechte Anpassung eignen. Zur Klärung, inwieweit die alters-, geschlechts- oder milieuspezifischen Bedarfslagen sich hier unterscheiden, inwieweit Wohnbedürfnisse und Wohnrealitäten zur Deckung gebracht werden können etc., ist die Einnahme der Gender Perspektive eine zentrale Grundlage und führt zu den erforderlichen Differenzierungen, die der Gesellschaft im demographischen Wandel entsprechen. Das genaue Betrachten und Analysieren der jeweiligen örtlichen Situation, die heute auch kleinräumig, d.h. zwischen Stadtteilen und Landkreisen bzw. Ortslagen, stark variieren, ist ein zentrales Prinzip der Gender Studies in Architektur und räumlicher Planung.

3. Es bedarf nicht nur differenzierterer Projekte, sondern auch veränderter Strukturen und Prozesse

Im Rahmen der Frauenforschung sind einige dieser anderen Bedarfslagen aufgearbeitet worden, jedoch wenig systematisch und zu wenig empirisch gestützt. Es gibt einige Pilot- und Modellprojekte, zum Beispiel aus den letzten beiden Internationalen Bauausstellungen Berlin und Emscher Park (dokumentiert u. a. in: IBA Emscher Park 1991), aber auch aus der Initiative selbst organisierter Gruppierungen heraus, die die Anforderungen unterschiedlicher Ziel- bzw. Anspruchsgruppen berücksichtigen. Dazu gehören die im Zuge der Weltausstellung EXPO 2000 anerkannten dezentralen Projekte Beginenhof Bremen und Mütterzentrum Salzgitter oder der Brahmshof in Zürich und das Projekt des Vereins 'Stadt und Frau' im Freiburger Rieselfeld. Auch Aktivitäten einzelner Stadtverwaltungen, wie Wien mit der FrauenWerkStadt, mit ca. 360 WE dem größten FrauenWohnungsbauprojekt Europas, oder München mit dem Konzept der sozialgerechten Bodennutzung, haben hier beachtliche Erfolge erzielt. Viele dieser Projekte sind auch dokumentiert und publiziert (Schröder / Zibell 2004), das heißt: Sie stehen der interessierten Fachöffentlichkeit zur Verfügung. Und nicht zuletzt wurden – häufig auf Initiative der Frauen- und Gleichstellungsbeauftragten in den Verwaltungen – Kriterienkataloge für Wohnungsbau und Stadtplanung von diversen Städten und Gemeinden, zum Teil auch Bundesländern bzw. Ministerien herausgegeben, die die Anforderungen an die Gestaltung von Wohnung und Wohnumfeld, die Ausstattung der Stadtteile mit sozialer Infrastruktur, Grün-, Frei- und Spielflächen und die Mobilitäts- und Sicherheitsanforderungen von Frauen im öffentlichen Raum konkretisieren sowie „eigene“ Beteiligungsformen entwickelt haben. Darüber hinaus enthalten einige dieser Kriterienkataloge auch Vereinbarungen zu Auftragsvergaben, Leistungs- und Wettbewerbsausschreibungen, Preisgerichtsbesetzungen sowie Forderungen an die Datenerhebung (vgl. Grüger / Zibell, 2005). Das hat bisher jedoch nicht zu einer standardisierten Berücksichtigung von Frauenbelangen in Architektur und Planung bzw. einem durchgehend gender-sensitiven Bewusstsein in Planungsbüros und öffentlichen Verwaltungen geführt.
Dies konnte kürzlich auch im Rahmen einer Erhebung von Gender Practices in Europa, Schwerpunkt deutschsprachiger Raum, konstatiert werden (Zibell 2005). Mit der Aufbereitung der anderen Wissensbestände allein ist es nicht getan. Vielmehr bedarf es für deren Umsetzung eines entsprechenden politischen Willens und veränderter Strukturen und Prozesse, um die anderen Anliegen ungefiltert und kompetent in Planungs- und Bauvorhaben einzubringen, zum Beispiel durch maßgeschneiderte Partizipationsprozesse, aber auch durch die paritätische Beteiligung von Fachfrauen. So lange in den Büros und Verwaltungen nicht ein entsprechender Anteil vertreten ist, müssten daher Ersatzregeln für den externen Einbezug von Gender Kompetenz und Gender Expertise sorgen. Gender Musterbezirke wie in der Stadt Wien und Modellvorhaben wie die des Bundesamtes für Bauwesen und Raumordnung (Gender Mainstreaming im Städtebau 2003-2005) oder der Region Rheinpfalz (Region auf Genderkurs, seit 2005) und das abgeschlossene Schweizer Projekt "Frau am Bau" (Verein FRAU AM BAU 2003) zeigen, dass für die Implementation des durch Gender Studies erzeugten Wissens in die bestehenden Bau- und Planungsstrukturen gesonderte Anstrengungen erforderlich sind und dass die Erzeugung und Dokumentation theoretischer Grundlagen ohne die Anwendung und Umsetzung in der Praxis – gerade in einer Disziplin wie der Architektur, die auf Raumgestaltung orientiert ist – nicht ausreicht. Gleichwohl bedarf es einer ausreichenden theoretischen Fundierung zur Begründung und als Argumentationshilfe für die politischen und fachlichen Aushandlungsprozesse.

Ein erweiterter Architekturbegriff

Es sollte deutlich geworden sein, dass Frauenforschung und Gender Studies von einem erweiterten Architekturbegriff ausgehen. Architektur ist hier regelmäßig mehr als die Crème de la Crème der gebauten Umwelt, in einschlägigen Fachzeitschriften publiziert und von Architekturtheoretikern wie Colin Rowe und Fred Koetter: „Architektur verhält sich zum Bauen wie Literatur zur Sprache“ (Rowe / Koetter 1984), oder Benedikt Loderer: „Architektur macht aus bloßer Bauerei Baukunst“ und bloße Bauerei mache 90 % der Bauten aus (Loderer 2001) als das Besondere hervorgehoben, das das alltägliche Bauen ausschließt. Mit Loderers Statistik wären gerade 10 % des gebauten Raumes "Architektur", der große Rest irgendetwas anderes, auf den der Architekturbegriff zumindest nicht anzuwenden wäre. Würde das gleichzeitig bedeuten, dass ArchitektInnen sich hierfür nicht zuständig fühlen müssten? Gerade wenn – wie Susanne Hauser es in der letzten Ausgabe des Wolkenkuckucksheim (2/04) zutreffend beschreibt – "... die Menge an Bauwerken, die ohne professionalisierte Architektur auskommen, ... zu(nimmt)", sollte es – sowohl für die Architekturtheorie wie für praktizierende ArchitektInnen - eine Aufforderung sein, sich der gesellschaftlichen und ästhetischen Verantwortung für den Siedlungsraum zu stellen, anstatt sich dieser zu entziehen.

Architektur aus Sicht der Gender Perspektive nimmt grundsätzlich einen weiteren Blick ein: Für sie gehört die Gesamtheit der baulichen Bestände, des gebauten Raumes – vom einzelnen Gebäude bis zur Siedlungslandschaft – dazu; damit bezieht sie auch die regionale bzw. überörtliche Perspektive zwischenstädtischer Lebensräume ein. Sie bewertet das Gebaute nicht nur in seiner ästhetischen Erscheinung, sondern grundsätzlich in seiner Qualität für den täglichen Gebrauch (Alltagstauglichkeit, Gebrauchswert) – und dieser erschöpft sich nicht nur in einer qualitätvollen Architektur des einzelnen Objektes, sondern ist auch eine Frage von städtebaulichen Kontexten, von Standorten und Erreichbarkeiten. Architektur ist die "bauliche Gestaltung der menschlichen Umwelt" (Hauser 2/04) und begnügt sich nicht mit dem Symbolwert für nationale und internationale Imagekampagnen und Konkurrenzen, sondern legt Wert auf den Identifikations- und Aneignungswert für Nutzer- und BewohnerInnen. Ganz im Sinne einer kritischen Architektur ist sie nicht nur Baukunst, sondern auch Medium sozialer Prozesse (Haug u. a. 1994). Architektur aus der Gender Perspektive bezieht nicht zuletzt auch die Produktionsprozesse von Bauten und Stadtteilen ein – wer ist beteiligt, wer entscheidet usw. (Zibell 2000). Architektur aus Gender Sicht erschöpft sich also nicht im fertigen Gebäude und schon gar nicht in besonderen Vorzeigeprojekten, auch wenn die für die Weiterentwicklung der Profession von großer Bedeutung sind, sondern erstreckt sich auch auf den städtebaulichen Kontext, auf die räumliche Umwelt der Bewohner- und BenutzerInnen von Bauwerken aller Art sowie auf die Prozesse und Strukturen bzw. die Organisationen und Institutionen, in denen Entscheidungen über die Entwicklung und Veränderung des gebauten Raumes vorbereitet und getroffen werden.

Gender Studies in der Architektur: Forschungsperspektiven

Architekturgeschichte und -theorie sind weitestgehend männlich bzw. androzentrisch konnotiert und dokumentiert, ebenso wie die zugehörige Ideengeschichte und die Ziel- und Leitvorstellungen in Architektur, Städtebau und Planung. Das gilt sowohl für die Autoren wie für die beschriebenen Akteure und deren Frauenforschung und Gender Studies haben neue Betrachtungsweisen in Architektur und Planung gebracht und zu einem Perspektivenwechsel beigetragen, der jedoch vom Mainstream der Profession (noch) nicht aufgenommen wurde. Gleichwohl gehören einzelne Aspekte – wie Flexibilität und Nutzungsneutralität bei der Grundrissgestaltung im Wohnungsbau oder die Stadt bzw. Region der kurzen Wege in der räumlichen Planung – mittlerweile zum Standardrepertoire von Leitbildern und Konzepten.
Aufgrund der vornehmlichen Anwendungsorientierung der raumgestaltenden Disziplinen sind dies jedoch insbesondere Aspekte, die den praktizierenden Teil der Profession betreffen – in der Theorie ist die Integration noch wenig vollzogen. Frauenforschung und Gender Studies bilden immer noch Nischen bzw. eigene Kulturen in den Disziplinen zwischen Architektur und Planung und werden erst nach und nach, jedoch sehr punktuell in die vorhandenen androzentrischen Wissenbestände aufgenommen (z. B. Häußermann / Siebel 1996; IProS o. J.). Dazu kommt, dass Architektur und Planung interdisziplinäre Themen- und Handlungsfelder darstellen, die viele Wissensbestände berühren, die primär anderen Disziplinen zuzuordnen sind. Und entsprechend der Querschnittsorientierung der Gender Studies sind auch die aus dieser Perspektive entwickelten Theorieansätze meist interdisziplinär und häufig 'from outer space' entwickelt.

Forschungen, die das originäre Wissen einer eigenständigen Architektur- bzw. Planungsgeschichte und -theorie betreffen, fehlen bereits im Mainstream der Professionen in voller Breite. Und solche aus Sicht der Gender Studies, die in der Lage wären, dieses zu ergänzen, sind aus den genannten Gründen ebenfalls selten.
So stellt zum Beispiel die Aufbereitung der Materialien über die erwähnten utopischen Feministinnen durch die amerikanische Historikerin Dolores Hayden (1982) eine unschätzbare Quelle dar, die erst seit jüngster Zeit die vorhandenen Wissensbestände der dokumentierten Architektur- und Städtebaugeschichte bereichert. Oder die wenig bekannte Schrift der Gräfin Dohna-Pohninska, die bereits Jahrzehnte vor den in jüngster Zeit mehrfach reprinteten und als erste Städtebautheoretiker bekannten Autoren des ausgehenden 19. Jahrhunderts – Camillo Sitte, Joseph Stübben und Reinhard Baumeister – unter dem Pseudonym Arminius in Berlin erschienen war und weitreichende Grundlagen zur Freiflächenplanung in der Stadtentwicklung aus Sicht der Stadthygiene zusammengetragen hatte und die vor einigen Jahren im Zuge der Frauenforschung wieder entdeckt wurde (vgl. Buchmüller 1995).
Die Beiträge, die die Architekturprofessorin Kerstin Dörhöfer zur Theoriebildung beitrug, wurden bereits erwähnt. Sie beziehen sich auf die Kritik der modernen Architektur und ihrer Autoren sowie auf männlich geprägte Maßstäbe in der Architektur, von Vitruv über da Vinci bis hin zu Le Corbusier und Ernst Neufert, und deren Einflüsse auf die Bauentwurfslehre. Diese von ihr seit Beginn der 1980er Jahre vertretene und mehrfach publizierte Position wurde 1999 erneut bestätigt mit ihrem Beitrag über den männlichen Blick in der Bauentwurfslehre in einem von Walter Prigge herausgegebenen Band über Ernst Neufert, ein Indikator dafür, dass genderdifferenzierte Positionen sich mittlerweile auch außerhalb des engeren Kreises feministisch gesinnter Fachfrauen Gehör verschaffen. In einem längerfristig angelegten, mehrstufigen Forschungsprojekt bearbeitet sie seit einigen Jahren systematisch den Beitrag von Architektinnen in der Bau- und Entwurfsgeschichte; der erste Band dieses Vorhabens ist bereits erschienen (Dörhöfer 2004).

Daneben gibt es im weiten Feld der Architektur viele Theorieansätze – zum Beispiel im Bezug auf Raum und Wohnen (Löw 1994), Stadtentwicklung und Verkehr (Bauhardt 1995), Geschlechterverhältnis und Planung (Demmel u. a. 1998), Raum und Raumwissenschaft (Sturm 2000), Nutzung und Aneignung öffentlicher Stadträume (Paravicini 2003), Raum und Emanzipation (Bauhardt 2004) oder zur historischen Aufarbeitung der Beziehung von Stadt und Geschlecht (Frank 2003), die die erwähnten Verknüpfungen zu anderen Disziplinen aufweisen. Diese repräsentieren zum einen die Vielfalt möglicher Zugänge zum Raum, vielfach from outer space, aus Sicht der Soziologie, Politologie oder der Ethnologie, beschränken sich zum anderen aber häufig auf analytische Einzelthemen oder Fragen der Prozessgestaltung, insbesondere im Rahmen der Stadtplanung.
Es fehlt jedoch insgesamt an systematisiertem Grundlagenwissen, zum Beispiel über Bauformen und Nutzungsverhalten, Lebensformen und Wohnweisen, Raumbedürfnisse und Aneignungsprozesse, Planungs- und Entscheidungsverfahren sowie über die Präsenz und die Gestaltungsmacht von Frauen und Männern in den verschiedenen beruflichen Einsatzbereichen zwischen Bau- und Immobilienwirtschaft, privaten Büros und öffentlicher Verwaltung, Consulting und Entwicklung, Moderation und Management, Forschung und Lehre.
Darüber hinaus fehlen geschlechterdifferenzierte Datengrundlagen in vielen Bereichen als Grundlage für empirische Forschungen sowie themenspezifische Fallstudien, die für unterschiedliche regionale und soziale Lagen durchzuführen und in regelmäßigen Abständen zu wiederholen wären, um sie im Quervergleich synchronisch wie diachronisch auswerten bzw. im Hinblick auf Möglichkeiten und Grenzen der Übertragbarkeit reflektieren zu können. Gerade in Architektur und Planung scheinen empirische Forschungsergebnisse immer wieder in besonderem Maße auf Verifizierung angewiesen, da sie aufgrund der Komplexität und der historischen wie geographischen Einmaligkeit baulich- und sozialräumlicher Ausgangslagen und Potentiale menschlicher Systeme in ihrer Übertragbarkeit begrenzt sind.

Zu den Forschungsdesideraten in der Architektur im weitesten Sinne gehören:

_ die genderdifferenzierte Aufarbeitung von Wissen – und zwar von originärem Grundlagenwissen der Profession, zum Beispiel über Bauherrinnen in der Geschichte wie die Beginen im Mittelalter, genauso wie von themenspezifischem Wissen zur unmittelbaren Handlungsorientierung, zum Beispiel über milieuspezifische Nachfrage im Wohnungsbau;
dabei geht es sowohl um die Aufarbeitung der Wissenbestände ausgeblendeter weiblicher Wirklichkeiten als auch um die genderdifferenzierte Erhebung von neuem Wissen;

_ die genderdifferenzierte Bewertung gebauter Bestände und Strukturen – dies auf der Basis eines systematisch erhobenen und dokumentierten sowie theoretisch reflektierten Grundlagenwissens sowie als Grundlage für die Bewältigung künftiger Bau- und Planungsaufgaben;

_ das genderdifferenzierte Hinterfragen von Leitbildern und Konzepten – so wie die nachhaltige Entwicklung zumindest zu Diskursen über die soziale Gerechtigkeit angeregt hat, wäre dies auch für andere Leitbilder, zum Beispiel das der europäischen Stadt oder der sozialen Stadt, geboten. Gerade die europäische Stadt ist aufgrund ihrer historischen Verankerung stark männlich konnotiert und diskutiert. Auch hier wäre ein Ansatzpunkt für Gender Studies, die Rolle der Frauen und deren baulich-räumliche Repräsentation in unterschiedlichen historischen Phasen sowie als Grundlage für künftige Bau- und Planungsprozesse zeitgeschichtlich aufzuarbeiten.

Dass dies ein Programm ist, mit dem mehrere Generationen von Fachleuten beschäftigt werden könnten, liegt auf der Hand. Dazu kommt, dass gerade in einer Gesellschaft im demographischen Wandel mit ihren Erscheinungen von Schrumpfung und Alterung, Individualisierung und Pluralisierung neues und kleinräumig differenziertes Wissen gebraucht wird.

Wissen zu generieren, auch und gerade unabhängig von unmittelbaren Anwendungszwängen, ist traditionelle Aufgabe der Hochschulen; diese stellt sich

_ zum einen angesichts der zunehmenden Informationsflut im Internetzeitalter,
_ zum anderen aufgrund der neuen Anforderungen der Arbeitswelt auf dem Weg in die Wissensgesellschaft

derzeit als eine besondere Herausforderung dar, der durch Abbau von Grundlagenfächern und Theorielehrstühlen und durch unternehmensorientierte Forschungsförderungen kaum wirksam zu begegnen ist, sondern im Gegenteil durch deren Ausbau und Vermehrung und durch Unterstützung inter- und transdisziplinärer Forschungsnetzwerke und Kooperationen.

(*) Barbara Zibell (* 1955 in Großburgwedel) ist eine deutsche Stadt- und Regionalplanerin.
Sie lehrt im Fachbereich Architektur am Institut für Geschichte und Theorie der Universität Hannover. Von ihr stammen zahlreiche Publikationen zu Stadtentwicklung, Städtebau und Chaosforschung im Städtebau sowie Gender und Stadt.

Erstveröffentlichung des Artikels im Wolkenkuckucksheim - Cloud-Cuckoo-Land - Vozdushnyi zamok; Heft 1/05 / Internationale Zeitschrift für Theorie und Wissenschaft der Brandenburgische Technische Universität Cottbus - Lehrstuhl Theorie der Architektur.

Verfasser/in:
Barbara Zibell
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