17/06/2007
17/06/2007

sonnTAG 179

Vorwort. Von Bernhard Hafner
Lucius Burckhardt war promovierter Philosoph und Nationalökonom, langjähriger Chefredakteur der Zeitschrift „Werk“, Professor für Architektur, Stadt- und Landschaftsplanung an der GHK, und Verfasser brillanter Vorlesungen und Texte – etwa der Sammlung „Die Kinder fressen ihre Revolution“. Er war ein Liberaler bester Schweizer Tradition, der die Kontroverse nicht scheute, pointiert geistreich und unvoreingenommen, zudem ein unaufdringlicher, feiner und feinsinniger Mensch. Ich habe ihn zweimal gesprochen: zuerst beim Synposion 64 und dann anlässlich des Wettbewerbes für die GHK, als ich in Texas unterrichtete und mit meiner Klasse daran teilnahm. Einen unauslöschlichen Eindruck hinterließ bei mir, als von der Bedeutung der Flexibilität Beseelter, dessen Relativierung in der Architektur bei seinem Vortrag. Am Beispiel der Erneuerung des Zentrums von Bern wies er darauf hin, dass in unflexiblen, mittelalterlichen Mauermassenbauten durch horizontale Verknüpfung von Grundrissen in benachbarten Gebäuden neue, große, zusammenhängende Nutzflächen gewonnen werden könnten. Vielfach werde das flexible geplant, was der Flexibilität nicht bedarf, und das, was ihrer bedürfe, starr. Er ist 2003 gestorben. An welcher Architekturschule könnte heute ein Mann seiner Ausbildung Professor werden?

Vortrag von Lucius Burckhardt
Symposion 64

URBANISMUS WACHSTUM FLEXIBILITÄT DEMOKRATIE

In das Jahrtausende alte Phänomen städtischen Lebens brachte zu Anfang des 19. Jahrhunderts die Industrialisierung einen neuen Aspekt. Das zentralörtliche Netz der Marktstädte wurde überlagert von einem neuen, nach anderen Gesetzen sich entwickelnden Prinzip. Von den beiden hanseatischen Schwesternstädten Dortmund und Soest wuchs plötzlich die eine über alle Maße hinaus und wurde zur Metropole der Schwerindustrie, während die andere noch heute den Umfang eines traditionellen Marktortes nicht überschreitet. Sind es spezielle Standortvorteile, hier das Vorkommen von Kohle, welche die Entwicklung zur Industriestadt auslösen, so ist doch die generelle Voraussetzung vielmehr eine Standortunabhängigkeit: die Unabhängigkeit großer Bevölkerungsmassen von ihrer agraren Ernährungsbasis aufgrund der neuen Transportmittel. Der im Jahre 1598 von dem italienischen Priester Giovanni Botero entdeckte Zusammenhang zwischen Einwohnerzahl, Attraktivität der Stadt und städ-tisch beherrschtem Gebiet musste neu formuliert werden: die Transportwege der Lebensmittel für eine Industriestadt umspannen heute die ganze Welt.
Seither hat sich das Feld, auf welchem Wahlfreiheit und Standortunabhängigkeit herrscht, ständig vergrößert. Zur Verbilligung und Beschleunigung der Transportmit-tel kam die unbegrenzte Haltbarkeit des transportierten Gutes hinzu: durch Konservierung und Tiefkühlung. Die Standortunabhängigkeit betrifft heute nicht mehr nur den Konsum, sondern auch die Produktion: Hochspannungsleitungen, Pipelines und Gasleitungen geben der Produktion ihre Wahlfreiheit zurück, ganz zu schweigen vom Telefon, welches die Betriebsverwaltung vom Betrieb selber unabhängig macht. Aber auch der Einzelne, der Bewohner der Industriestadt hat neue Wahlfreiheiten gewonnen. Wir denken zuerst an das individuelle Transportmittel, das ihn in gewissem Umkreis von den städtischen Wohnverhältnissen unabhängig macht und zwi-schen mehreren Wohnweisen wählen lässt. Sodann nennen wir die längere Ausbildungszeit, die gewachsene Freizeit und vor allem die Zeit der Pensionierung, welche ihm bei der gestiegenen Lebenserwartung 10 bis 15 Jahre bezahlter Freizeit verschafft, während welchen er seinen Wohnort und sein Tun und Lassen selber wählen kann. Die gewachsene Realentlöhnung der Arbeit sorgt dafür, dass der gebundene Anteil des Familienbudgets kleiner wird zugunsten eines frei wählbaren Konsums.

Diese Aufzählung soll dazu dienen, die Funktion der modernen Stadt zu umschreiben. Wie die alte Stadt ist sie immer noch Markt oder Börse, aber nicht mehr nur im Sinne der Optimalisierung der Preise und Tauschverhältnisse, sondern der Gesamtwirksamkeit persönlichen Wirtschaftens überhaupt. Der Bewohner der Stadt optimalisiert sein Einkommen in der Weise, dass er für sein ganz spezielles Arbeitsgebiet und sein besonderes Talent denjenigen Arbeitsplatz findet, der zu ihm passt und ihm den höchsten Lohn und die höchste Befriedigung gibt. Unabhängig von diesem Arbeitsplatz wählt er im erreichbaren Umkreise einen Wohnort, der im Rahmen seiner finanziellen Verhältnisse das bietet, was er sucht: städtische Verhältnisse im zentralen Wohnquartier, großstädtische Anonymität im Wohnhochhaus, ländliche, vielleicht nachbarliche Gemeinschaft in den Außenquartieren, gärtnerische Betätigung, gegebenenfalls sogar die Teilung des Wohnens in ein städtisches Appartement und ein nahe gelegenes Wochenendhaus. Schließlich ergibt sich unabhängig vom Wohnort und vom Arbeitsplatz Teilnahme an allen Möglichkeiten der Stadt, an den Bildungsmöglichkeiten, den Vergnügungen und am zwischenmenschlichen Verkehr in jener Wahlmöglichkeit, dass Partner mit entsprechend gerichteten Interessen unter Tausenden gefunden werden können. Nur aus romantischer Sicht mag diese gewachsene Unabhängigkeit beklagt werden. Der Mensch ist durch die ihm heute gebotenen Freiheiten noch nicht überfordert, und die Tatsache, dass jeder Städter auf den drei Gebieten des Arbeitens, Wohnens und des Freizeitverkehrs sein Tun optimalisiert und die höchste Befriedigung erreicht, maximalisiert auch den Gesamtnutzen. Mit anderen Worten: die moderne Großstadt ist ein rentables Gefüge, trotz der großen, durch den Transport verursachten Verluste, steigert sie die Wirkungsmöglichkeit und die Bedürfnisbefriedigung des Bewohners.

Bedenklich ist diese Art der freien Nutzung der Stadt nur für den Planer. Der hohe Grad an individueller Wahlfreiheit droht seine Prognosen zu erschüttern. Welche Gestalt soll er der Stadt geben? Welches sind die Gegebenheiten, von denen er ausgehen darf? Alles erscheint nun unberechenbar.

Unberechenbar ist die Dynamik des industriellen Fortschritts, aber noch unberechenbarer seine sekundären Auswir-kungen, die Änderung der Berufsstruktur, die Binnenwanderung, der Pendelverkehr, die gesteigerte Kooperation der Wirtschaft, er erhöhte Lebensstandard und die veränderten Wohn- und Freizeitgewohnheiten der Bevölkerung. Wir kommen zunächst auf die künstlerische, die städtebaukünstlerische Seite des Problems. Offensichtlich geraten wir hier in einen Widerspruch zwischen der Form, zumindest wie sie im neuzeitlichen und abendländischen Sinne verstanden wird, und den Erfordernissen dynamischer und dezentralisierter Entwicklungsmöglichkeit.

Der „Zerfall der abendländischen Baukunst im 19. Jahrhundert“, wie Alexander Rüstow sich ausdrückte, hat neben den von diesem Autor so geistvoll ausgearbeiteten kultur-geschichtlich-soziologischen Hintergründen auch eine formalen Aspekt: Die abendländische Stadtbaukunst seit dem Barock beruhte wie ihre Schwesterkünste auf dem Privileg der Komposition, der Errichtung eines Motivs und der Variation dieses Motivs entlang von Symmetrien bis zu einem wohl definierten Ende hin. Sinnvoll war diese Kompositionsprinzip nur unter zwei Vorraussetzungen: dass einerseits eine sinnvol-le Mitte das tragende Motiv kreiert, und dass andererseits das Ende der Komposition entweder sichtbar ist oder doch vom Betrachter noch in eine Beziehung zum Zen-trum gebracht werden kann. Dieses überkommene Gestaltungsprinzip kompositionellen Bauens vermochte den neuen Aufgaben großflächiger und zentrumsloser, dezentralisierter Art nicht gerecht zu werden.

Demokratie und Kapitalismus sind beides Formen der peripheren Delegation der Beschlussfassung, also der Dezentralisierung. Diese neue gestalterische Aufgabe vermochte die Baukunst nicht zu bewältigen. Nach einigen kläglichen Versuchen, die neuen Aufgaben mit kompositionellen Mitteln zu lösen (wir denken an Phalansteres, die ihre Form beim Schloss des Sonnenkönigs entlehnten) versank das Problem in der vollkommenen Atomisierung und Zusammenhanglosigkeit der Städte: jedes einzelne Gebäude bediente sich der kompositionellen Formen und axialen Symmetrien, aber der übergeordnete Zusammenhang wurde aufgegeben.

Auch die moderne Architektur befasste sich zunächst nicht mit diesem Problem. Sie schuf sich kleine, durchgestaltete Oasen in der überkommenen Werkstättenlandschaft des 19. Jahrhunderts. Erst heute, wo die Zeit in Sichtweite rückt, in welcher ein erheblicher Teil des Gebäudebestandes „modern“ oder zumindest neu ist, werden wir gewahr, dass wir damit keine neue Stadt errichtet haben. Die in Freiheit errichtete neue Stadt bedürfte eine Struktur, welche nach einem noch zu suchenden Prinzip Flexibilität mit einem charakteristischen Gerippe vereinigt.
Sicherlich haben Sie alle mit größter Anteilnahme die Reihe der utopischen Stadtentwürfe verfolgt, wie sie in den letzten fünf Jahren vorgelegt worden sind: von Yona Friedman, Kenzo Tange, Walter Jonas, Constant, Maimont, Pinchis und wie sie alle heißen. Alle diese Entwürfe sind ernst zu nehmen, alle enthalten einen Versuch, unsere Zukunft zu formulieren und wir müssen sie streng scheiden von den subjektivistischen Phantasmen, wie sie etwa nach dem ersten Weltkrieg auftraten. Die Utopien sind utopisch, das ist ihr Wesen, sie sind aber stets real in Bezug auf ein ganz bestimmtes Erfordernis der Gegenwart oder der Zukunft. Deshalb möchte ich hier zwei davon etwas näher anschauen. Ich beginne mit Friedman: er schlägt ein dreidimensionales Raumtragwerk vor, dessen durch die Tragkonstruktion gebildete Zellen entweder ausgebaut oder freigelassen werden können. Diese Zellen wären Wohnungen, Geschäftsräume, Ketten solcher Zellen wären Straßen, Korridore, Leerzellen wären Höfe, Einfallstore für das Tageslicht, vielleicht Gärten. Alles ist beweglich, flexibel. Der Bewohner kann seine Zelle verlassen, tauschen vielleicht gegen eine weiter außen gelegene Zelle. Beweglich ist aber auch die ganze Stadt selbst, die wie ein Mecano aufgebaut und abgebrochen werden kann.

Gewiss ist vieles ungelöst, die Wasseranschlüsse beispielsweise, aber das stört uns nicht, wir suchen ja nach der Grundidee.

Die Grundidee ist der Gedanke des Lösens, wie ihn Friedmann aus alter israelitischer Tradition entnommen hat. Die Römer waren das Volk des Bindens, der Vorträge, aber auch der harten Erfüllung, der Rache. Die Weisheit der Juden kannte auch die Vergänglichkeit der Beziehungen und schuf die Möglichkeiten des Lösens: nach einer bestimmten Anzahl von Jahren waren die Sklaven frei, die Schulden abgeschrieben, das Land fiel an die Gemeinschaft zurück. In vergeistigter Form findet diese gesellschaftliche Flexibilität ihren Weg nach hin zu uns: als Sündenvergebung.

Diesen Wandlungen der menschlichen Gesellschaft baut nun Friedmann das Haus: und wenn wir nun hier eine kleine Kritik anbringen, so in Respekt vor diesem tiefsten Grundgedanken der Wandelbarkeit, vor dieser Auffassung des Menschen, der zwar Häuser baut, Verträge schließt, Eide schwört, der aber nicht im Stande ist, diese Dauer auch zu ertragen, dem die Eide zu Ketten, die Häuser zu Käfigen werden, die er wieder zerstört.

Ein unbekanntes Systemgewebe wie es die Stadt darstellt, kann nicht in jedem Fall durch Flexibilität befriedigt werden. Die bloße Anpassungsfähigkeit ist nicht der Rahmen für alles und jedes, was nicht exakt bestimmt werden kann. Die Anpassungsfähigkeit ist vielmehr mit ihren Grenzen und Bedingungen verbunden. Denken Sie sich die flexibelste Stadt, die Wohnstadt. Auch diese hat, ist sie einmal aufgestellt, ein Verkehrsproblem. Ein anderes flexibles System wäre der Markt mit seinen transportablen Ständen: ließe man die Verkäufer frei einen Platz wählen, so entstünde zweifellos kein vernünftig ausgenützter Markt. Aber mehr noch: durch die Aufstellung der ersten Stände und die dadurch entstehenden Korridore und Käuferströme ist so vieles bestimmt, dass die nachfolgende Anordnung festliegt und die gebotene Flexibilität nicht ausgenützt werden kann. Deshalb muss die Flexibilität, wenn sie überhaupt annähernd in Anspruch genommen werden will, eine auf das Anpassungsziel eingeschränkte Bandbreite haben.

Eine andere Utopie kennen Sie alle: den Tokio-Plan von Kenzo Tange. Er beruht auf der Idee eines riesigen, in das Meer vorgeschobenen Verkehrsgestells, dessen mo-numentale Anlagen sozusagen das Gerippe der Stadt bilden, also eine Zwischenstufe zwischen Straße und Gebäude: sie tragen den Verkehr und führen ihn zu Terrassen, auf welchen frei die einzelnen Häuser oder Industrien aufgestellt oder abgebrochen werden können. Auch diese Utopie, so modern, so international sie ist und so allgemein sie auf alle Städte trifft, entstammt einer regionalen, der japanischen Vorstellungswelt. Hinter dem modernen Kapitalismus Japans steckt noch ein feudaler Rest: alles Land gehört, zumindest symbolisch, dem Kaiser. Es wäre denkbar, dass er es eines Tages an sich zöge, es neu organisieren würde und es wieder an seine Untertanen abgäbe zu höherer Nutzung. Der Untertan aber besitzt das Land nur als Lehen. Auf dem ihm zugewiesenen Fleck stellt er sein Haus aus leichten Materialien auf. Wenn die Bevölkerung immer zahlreicher wird, warum soll dieser Flecken Land nicht eine Betonterrasse sein auf einem mehrgeschossig ausgebildeten Gestell? Und ist es dann nicht vernünftig, das Haus des Bürgers noch zu vereinfachen, dass es wird wie ein Gebrauchsgut, wie sein Auto, seine Waschmaschine, seine Kleider, die er nach einigen Jahren wegwerfen und ersetzen kann? Die Stadt als das gemeinschaftliche Kapitalgut, das Haus als Gebrauchsware und Verbrauchsware – ist das nicht unser aller geheimste Wunschvorstellung?

Die Kritik, die wir vorbringen müssen, ist nicht neu. Sie ergibt sich aus der Betrach-tung dessen, was sich nun wirklich in den letzten Jahrzehnten gewandelt hat und was nun wirklich der Flexibilität bedurft hatte. Die Häuser, gewiss, sehen anders aus als früher, aber es ist durchaus möglich, ein Haus zu bewohnen und zurecht zu machen, das 500 Jahre alt ist. In meiner Stadt bewohnen viele junge Leute Häuser dieses Alters. Es besteht somit kein Anlass, das Haus zum Verbrauchsgut werden zu lassen. Verändert hat sich vielmehr der Verkehr, und wir wissen noch nicht, wohin diese Veränderung führt. Wer hätte vor 50 Jahren den Aufschwung des Automobils prophezeit? Wer die Parkplatznot in unseren Innenstädten? Was wir an Straßen gebaut haben, war nach wenigen Jahren falsch, veraltet, sanierungsbedürftig. Wollten wir jetzt einen so hohen Teil des Volkseinkommens in ein Verkehrsgestell investieren. Dessen Tauglichkeit in dreißig oder fünfzig Jahren durchaus fragwürdig ist? Die Kritik also muß lauten: hier wird eine Sache verfestigt, die flexibel bleiben muß, und eine Sache flexibel gemacht, die vielleicht mehr Dauer hat als alles andere.
Dieses alles vorausgeschickt, können wir nun vielleicht einige Aussagen machen über die künftige Stadt, und wären es nur Aussagen negativer Art, wie sie nicht sein kann.

Zunächst etwas sehr Trauriges: wir können nicht mehr bauen, als wir bezahlen können. Der Städtebau hat seine Grenzen im Finanziellen. Dazu rechne ich auch den Mangel an Arbeitskräften, denn er ist ja auch nur der Ausdruck davon, daß wir an die Grenze unserer Möglichkeiten gekommen sind. Wir können unsere Städte vergrößern, ein wirtschaftlich kräftiges und großes Land wie die Bundesrepublik oder England können einige New Towns bauen, aber nirgendwo auf der Welt kann man es sich leisten, ganze bestehende Städte abzureißen und neu zu bauen.

Nun zu dieser Binsenweisheit eine zweite: wir können nicht mehr bauen, als wir beschließen können. Das gilt für alle Staatssysteme, nicht nur für die Demokratie. Die Beschlußfähigkeit in städtebaulicher Materie ist ebenso wichtig wie die Planung. In der Diktatur wird nur das Ausgeführt, wovon man den Staatschef weis machen konnte, daß es richtig sei. In der Demokratie ist der Vorgang weit komplizierter, läuft aber wiederum darauf hinaus, daß nicht beschlossen werden kann, was das Vorstellungsvermögen und den Willen der beschließenden Teile des Volkes, seien es nun Eliten, Parteien, Parlamente oder Bürokratien, übersteigt. Ich habe über diese Zusammenhänge zwischen wachsender Notwendigkeit, Vorstellungsvermögen und Be-schlussfassungssystem, also über das Decisionsmaking in städtebaulicher Materie, das mich sehr beschäftigt, an anderer Stelle schon geschrieben und gesprochen.

Einen dritten Punkt möchte ich auch zuerst negativ formulieren: die neue, wachsende Stadt wird kein Stadtbild mehr haben, kein Aussehen in dem Sinne, wie es Brasilia und Chandigarh noch haben. Aber sie wird auch nicht die Gesichtslosigkeit einer aufgelockerten englischen New Town haben. Vielmehr könnte man sich denken, dass sich ihr Aussehen, ihr Gesicht an eine ganz bestimmte Stelle verlagert – und damit komme ich zurück auf die anfänglichen Überlegungen über Komposition und Endlosmuster: nämlich auf die Art und Weise, wie die Gebäude miteinander verknüpft sind. Das Aussehen der Stadt wäre also weitgehend das Abbild ihrer Bauge-setze, aber nicht in dem miserablen Sinne wie heute, viergeschossig mit zurückspringendem Attikageschoß, sondern die Einheit bestünde darin, dass sich alle Gebäude trotz ihrer Verschiedenheit bestimmten Formeln beugen müssen, welche sie untereinander verbinden und an die Verkehrsnetze knüpfen. Damit ist noch recht wenig gesagt, aber ich glaube, dass die Art der Verknüpfung, die sich wiederholende und in bestimmten Rahmen variierende Art der Erschließung, der Stadt ein Aussehen gibt, welches weit typischer sein könnte als die alte Skyline, oder zumindest von weit mehr Leuten öfter gesehen wird. Meine Stadt liegt am Rheinknie, wohl eine der bedeutendsten geographischen Formationen Europas, die im Herzen einer Stadt zu finden sind. Wie oft aber sehe ich das Rheinknie? Und wenn ich es sehe, regenass über die Brücke hastend, perzipiere ich es? Was ich aber täglich sehe, ist das trostlose Raster unserer Bebauung, Viergeschossig mit zurückspringender Attika.

Was können wir weiter sagen? Wir können positiv sagen, dass die Stadt der Zukunft, im Sinne des eingangs beschriebenen endlosen Musters, den Charakter eines Netzes hat. Netz bedeutet in diesem Falle das Gegenteil von einer irgendwie determinierten Figur, welche einmal definierte Mitte und definierte Ränder hat. Solche Figuren, wie wir sie sicher nicht verwenden können, sind beispielsweise auch die organischen Wachstumsfiguren der sogenannten „autogerechten Stadt“. Gegenüber dieser versteinerten scheinbaren Organie gibt es vielleicht unorganische, dafür aber flexible Figuren, in welchen das städtische Geschehen auch gewisse Gewichtsverschiebungen vernehmen kann, wie sich ja in der Historie manche Stadtzentren verschoben haben – denken Sie an Paris oder Berlin. Solche „Endlosigkeit“ schließt natürlich nicht aus, dass es dichter besiedelte Zentren und dünner besiedelte Ränder gibt, und dass in den Zentren immer mehr auch der vertikale Verkehr eine Rolle spielt und schließlich vielleicht sogar der „Terminal“, also der Verknüpfungsbahnhof zwischen vertikalen und horizontalen Verkehrsmitteln die Einheit des innerstädtischen Netzes bildet.

In diesem Netz nun findet ein zweifaches Wachstum statt: einmal das Wachstum überhaupt, die Zunahme der Einwohnerzahl, welche sich als Vergrößerung oder Verdichtung äußern kann. Zudem aber jener Prozess, welchen man als Entwicklung oder wirtschaftliches Wachstum bezeichnet, nämlich der Ausbau der Kapitalausstattung, die Industrialisierung, die höhere Organisierung des Wirtschaftsverkehrs, die gesteigerte Kooperation, die bessere Versorgung, die Bürokratisierung vielleicht. Das sind alles jedenfalls Faktoren, welche, ob die Stadt nun numerisch wächst oder stagniert, den Stadtcharakter verändern und vermutlich steigern. Wie findet nun dieses Wachstum statt? Heute so, dass man die Häuser aufstockt, während sich zwischen den Häusern die Straßen verstopfen (da wir uns ja die Gasamterneuerung nicht leisten können) in einer Weise, dass in das alte Stadtnetz neue Zellen eingesetzt werden.

Und dieses scheint mir nun eine Aufgabe, welche bearbeitet werden könnte, einerseits als Theorie, andererseits zum Nutzen realer Sanierungsaufgaben in Städten: wie sähe eine solche kleinstmögliche Stadtzelle aus, und welche Bedingungen müsste sie erfüllen, dass sie in die bestehende Stadt eingesetzt werden kann, dass sie aber gleichzeitig ein Baustein der neuen Stadt bildet. Sie müsste heute noch das bestehende Straßennetz übernehmen, sich vielleicht gürtelartig vor dem Ansturm der Autos absichern, müsste aber schon die Zugänge und Abfahrten an ein zukünftiges Netz enthalten, nicht zu vergessen auch an ein Fußgängernetz, in dichten Zonen im Sinne eines oben beschriebenen Terminals auf mehreren Ebenen in verdünnten Zonen als ein in der Ebene liegender Verkehrsknoten. Baukünstlerisch schüfe eine solche Zelle eine innere Freiheit, welche weit reichende Ausformungen, und Entwürfe verschiedener Architekten im gleichen Block zuließe, als dies im Rahmen der heutigen Baugesetze möglich ist. Das Baugesetz würde sich also von formalen Vorschriften auf organisatorische Vorschriften verlagern.
Sind wir damit am Ende, ist das die Lösung? Wir alle wissen, dass es Lösungen in diesem Sinne nicht gibt. Wir alle haben sehr gute Ideen, die vielleicht eine Verbesserung der Situation brächten, aber sie werden nicht ausgeführt. Woran liegt das? Ich sagte am Anfang meiner Ausführungen die Binsenweisheit, dass nur gemacht werden kann, was auch beschlossen werden kann. Das ist ein Faktum, vor welchem wir weder die Augen verschließen wollen, noch wollen wir darob verzweifeln. Als Planer, als Architekten und als am Städtebau beteiligte Fachleute müssen wir einfach zur Kenntnis nehmen, dass es neben dem technischen noch ein sehr weites, noch weitgehend unerforschtes Gebiet gibt: das Gebiet des Urbanismus als Beschlussfassungssystem. Wir stehen vor einem Mechanismus, der aus drei Wirkungszentren besteht: in einem befindet sich die Stadt in ihrem Erscheinungsbild, mit ihren Investitionen, Erschließungen, mit ihrer so oder anders strukturierten Bevölkerung, mit ihren Wirtschaftszuständen. In dem zweiten Wirkungskreis sehe ich die Vorstellungen der Bevölkerung von der Stadt, von der Stadt wie sie sein sollte, vom richtigen Leben in ihr, von den wünschenswerten Wohnweisen und den zu erwartenden Diensten. Es ist die Gesamtheit dessen, was die neuere Soziologie das „image“ nennt. Im dritten Kreis nun befindet sich das städtische Beschlussfassungssystem, die politischen Behörden, die Verwaltung, die politischen Parteien, die stimmfähige Bürgerschaft. Jeder dieser Kreise nun wirkt auf den anderen ein und verändert ihn. Jeder erhält aber auch Impulse aus dem anderen Kreis und wird dadurch verändert. Es entsteht ein Dreitaktmotor, ein dreifach auf sich selber wirkendes System als Abbild des städtischen Geschehens. Die Beschlussfassung erhält ihre Impulse aus der Welt der Vorstellungen. Diese wird genährt aus dem Fundus der bestehenden Verhältnisse, die bestehenden Verhältnisse wiederum gründen sich teilweise auf politische Beschlüsse. Aber auch rückwärts funktioniert der Kreis: die bestehenden Zustände wirken ein auf die Beschlussfassung, die Beschlussfassung wirkt ein auf die Welt der Vorstellungen, die Welt der Vorstellungen wirkt auch direkt auf die Wirklichkeit - dadurch, dass der Mensch sich nach seinen Wünschen einrichtet.

Was können wir mit diesem Modell, mit diesem Geflecht von Einwirkungen anfangen? Einmal dieses: die Einsicht gewinnen, dass die Regeneration unserer Städte kein eindimensionales Problem ist, keine bloße Angelegenheit des Tiefbauamtes. Die Regeneration kann nur Hand in Hand gehen mit der Information, mit der Erforschung des städtischen Geschehens, mit der Popularisierung der Ergebnisse dieser Forschungen zu einem Allgemeingut der öffentlichen Meinung und mit der Umsetzung der so verbreiterten Erkenntnis in politische Entschlüsse. Wir sind deshalb auch der Meinung, dass die Regeneration der Stadt Hand in Hand gehen muss und wird mit der Regeneration der innerstädtischen Politik, ja mit einer Neubelebung der Mission der historischen Parteien. Die Parteien, die sich auf dem Wege der Perfek-tionierung der Wohlfahrtsgesetzgebung nun nachgerade den Rang abgelaufen haben und ihre Ideologie bis zu Unkenntlichkeit verdünnten, sie könnten aus der Materie der Stadtplanung neuen Stoff gewinnen. Niemand wird mich dahin missverstehen, dass ich einer Verpolitisierung von Sachfragen und technischen Angelegenheiten das Wort rede: gerade dadurch, dass den fundamentalen Fragestellungen ihr politischer Gehalt zurückgegeben wird, verfolgt eine Entpolitisierung der notwendigen technischen Fachentscheidungen. Nur wo, wie heute, alle Fragen im Gewande von Sachfragen auftreten, ist jeder Politiker „Fachmann“ für alles.

Und noch einen weiteren, letzten Gedanken möchte ich hier anschließen, der Ihnen nun vielleicht etwas merkwürdig vorkommt. Wenn wir uns in aller Nüchternheit zu einem demokratischen Beschlussfassungssystem bekennen, so muss auch dieses das Problem der Entwicklung in der Zeit nicht außer Acht lassen. Es gibt so etwas wie eine demokratische Fairness gegenüber der Nachwelt. Die Demokratie kann verstanden werden als der Wille der Mehrheit von 51% der Lebenden über 49% der übrigen Lebenden. Das kann zu grotesken Missverhältnissen führen: beispielsweise wenn ein Dorf (ich denke an einen konkreten Fall) von 500 Einwohnern über einen Bebauungsplan zu bestimmen hat, welcher dieses Dorf auf 12.0000 Einwohner er-weitert: dann bestimmen vielleicht 251 Wählerstimmen von 1964 das Schicksal von 12.000 Menschen von 1980.

Deshalb möchte ich den Wachstumsgedanken und den Gedanken allmächtiger, sukzessiver Planung mit eingebauter Rückkopplung auch auf demokratische Beschlussfassung übertragen: In der Tatsache, dass in einem gegebenen politischen System nicht alle scheinbar besten Lösungen durchführbar sind, liegt auch die Chance, dass die Zukunft nicht völlig verbaut wird.

> > VORSCHAU >> 24. Juni 2007:
sonnTAG 180 "Urbanismus Wachstum, Flexibilität Demokratie: Mein Gott, was soll das?"
Bernhard Hafner, Zum Vortrag von Lucius Burckhardt, Teil 1

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