01/07/2007
01/07/2007

sonnTAG 181

Architekt DI Bernhard Hafner lebt und arbeitet in Graz.

Yona Friedman, um 1962

Yona Friedman und Eckhard Schulze-Fielitz, Brückenstadt über den Ärmelkanal, 1963

Yona Friedman, La Ville spatiale, 1960, collage

Yona Friedman, La Ville spatiale, 1959-60

Yona Friedman, La Ville spatiale, 1959-60

Kenzo Tange, um 1962

Kenzo Tange, Tokyo Bay Project, 1960

Kenzo Tange, Tokyo Bay Project, 1960

Kenzo Tange, Tokyo Bay Project, 1960

Utopien: Mein Gott, was ist das?

Bernhard Hafner. Zum Vortrag von Lucius Burckhardt, Teil 2.

„Sicherlich“, sagt Burckhardt 1964 ohne Kenntnis des Zustandes von Beruf und Studentenschaft von heute, „haben sie alle mit größter Anteilnahme die Reihe utopischer Stadtentwürfe verfolgt, wie sie in den letzten fünf Jahren vorgelegt worden sind… Alle diese Entwürfe sind ernst zu nehmen, alle enthalten einen Versuch, unsere Zukunft zu formulieren und wir müssen sie streng scheiden von … subjektivistischen Phantasmen… Die Utopien sind utopisch, das ist ihr Wesen, sie sind aber stets real in Bezug auf ein ganz bestimmtes Erfordernis der Gegenwart oder der Zukunft. Deshalb möchte ich zwei davon etwas näher anschauen. Ich beginne mit Friedman: er schlägt ein dreidimensionales Raumtragwerk vor, dessen durch die Tragkonstruktion gebildete Zellen entweder ausgebaut oder freigelassen werden können. Diese Zellen wären Wohnungen, Geschäftsräume, Ketten solcher Zellen wären Straßen, Korridore; Leerzellen wären Höfe, Einfallstore für das Tageslicht, vielleicht Gärten. Alles ist beweglich, flexibel. Der Bewohner kann seine Zelle verlassen, tauschen vielleicht gegen eine weiter außen liegende Zelle. Beweglich aber ist auch die Stadt selbst, die wie ein Mecano aufgebaut und abgebrochen werden kann. Gewiß ist vieles ungelöst, die Wasseranschlüsse beispielsweise, aber das stört uns nicht, wir suchen ja nach der Grundidee“. Und weiter: „Diesen Wandlungen der menschlichen Gesellschaft baut nun Friedman das Haus“ und fährt mit der Kritik fort: „Ein unbekanntes Systemgewebe, wie es die Stadt darstellt, kann nicht in jedem Fall durch Flexibilität befriedigt werden. Die bloße Anpassungsfähigkeit ist nicht der Rahmen für alles und jedes, was nicht exakt bestimmt werden kann. Die Anpassungsfähigkeit ist vielmehr mit ihren Grenzen und Bedingungen verbunden. Denken sie an die flexibelste Stadt, die Wohnwagenstadt. Auch diese hat, ist sie einmal aufgestellt, ein Verkehrsproblem. Ein anderes flexibles System wäre der Markt mit seinen transportablen Ständen: ließe man die Verkäufer frei den Platz wählen, so entstünde zweifellos kein vernünftig ausgenützter Markt. Aber mehr noch: durch die Aufstellung der ersten Stände und die dadurch entstehenden Korridore und Käuferströme ist so vieles bestimmt, daß die nachfolgende Anordnung festliegt und die gebotene Flexibilität nicht ausgenützt werden kann. (Unsinn! sage ich, ich kann mich nicht mehr zurückhalten) Deshalb muß die Flexibilität, wenn sie überhaupt annähernd in Anspruch genommen werden will, eine auf das Anpassungsziel eingeschränkte Bandbreite haben“ (eben! Wieder ich).

Gleich vorweg zwei Erwiderungen, die ganz einfach sind: Friedmans Gitterstadt ist nicht Ron Herron’s Walking City. Wenn beweglich, ist sie von ganz anderer Form, nicht Beweglichkeit sondern Variabilität (und Flexibilität) des Ausbaus innerhalb des Gitters. Variabilität bedeutet Möglichkeit der Anpassung von Regionen im Gitter an unterschiedliche Nutzungen, Flexibilität Veränderlichkeit von Gebautem. Zweitens: Wohnwagenstädte und Marktstände bilden keine Städte und haben keine ordnende Struktur. Friedmans „Stadt“ hat sie, nämlich das Gitter.

Burckhardt mag wie alle jene die auf ein Projekt schauen, um gleich nach seinen Mängeln zu suchen, Recht haben. Er, den ich ihn ganz anders, nämlich als einen ungewöhnlich feinen, subtil denkenden und respektvoll, ja freundschaftlich handelnden Menschen kennengelernt habe, tritt in diese Falle. Vielleicht hat er aber Recht und das ist alles, was über Friedman zu sagen ist. Vielleicht aber habe ich Recht, der ich mehr in ihm sehe. Friedmann hatte ich um die Mitte der sechziger Jahre durch Publikationen kennengelernt, die in die von Hochbau und Konstruktionslehren über Stahlbeton, Stahl oder Holz dominierte Architekturlehre eindrangen wie ein Sonnenstrahl durch Glasfenster ins Innere einer Kathedrale. Im Herbst 1966, als ich schon in den USA war, hatte er – wie Huth meint, auf meine Veranlassung -, in Graz einen Vortrag gehalten, zuerst an der Hochschule, dann spontan nach Anruf von Studenten im Forum Stadtpark. Meine erste Begegnung liegt schon etwas im Dunkel der Erinnerung, aber ich war in der Entwicklung über meine ersten Vorstellungen, sozusagen von einer mittelalterlichen Stadt mit Ausbauzonen, Wegen, Gassen und (Fußgänger-) Straßen irgendwo am Firmament schon weit hinaus gelangt. Auch das schon erwähnte Wohnbauprojekt mit einem Netz aus Erschließungsstegen, Spieltrögen und Ausbauzonen war fertig. So sah ich ein ganz anderes Potential in Friedmans Arbeit als Burckhardt. Dieses ging, so sah ich es, weit über eine nicht verwirklichbare Flexibilität hinaus. Friedman schlug ein von der Erde losgelöstes Raumgitter vor, sozusagen in einem eigens geschaffenen Architekturhimmel. Ich nahm es nicht allzu wörtlich, verstand es als mehr als ein Tragsystem, hatte ich doch selbst ein ganz ähnliches Problem: Wie sollte man eine bauliche, auf einem Raster aufbauende Struktur darstellen, wenn man sie eher als latente Struktur denn als Tragsystem verstand? Also baute auch ich, und in der Folge Freunde wie Heidulf Gerngroß, Helmut Richter und Horst Hönig (kurzzeitig übrigens auch Eilfried Huth) Raster oder Erschließungsstrukturen, an denen sich austauschbarer Ausbau ansiedeln konnte. Das billigte ich auch Friedman zu. Man war Neuem auf der Spur, zwar stolz darauf, aber ohne Eifersucht: Das „Goschen-Halten“ von Kadalaken kam erst unlängst auf. So war es auch, als ich Friedman im Frühjahr 1967 an der Harvard traf – für mich ein Wiedersehen, aber es war wohl das erstemal – und ich ihm in meinem Untermieterzimmer Pläne der Ausstellung in der Neuen Galerie zeigte. Es war die persönliche Fortsetzung einer Freundschaft, die gedanklich mit Veröffentlichungen begonnen hatte und die zu einem weiteren Treffen, etwa um 1972 an der UCLA führte. Einer seiner Jünger weilte ein Semester an der Schule und ich konnte ihm helfen, Friedman zu einem Vortrag einzuladen. Er hatte sich noch weiter von der Architektur entfernt und weitgehend mit Mustern und Geometrien befasst. Etwas davon ist mit unauslöschlich in Erinnerung geblieben. Yona verwendete das Wort planar, und in einer Schule, an der Planner eine zu den Architekten antithetische Stellung einnahmen, wurde aus planar planner, was keinen Sinn machte. Was sollte das Ganze, hieß es unter Architekten und die Planner, mehrheitlich Juden wie Friedman auch, waren gar nicht erst erschienen.

Jedenfalls hielt ich Yona nicht für so beschränkt, auf die Möglichkeit unbegrenzter Flexibilität und ständigen Um- und Ausbaus zu bestehen. Ich sah seine Darstellung als ein Gedankengerüst, mit dem er Baumasse auf ein Minimum, das Gitter, reduzierte. Für mich ist er einer, der etwas bewegt hat. Im Rückblick aus einer Zeit, wo nur Aufträge den Berufsstand bewegen – eigene, selbstverständlich, - nicht gelesen wird, Theorie nicht publiziert wird und von intelligenten Personen behauptet wird, Architekturkritik sei unmöglich geworden, mutet er wie ein Transplantat einer anderen Spezies oder aus einer anderen Welt an: Verzeiht mir die Euphorie. Er geht uns sehr ab. Immerhin verfehlte Yona seine Wirkung nicht, wenn er auch keine Breitenwirkung erreichte, denn das gab es wie immer: eifersüchtige Nabelschau und das sich Abgrenzen statt Händereichen dem verwandten Geist. Mehr war für ihn nicht drinnen als ein momentanes Leuchtfeuer und späteres Gedenken. Für Architekten war er zu wenig Architekt und, zum Unterschied von Peter Cook, ist er kein Blender und Performance Artist. Ich liebe ihn.

Die zweite Utopie, auf die Burckhardt eingeht, ist das Tokio-Bucht Projekt von Kenzo Tange. Das war natürlich etwas für Architekten, kein “Luftgespinst“, sondern was Baubares. Wenn sie je eine Architekturzeitschrift in der Hand gehalten hätten, die Herren Pöchacker und Haselsteiner, das wäre was für sie. Es aber geistig auf die Welt der japanischen Tradition zu reduzieren, wie Burckhardt es tut, ist wenig hilfreich. Tatsächlich ist nämlich Tange eine Schlüsselfigur in der Öffnung Japans zum Westen. Er ist Japaner, wie ich Europäer bin, aber die Welt war auch damals schon ein globales Dorf, nur ein anderes als heute. Sicher wusste Tange um die Utopien in Europa, hatte er doch mit den Metabolisten (Kurokawa, Kikutake; von ihm geförderte) Utopisten im eigenen Land. Sicher kannte Tange amerikanische Autobahnen, ihre Verstopfung und das Problem des Individualverkehrs. Vielleicht kannte er Friedman und zog einen ähnlichen Schluss daraus wie ich: Beginnen wir mit einem übergeordneten Verkehrssystem und lassen wir die Zonen dazwischen frei (die Woods und ich mit Gittern und Netzen füllten, aber darinnen Ausbauzonen sahen). Es war aber kein Wohnbau, auch keine innerstädtische Struktur wie im Zentrum von Frankfurt und kein Universitätsquartier wie in Berlin oder am Fuße des Mönchsbergs. Es war eine Großstadt, der er das Gerüst zugrunde legte. Nicht das, was LC mit der Verpflanzung der Strahlenden Stadt ins Zentrum von Paris tat – ich behaupte, ohne dies wörtlich zu meinen, wie es ihm die in architektonischer Missgunst schwelgenden Kleinkrämer vorhielten -, tat Tange in Tokio oder darüber. Er erweiterte die Großstadt in die Bucht hinaus. Seien wir doch nicht kleinlich: es ist ein großartiger Wurf, der realisiert hätte werden sollen. Eine Gesellschaft, die um mehr Geld tausende Bohrinseln baut, mit dem Geld, das der Vietnamkrieg verschlang, neues Land im Meer hätte bauen können, hätte dieses Projekt nicht in Angriff nehmen können, die einzige Utopie, die verwirklichbar war? Selbstverständlich wäre sie nicht genau so zu realisieren gewesen. Aber auch Perlen bedürfen eines Sandkorns, um sich zu entwickeln. Kenzo, Dich habe ich nicht kennengelernt, aber immerhin Isozaki und Taniguchi; auch Dich liebe ich.

BERNHARD HAFNER wurde 1940 in Graz geboren. Er studierte an der Technischen Universität Graz und an der Harvard University. Hafner war Professor und Gastprofessor an der University of California, Los Angeles (bis 1974), Cornell University (1974), University of Texas, Arlington (UTA, 1977-79) und am New Jersey Institute of Technology (2000, 2005). Er ist seit 1976 als freischaffender Architekt tätig und betreibt seit 1980 ein Architekturbüro in Graz. Außerdem ist er Verfasser zahlreicher wissenschaftlicher Arbeiten und theoretischer Texte zur Architektur.

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