19/08/2007
19/08/2007

sonntag 188

Wenn es keine Zeit mehr für den Genuss der Alltagsrituale gibt, soll gerade hier im Sinne der Schöpfung das Leben eigentlich begonnen werden

Kleine Akkordlehre

Von Bruno Richard

Angesichts der herrschenden Welt des Betons, der glatten Flächen und der klatschenden Schrift- und Spruchzüge, wodurch nur noch gereizte Wesen in Millionen kompakten Wagen vorbeihetzen, erscheinen nostalgische Nischen sowie durchsichtige Gesellschaftsräume ferner zehn Quadratmeter weit oder Grünsicht wie Oasen! Oder nennen sie mir in der Stadt eine Fußstrecke, wo Menschen sich nicht zwangsläufig mit der Mittelmäßigkeit des Diskonts und den grauen Gebäuden – inklusive etlichen der zeitgenössischen Architektur – abfinden müssen. Ferner, wo Menschen Kraftwagen nicht sehen, hören, riechen und ausweichen müssen. Was sind denn dies für fortschrittliche „Wohnstädte“, wo meist neben künstlicher Luft mehr als die Hälfte der Fläche – und zwar kilometerweit, Kraftwagen Kopf an Kopf parken oder vorbeisausen? So wachsen seelen-, menschenlose unwirtliche Straßen, ohne Geschäfte, ohne Pflanzenwuchs, kinderlos. Flankiert wird das Bild von nicht endenden friedensstörenden Baustellen, welche meistens nicht aus Not, sondern aus der Profitgier „Mehr zu wollen“ entstehen. Feinstaub und Hämmer statt/oder Staubzucker und Kammermusik? Wer eine Stadt liebt, unterstützt bewusst seine Wohnnähe, seine kulturelle und typische Stätte, geht langsamer, beansprucht keine öffentliche Fläche für sein Automobil und verteilt seine Mittel für die lokalspezifischen Bemühungen, um die Jahreszeiten hier gemeinsam und lebenswert zu genießen.
Eine mutige Stadt würde flächendeckend große Zonen anbieten wie etwa der Juden- oder Franziskanerplatz oder die Nagler- oder Brunnenmarktgasse, ferner Alleen, Grünstreifen wie im Cottageviertel, breite öffentliche Parkanlagen, welche nicht als Ghettos für Arme und Unbewegliche gelten sollten. Gleichgültigkeit in Saus und Braus entfremden eine Gemeinde.
Tja, früher hat es sich der Wiener zwischendurch und immer wieder recht gemütlich gemacht, nun „die Moderne“ hat ihn unter Druck gesetzt.
Anfangs hat er versucht, was zu erledigen war, so geschwind wie möglich zu schaffen, in der Hoffnung, die Zeit danach zu genießen, was utopisch erschien, denn es wurde ihm immer mehr abverlangt und das machte ihn rasend böse. Hinzu kommt, dass aus der Provinz – oder aus dem Ausland stammende Führungskräfte längst das Tempo vorgeben. Böser Wiener?! Armer Wiener!
Hier gibt es den frechen Wind alias Wienerlack: das „Ja-Na“, „Morgen vielleicht“, Man sieht sich“, Ba, ba“.
Die spöttischen Flakriesen, den Ottakringer Malz- und Waffelduft, die Dopplerkultur, die Grillwürstelunkultur, das Tröpferl vom Dach zur Gehsteigmitte, die Holzleisten als Dachlawinenschutz, die vertraute Bim, deren Zuggarnituren oft neu/alt gemischt angekoppelt werden, die Wiener Zeitung, das „Neue Testament“ Falter, die angemessene Kaffeemenge der kleinen Tassen, die wachsende Balkanstadt, die Ankerbrot Soziomodernität, die mächtige Wehmut der Backsteingroßkirchen (Mexikoplatz, Uhlplatz...). Das „aussätzige“ Jugendstiltheater am Steinhof, die ewig trauernden Türme des Rotwien Modern (Südturm, Ringturm...), den Donaukanal – als Blinddarm erhalten, die glatten, düsteren Fassaden des Wiederaufbaus, dazu die starren Schriftzüge der Benennungsnamen, das Zwanzger Haus – dem damaligen schüchternen Versuch – vorerst in der Pampa – ein Haus für die Moderne zu bespielen, die Politschaukästen „Prosit Neujahr!“ vom Bezirksrat, den Süd/ Ostbahnhof mit Rolltreppen im Jetsetstil, die Stammersdorfer Weltfreude in Bescheidenheit, das Strandbad Alte Donau, von dessen Steg der Blick gegen Floridsdorf an den Hohen Norden erinnert, die Rebstockwege als Verdauungstrakt für Seele und Magen, die Badener Bahn, welche sich bis zur Oper wagt, die Kaffeebohnenziffer der Linie 0, das fliegende Badetuch vormittags im Krapfenwaldbad, wo man nach dem Bade auf die Stadt Chlor spucken kann. Das rundherum Flüssige am Klosterneuburger Gewässer, den Kultrang einiger Stadtverbindungen wie den D-Wagen, U4, 13A, Ring-Kai-Ring, Tangente, Zweier Linien... . Die unheimliche Wildnis rund um die Währinger Sternwarte, die brave distanzierte Wienerin, dargestellt – gerade deswegen? – als matte, fatale Frau in Form der Werbungstafelbilder à la Palmers oder Römerquelle, die Dampferstimmung beim Teetanzen im Volksgarten, die Schlafstunden, die alle verbinden, welche die Stadt endlich durchatmen lassen.
Nun, gefällig warme Wannen der wienerischen Oasen: Alt Wien Drechsler (geschlossen seit Herbst 2005), Hummel, Weininger, Jelinek, Aida (Opernring, Wollzeile...), Rüdigerhof, Café Club International, Magistrat, Reinthaler, Dombeisl, Gmoakeller, Adlerhof, Wratschko, Haus am Stoan, Zur Wildsau, Europa, Amerlingbeisl, Amacord, Bendl Pavillon im Volksgarten, Uraniakaffe, dazu alle kleinen Geschäfte vom Wiener Schlag, welche der „geilen Zeit“ noch die Stirn zeigen.
Obwohl das Raunzen des Wiener Dialekts meinem Geschmack nicht entspricht, obwohl die Schrammelmusik und das Wiener Lied, ferner der Wiener Walzer im Alltag kaum noch erklingen, spricht es für die Seele Wiens als Weltmetropole, dass diese Stadt zu denjenigen gehört, wo zwei markante Musikrichtungen vorzufinden sind: nämlich die des Volkes und jene des Großbürgertums.
Umso berührender erwischt es mich, wenn weit außerhalb von Wien, die Walzerseligkeit mich stolz daran erinnert, dass mein Schicksal irgendwie von jener Essenz gebraut zu sein scheint: ein Schritt des Glücks, zwei des Bremsens; Intra Muro sowieso.
Nun soweit wieder... hoam nach Fürstenfeld!
Bruno Richard
1960 in Lothringen - Frankreich geboren, im Herzen Österreicher.
1983-1989 Studium der Malerei bei Friedensreich Hundertwasser an der Akademie der Bildenden Künste in Wien
Fügerpreis 1985 -1988, Preis der Meisterklasse 1985
Ab 1982 Beschäftigung mit der Kunstfotografie im Sinne des piktoralen Stils, seitdem verstärkte Wahrnehmnung der Lebenskunst als Basis für die Umwandlung der Kunst zum Gegenstand.
Wenn es keine Zeit mehr für den Genuss der Alltagsrituale gibt, soll gerade hier im Sinne der Schöpfung das Leben eigentlich begonnen werden.
Zahlreiche Ausstellungen mit Malerei und Fotografie in Europa sowie häufige Kulturreisen durch die Welt.
Liebhaber der Achse Wien - Laibach - Triest, der Zwanziger- Dreißigerjahre und der Volkskunst allgemein.
Längere Aufenthalte in Annecy, Bayreuth, Tegensee, Wien, Laibach, Sao Filipe und Roseau.
Lebt und arbeitet in Graz.

Verfasser/in:
Von Bruno Richard
Netzwerktreffen
16. + 17.11.2023
 
GAT+