01/04/2007
01/04/2007

sonnTAG 170

Buchumschlag von "Botenstoffe", Thomas Kling (DuMont, 2001)

Buchumschlag von "Auswertung der Flugdaten", Thomas Kling (DuMont, 2005)

Beschreibung von Buchumschlägen
zu Thomas Klings zweitem Todestag.

Von Wilhelm Hengstler

Der Lyriker Thomas Kling fiel mir auf, weil ich stets die auffallend guten Kritiken über seine Bücher in der „Zeit“, diesem Zentralorgan für orientierungslose Intellektuelle mitbekam. Aber als unverbesserlicher Prosaschreiber (und somit -leser), trieb es mich wenig, seine Gedichte auch zu lesen. Ganz abgesehen davon, dass ich – wenn schon Gedichte – als Möchtegern-Bildungsbürger eher etwas aus dem Kanon klassischer, moderner Lyrik vorgezogen hätte. Die Titel seiner Bücher - „Botenstoffe“, „Itinerar“, „Auswertung der Flugdaten“ oder „Mahlbezirk“ ¬- blieben mir allerdings - trotz einer weicher werdenden Birne - im Gedächtnis…
Kling ist am 1.4. 2005 an Lungenkrebs gestorben; zu lange her, um noch „in zu sein“, zu früh für die Patina des Klassikers. Ich schreibe noch am Anfang dieses Werbetextes, der Leser des GAT (vermutlich Architekten) dazu bringen soll, sich für diesen, mit 47 Jahren viel zu früh Verstorbenen, zu interessieren.

Wenn ihre Geschäfte einigermaßen laufen, sollten Sie sich mindestens eines der Bücher (am besten in der Grazer „Bücherstube“) von Thomas Kling kaufen. Ihre Lektüre wird schwierig sein und lange dauern. Dafür kann man das Buch getrost offen liegen lassen, ohne in den Geruch eines literarischen Adabeis (vormals „Snob“) zu gelangen. Mich selber bewegt das Verlangen nach einem Belegexemplar von Thomas Klings posthum erschienenen „Gesammelten Gedichten“, die immerhin 967 Seiten umfassen. Wären die 68 Euro, die der im DuMont Verlag erschienene Band kostet, für mich eine Bagatelle, würde ich davon Abstand nehmen, nach einer Entsprechung, etwa einer Homologie zwischen den ästhetischen Strategien Thomas Klings und der Arbeitsweise mancher Architekten zu suchen. Um ehrlich zu sein, ich weiß noch nicht, worauf meine Argumentation hinaus soll. Aber das ist nicht der schlechteste Grund dafür, einfach weiter zu schreiben. Jedenfalls bin ich mir einigermaßen sicher, dass sich zwischen Titeln wie „erprobung herzstärkender mittel“ (1986), „geschmacksverstärker“ (1989), „brennstabm“ (1991), „nacht.sicht.gerät“ (1993) oder „gelände.camouflage“ (1998) und der Architektur ein fruchtbares Verhältnis denken lassen muss.

Das nächste Mal bin ich auf Kling in einer Kiste der „Bücherstube“ gestoßen, in der meine Buchhändlerin Angelika Schimunek verbilligte Bücher deponiert: Die „Botenstoffe“. Und zwei Wochen später stieß ich in derselben Kiste auf die „Auswertung der Flugdaten“... zwei meiner gegenwärtigen Lieblingsbücher. Wie meist ist der Grund für die Liebe irrational und basiert zudem auf inkorrekter Rezeption. Auch Frauen schätzen es nicht, wenn man sie ihres Aussehens wegen liebt, statt sie „zu lesen“. Seit die ästhetisch-grafischen Hierarchien wie die übrigen „flach“ geworden sind, präsentieren sich sogar Bücher aus unterkapitalisierten Selbstverlagen in „edlem Design“. Das Edle ist zu einer Masche geworden, das Unverwechselbare wird dagegen als provinzieller Obskurantismus verpönt. „Botenstoffe“, meine erste Kling-Aquisition, verfügt über einen Umschlag mit taubenblauem Grund, auf dem weit neben dem Mittelpunkt die Metallluke einer Waschmaschine platziert ist. Das innere Rund ist hellgrün, schon gegen das Weiß hin. Darauf wirbeln zweimal Titel des Buches in dunklerem Grün und einmal der Name des Autors in hellem Orangerot. Der Metallrand der Luke noch mal Kling, DuMont und die ISBN-Nummer. Die Bildlösung liegt jenseits grafischer Erwartungshaltungen, ist vielmehr ein ästhetisches Unikat, das der lakonisch unterkühlten, mit enormen Verkürzungen und Technizismen angereicherten Sprache Klings, in der es aber (wie in der Waschmaschine) gelegentlich siedend zugeht. Ein banaler Alltagsapparat wird mit einer tieferen Bedeutungsschicht assoziiert. Botenstoffe steuern differenzierte Körperfunktionen, was den sprachlichen und literarischen Erfahrungen - Botschaften aus einer Vergangenheit - die gewissermaßen die poetische Produktion (mit)bestimmen, entspricht. Diese technische Auffassung von den winzigen Steuerungsmechanismen tief im Kopf- beziehungsweise Körperinneren lässt gleichzeitig ein Erschrecken darüber mitschwingen, dass existenzielle Tätigkeiten wie Schreiben oder Zeichnen von so geheimnisvollen, unbeeinflussbaren Vorgängen abhängen.

Ein Text des Buches, „Graz und Gedächtnis“, behandelt das Lyrikertreffen im Rahmen des steirischen herbst 99 (damals noch in der Thalia). Hauptsächlich spiegelt das Inhaltsverzeichnis aber Klings Interesse an älterer Literatur, insbesondere der Literatur des 17. Jahrhunderts. Das erinnert – um endlich zurück auf die Architektur zu kommen – an Giovanni Battista Piranesis Veduten von den Überbleibeseln der antiken Ruinen, die er als unbeschäftigter Architekt in Hinblick auf den Romtourismus damaliger Bildungsreisen herstellte. Die Kupferstiche waren die ästhetische Abschussrampe für seine 1745 entstehenden, berühmten Architekturphantasien „Carceri“. Kling war Lyriker, Piranesi Kupferstecher, der eine war Literatur- der andere Architekturtheoretiker, und beide Archäologen ihrer Profession. Die Akribie, mit der Kling sich durch verschiedenste Sprachschichten arbeitete – Argot, Slang, Abkürzungen etymologische Anspielungen, enorme Sprachbeschleunigung – um sich bei aller Detailtreue doch nie in der falschen Übersichtlichkeit zu verlieren, mag sich in der klarsichtigen Anstrengung eines Architekten spiegeln, alle an sein großes Projekt geknüpften Rahmenbedingungen, Begehrlichkeiten und Traditionen zu berücksichtigen.

Wenn diese unsinnlichen/sinnlosen Assoziationen noch unzureichend die Intensität von Thomas Klings Werk erhellen, kann ich meine zweite Erwerbung präsentieren. „Auswertung der Flugdaten“, nach dem Tod Thomas Klings erschienen, aber noch vor der Auslieferung mit einem Preis bedacht und auf Platz Eins der SWR-Bestenliste gesetzt, steigert die Selbstinszenierung des Autors zu einem präzisen, kleinen Gesamtkunstwerk. Für den Gebrauch des Feuilletons ließe sich das Buch auch als „beklemmend“ und „faszinierend“ apostrophieren. Kling steht auf einer cirka 1,60 Meter hohen kannelierten Säule, den abgewinkelten, rechten Arm eng am Körper, den kleinen Finger weit abgespreizt. Die Linke streckt Kling vom Körper weg, als ob er zum Flug (oder zum Dozieren) ansetzte. Bei genauerer Betrachtung stellt sich aber heraus, dass sie sich in den Blättern des Efeus festklammert, der die Fassade eines nur zum kleinen Teil abgebildeten Gebäudes hochrankt. Es muss sich aber um ein ziemlich großes Gebäude handeln, denn die untere Ecke eines Fensters im 1. Stock befindet sich etwas links von Thomas Klings Scheitel, und lässt mindestens ein zweites Obergeschoß vermuten. Und es scheint ein altes Gebäude zu sein, denn die in ihren Proportionen klassische Tür unmittelbar hinter der Säule ist zwar intakt, aber völlig ohne Farbe und sehr verwittert. Neben der Tür befindet sich ein äußerst ungleichzeitiger, elektrischer Sicherheitskasten. Links hinter Klings Säule lehnt eine Steinplatte – Marmor? – zweigeteilt, kitschige Rundbögen und ein eckiger Aufsatz, geschmückt mit einer Rosette.

Thomas Kling steht in braunen Schuhen auf seiner Säule, er trägt helle, ziemlich weite Hosen und einen schwarzen Rock. Die Brille in dem blassen, einer Fotografin namens Katharina Hinsberg zugewandten Gesicht ist kaum wahrnehmbar. Die ironische Selbstinszenierung verweist einmal auf den gelehrten poeta doctus, der von oben herab doziert. Gleichzeitig zitiert die Haltung auch Klings Profession als legendärer Vortragender seiner Gedichte, wobei er lustvoll die Grenze zur Performance überschritt. Diese Vorträge machten nicht nur den Großteil seines Einkommens aus; er sah sie als wesentlichen Aspekt einer Lyrik an, die in einer „Vorschriftlichkeit“ wurzelte. Dennoch galt ihm das Gedruckte gegenüber dem Gehörten als das Eigentliche, da nur der schriftliche Text die von ihm angestrebte, semantische Vieldeutigkeit - „Mehrfach-Aufladung“ - zu transportieren vermochte. Zuletzt scheint der dem Tod geweihte Selbstdarsteller auf der Säule schon die Bodenhaftung auf dieser Welt zu verlieren, und die oben beschriebenen Requisiten machen auch klar, dass es sich um einen Friedhof handelt…eine grimmige Selbstinszenierung. Dem schauerlichen und unterkühlten „Gesang von der Bronchoskopie“ ist bezeichnenderweise dieses Motto vorangestellt:

„Wer bist du?“

„Ich bin der tod!“ sprach jener
mit ganz heiserer stimme

Ludwig Bechstein, Gevatter Tod

Der Titel „Auswertung der Flugdaten“ ist natürlich ebenfalls programmatisch. Flugdaten gewinnen ja ihre besondere Bedeutung daraus, dass sie nach einem Absturz zur Erklärung des Herganges aus der Black Box geborgen werden. Klings Titel bezieht sich einerseits auf ein viel zu frühes Ende des Fluges, aber auch davon, dass immerhin geflogen wurde… Wie die „Botenstoffe“ beinhaltete auch dieses letzte Buch Gedichte und Essays, die ihr genealogisches Umfeld beschreiben. Bemerkenswert ist der grausige und großartige Klang der Gedichte, die den nahen Tod und die qualvollen Prozeduren auf dem Weg dahin umreißen, ohne die nahe liegende Befindlichkeitslyrik zu strapazieren.

[Flur. Diagnose]

„huhu, teufe du,
schleuß dich zu!

Soviel flimmerhaare,
soviel flimmerjahre
so von oben so von unten
alle zeit und alle stunden
hart gebunden,
fest gebunden

schleuß dich zu, teufe du!“

Ein Grund für diese Abstinenz jeder Ich-Lyrik mag in Klings Auseinandersetzung mit der Barockliteratur liegen, deren Formelhaftigkeit sowohl die Basis für unerhörte Intensität schafft, aber zugleich auch den Zweifel am realistischen Sprachgebrauch provoziert. Subjektivität drückt sich nicht sentimental, sondern durch vorgegebene, ästhetische Normen, durch „Aufgaben“ und „Regeln“ aus.
Eine extreme Erscheinung wie der Lyriker Quirinus Kuhlmann hat beispielsweise Einfluss nicht nur auf Thomas Kling, sondern schon auf die Autoren der Wiener Gruppe - Bayer, Wiener, Artmann - genommen. Klings „Bohrarbeit“ als verdeckte Subjektivität bzw. historisch abgesicherten Formbestrebens fällt mir auch bei Architekten auf, die sich als genialische Demiurgen geben. Ein anderes Ergebnis dieser „Bohrarbeit“ ist Thomas Klings Lyrikanthologie „Sprechspeicher“, in dem er „200 Gedichte auf deutsch vom achten bis zum zwanzigsten Jahrhundert“ versammelt. Eine provozierende Anthologie, die neben Bekannten, von Walter von der Vogelweide bis Urs Grünbein, auch hauseigene Exoten wie den bereits erwähnten Quirinus Kuhlmann, Kaspar Stieler oder Bert Papenfuß versammelt.
Es ist beunruhigend, dass ein derart schönes Buch wie „Auswertung der Flugdaten“ schon nach so kurzer Zeit verbilligt zu haben ist. Genauso, wie es beunruhigt, dass ein Verlag wie DuMont gezwungen war, einen Großteil der belletristischen Produktion einzuschränken.

Die „Gesammelten Gedichte“, herausgegeben, von Marcel Beyer und Christian Döring, sind keine textkritische Ausgabe, sondern präsentieren einfach alle Gedichte, die Thomas Kling zu Lebezeiten veröffentlich hat – vergleichbar der bei Suhrkamp erschienenen Sammlung Friederike Mayröckers Gedichten: „schwere“ Bücher (wie schweres Wasser existiert), deren stilles Pochen auch durch schnelle Lektüre nicht neutralisiert werden kann.
Verglichen mit den Büchern, die ich von Thomas Kling kenne, scheint mir die letzte Veröffentlichung mit ihrem gelb-schwarzen Einband weniger gelungen. Das Schwarz und das grelle Gelb warnen möglicherweise den Leser vor einem kontaminierenden Sprachvirus und weniger vor dem üblichen Kartoffelkäfer. Das Buch ist mir allerdings nur aus einer Internetanzeige bekannt, da das Belegexemplar - wenn es denn kommt - noch auf sich warten lässt. An Stelle einer Buchkritik hat sich daher die Beschreibung von Buchumschlägen ergeben; Bildbeschreibungen über einen Poeten, der es verdiente, immer wieder entdeckt zu werden; Auferstehungen also, gar nicht unpassend für Ostern.

WILHELM HENGSTLER ist Filmregisseur und Autor, ausgezeichnet mit dem Manuskripte-Preis 2004. Er lebt in Judendorf/Strassengel bei Graz.

Verfasser/in:
Wilhelm Hengstler
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