25/03/2007
25/03/2007

sonnTAG 169

der noch nicht wach geküsste Karmeliterplatz in Graz, mit Blick in Richtung Pfauengarten im Süden. Gestaltung: Arch. DI Norbert Müller, Graz. Foto: el

Karmeliterplatz Graz mit Blick zum Grazer Schlossberg im Norden. Foto: el

...und täglich grüßt das Anlieferchaos: Hauptplatz Graz. Gestaltung: Arch. DI Markus Pernthaler, Graz. Foto: el

Hauptplatz Graz mit Blick in Richtung NO. Foto: el

Hauptplatz Graz mit Blick in Richtung Rathaus im Süden. Foto: el

Tatort Grazer Plätze - Die Kolonisation des öffentlichen Raumes durch die private Gastronomie, bzw. ein Wirtschaftsförderungsprogramm der besonderen Art.

Von Elisabeth Lechner

Beim Anbruch des modernen wissenschaftlichen Zeitalters unterwarf sich die Stadt einem neuen Leitbild des ´Körpers´ = des Körpers als Kreislaufmaschine, dessen Zentrum Herzpumpe und Lunge bildeten - und dieses wissenschaftliche Körperbild entwickelte sich dahin, die Macht des Individuums über die Ansprüche der Gemeinschaft zu rechtfertigen (aus `Fleisch und Stein, der Körper und die Stadt in der westlichen Zivilisation´ von Richard Sennet.

Tatort Karmeliterplatz:

Der Karmeliterplatz ist zwar neu gestaltet, aber die Gastronomie ist nicht begeistert, das erwartete Umsatzplus hat sich nicht eingestellt. (Zitat Kleine Zeitung, 12. Jänner, Stühlinger)
Grund dafür laut Gastronomie: der Platz wurde noch nicht wach geküsst! Es fehlt ein Konzept für die Belebung der sogenannten Oberstadt.

Rezept für PolitikerInnen, StadtplanerInnen und ArchitektInnen: wie küsst man einen Platz wach, wie belebt man ihn?
Man nehme ein Konzept (Rezept) der lokalen Gewerbetreibenden besser Gastronomen = Kreislaufmaschine maroder Innenstädte
Grundzutaten: so viele Events wie nur möglich, über das ganze Jahr verteilt, Backhilfsmittel, 50% Subvention durch öffentliche Hand, nach einem Jahr backen ist der Platz wach geküsst, die Gastro-Szene jubelt, die StadtbewohnerInnen fragt eh keiner.

Konkrete Rezeptvorschläge / Wachküsskonzepte für den Karmeliterplatz lt. Artikel in der Kleinen Zeitung der derzeit unzufriedenen Gastronomen:
Kabarettsommer mit populären Kabarettisten, Teil vom erforderlichen Budget muss noch beschafft werden.
Grazer Winterwelt: künstliche Rodelbahn (Vorbild das Big Air Snowboardspektakel), Langlaufloipe und Eislaufplatz werden Groß und Klein 6 Wochen lang erfreuen, Weihnachtsstandln gibt es selbstverständlich auch. 300.000 Euro soll der Spaß kosten, 50% müsse die öffentliche Hand zahlen, sagen die Gastronomen.

Was tun nun StadtbewohnerInnen, die diese Entwicklungen gar nicht erfreuen, nein ganz im Gegenteil krank machen, wohin können sie im nächsten Sommer oder Advent flüchten, wenn alle Plätze an krankmachender Eventitis leiden? Wer subventioniert ihnen den Ersatz für verloren gehenden, vielfältigen Stadtraum, den noch keiner wach geküsst hat, wo es noch Platz für Menschen gab, wo man nicht Platzbenützungsgebühr über einen Cafe Latte zahlen musste (apropos „Platz für Menschen“: dieses Konzept war GrazerInnen doch einmal von einem Politiker versprochen worden!). Niemand wird den einfachen StadtbewohnerInnen Ersatz bieten, denn sie sind ja nicht die Herzpumpe der Stadt, auch nicht die Kreislaufmaschine, der so genannte Wirtschaftsmotor, sie sind ja nur Steuer zahlende BewohnerInnen und selbst schuld, wenn sie sich an der größten Schanigartendichte Mitteleuropas nicht wirklich erfreuen können und auch nicht auf Kunstschnee rodeln oder Langlaufen wollen. Das Leben ist ein KonsumFreizeitSpektakel und die Stadt die Bühne dazu. Wer das nicht kapiert, hat bald keinen Platz mehr in dieser wachgeküssten, eventgeilen Gastro-Stadt. Die neuen Kolonisatoren haben das Sagen, die Politik schweigt bzw. tut mit, es bleibt nur die Hoffnung, dass sich auch Kolonien einmal befreit haben und Revolutionen grundsätzlich von der Straße ausgehen.

Wie ist das eigentlich mit dem Titel Kulturhauptstadt, oder sollte es Eventkulturhauptstadt heißen? Bei einem eventuellen Wettbewerb der Eventkulturhauptstädte hätte Graz gute Chancen.
Siehe Tatort Hauptplatz: fast keine Woche vergeht ohne ein Zelt auf dem Platz oder eine Veranstaltung. Am Vormittag muss man sich zwischen ladenden Autos, Standln und Menschen durchkämpfen, am Nachmittag gibt es vielleicht manchmal Platz zum Verweilen, mit jemandem zu reden. Damit soll aber auch bald Schluss sein. Die neue, jüngst kolportierte Idee: Schanigärten endlich auch am Hauptplatz (ein Schanigarten vom Cafe Sacher und ein weiterer Schanigarten um den Brunnen sind geplant).
Resultat: Hauptplatz zugehüttelt, zugekübelt, aber punkfrei.

Wie wäre es mit einer Umbenennung des Hauptplatzes in Sacherplatz, des Karmeliterplatzes in Sterncontinuumplatz und des Freiheitsplatzes in Fink’s place? Dafür übernehmen diese Namen gebenden Betriebe auch die Erhaltungs- und Wartungskosten und zahlen der Stadt eine ordentliche Platzpacht. Und Graz kann sich vielleicht mit dem zusätzlichen Budget einen neuen, öffentlichen Platz kaufen, am besten dort, wo keine Gastronomie ist.

Weiterer Vorschlag: Architektenwettbewerbe für Plätze sollten zukünftig gleich von den Hauptnutzern / Pächtern finanziert und ausgeschrieben werden. Damit ist die Aufgabenstellung für Architekten klar. Form follows function und nicht function follows form. Keiner wird sich mehr dem naiven Glauben hingeben, dass Plätze für alle da sein sollen, dass Platzgestaltung was mit Nutzungsstrukturen und Ästhetik zu tun hat. Plätze müssen den Umsatz der angrenzenden Gastronomie heben und dementsprechend sind sie zu gestalten.
Arch. DIin Elisabeth Lechner lebt als selbstständige Architektin in Graz.

Verfasser/in:
Elisabeth Lechner
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