23/09/2007
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sonnTAG 193

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Die Durchdringung von Architektur mit Hilfe des Automobils. Klaus Kada/Gernot Lauffer, 1972. Fotos: Klaus Kada, Helmut Trummer

Die Durchdringung von Architektur mit Hilfe des Automobils. Klaus Kada/Gernot Lauffer, 1972. Fotos: Klaus Kada, Helmut Trummer

Ernot Auffer:
Die Werkzeuge eines Architekten

Der Architekt zeichnet. Mit dem Bleistift. Dem dicken, dem genialen, dem 6B.
Auf Aquafix, ein dünnes Butterpapier von der Rolle. Oder mit Filzel, grüner
Ballpentel, ganz schwarz und wechselnd dick, je nachdem, wie alt er ist. Und
mit einem Papierkorb. Dort landet das Be-Zeichnete.
Das ist natürlich alles nicht mehr wahr, seit die Computerei von den
Architekten Besitz ergriffen hat. Aber die alten Archis, die können liebend
gerne vom Mausen lassen und vom Screenen, die operieren noch mit den
traditionellen Werkzeugen, wenn sie noch operieren.
Also, der Architekt hat einen Stift, einen dünnen, eleganten, schwarz und hin-
ten drauf ein roter Knopf, ein Kugerl. Mit diesem Stift macht er gezielte
Striche, wenn er was erklärt, wenn er eine Weihe macht, wenn er einweiht in
das Geheimnis des Kreativen, wenn er teilnehmen lässt an der Erschaffung
der Welt. Die Mine gleitet, nein strebt über das Papier: Leicht zittrig, doch
bestimmt, beherrscht und zielsicher bringt sie mit klaren Linien das
Vorzustellende auf das Papier: Die flächige Darstellung einer räumlichen
Vorstellung.
Dazu der mystische Nebel, der jeden guten Orakelspruch umwabert wie
Dämpfe die Pythia, aus deren Nichts die Wahrsagungen aufsteigen. Der
Nebelspender zwischen Zeige- und Mittelfinger der linken Hand, die auch
das Papier festhält, mit dem Daumen und dem Ringfinger: Ein
Räucherstäbchen, glimmend am Buddha der Erkenntnis.
Die Zeichenlampe, das Aquafix, der 6B, der Ballpentel und der Tschickomat,
die Marlboro-Schachtel halt, die Angerauchte und der Aschenbecher, ein
großes Gasthausmodell von anonymer Gestaltung, und der Papierkorb. Auf
den wird auch verzichtet. Notfalls. Der ganze Raum ein Abfallhaufen, wenn
es zugeht, wenn Pythia einen Wahrspruch nach dem anderen ausspuckt und
– verwirft.
Noch ein Werkzeug fehlt: Der Gin. Er sorgt für Spiritualität und den herben
Nachgeschmack. Er, zärtlich GinBumm genannt, verdichtet die Atmosphäre,
entführt, erhebt, strukturiert, konzentriert, verfeinert, vergeistigt, verklärt und
berauscht: Transsubstantiation der Gedanken. Aber nur wenig. Eigentlich
gar nicht. Höchstens eine leichte Entrückung, eine hellsichtige Illumination.
Hermetisch die Insel des Lichts auf dem Tisch, die Gesichter erhellt vom
zurückgeworfenen Schein, rundherum Finsternis und nächtliche Stille.
Unerwartet das Telefon. Wie? Was? Wer? Noch andere Menschen? Aus
einer anderen Welt dringt ein Anderes ein, bricht die Geschlossenheit der
'Gebärmutter' auf, reißt aus dem warmen Brei der Emotionen, aus dem
Denken, den sich fortzeugenden Gedanken in inselhafter Abgeschiedenheit,
gerichtet einzig auf die Aufgabe, die Erfassung, die Lösung: Die Idee auf-
spüren, sie erspüren, sie kommen lassen, sie stärken, verstärken, sie in
Gang bringen, ihr Schwung geben, sie in den Griff kriegen, sie auf den
Begriff bringen, zum Ausdruck bringen, sie darstellen. Und das Glücksgefühl:
Das ist es. Genau! Und dann: Haut es hin? Ist es spannend, elegant, richtig?
Funktioniert es? Stimmt der Ansatz? Ist es das Beste, das Beste vom
Besten? Die sich verfestigende Idee verfolgen oder verwerfen?
Steigt nicht doch wieder eine Vorstellung auf von dem, was eigentlich sein
sollte, wirklich sein sollte? Die absolute Lösung jenseits jeglichen Verdachts
von Trend, Anpassung und Unterwerfung. Ist es stimmig in sich, mit sich,
mit der Welt? Wird man es hinauslassen können, es selbst überzeugen
lassen, selbstverständlich, eindeutig, zwingend in den Rissen, den
Ansichten, den Perspektiven, dem Modell? Erhaben, über jeden Verdacht
erhaben?
Erst steigt eine Ahnung auf, ein Gedanke, eine Idee, ein Ansatz zu einem
Entwurf entwickelt sich, steigt auf aus dem Kribbeln des Adrenalins in der
Brust, aus einem Druck im Hals, aus einem vagen Gefühl, einem Spüren,
Nachspüren, Nachsehnen. Das Sehnen nach Klarheit, nach
Vollkommenheit, nach Endgültigkeit. Des richtigen Weges sicher, der
Erlösung gewiss, weiter bestehend über den Untergang aller Welten, so
genau, so bestimmt, so gewiss.
Und dann der Sturz. Der Absturz in die Hölle des Zweifels, der Kritik, der
Demontage, der Vernichtung. Die Widersprüche werden schlagend, drück-
end, der Traum von Absolutheit und Ewigkeit kriegt Risse, bröckelt, zerfällt.
Ach ja, das Telefon, der Einbruch in die wabernde Ursuppe, in der die Welt
immer wieder neu erschaffen wird. Das Allgemeine dringt ein, die triviale
Welt mit ihren Beziehungen und Terminen, mit Problemen und
Forderungen.
Das Andere meldet sich, und mit ihm die Bestätigung in einem Anderen, im
Widerhall des Anderen, an und für sich angenommen zu sein wie das Kind
von der Mutter, angenommen zum fruchtbaren Gespräch in gegenseitiger
Bejahung. Die Entdeckungen und Erfindungen, die Gefühle und
Empfindungen mitteilen zu können, sich auslagern zu können auf einen
Außenposten, in eine Nährlösung, in ein Wachstumsbiotop. Das Telefon
bringt den Dialog mit einem anderen anstatt des Monologs in sich selbst,
den Austausch mit einem, der Entwicklung verspricht, die in ihm totgelaufen
scheint. Das Andere wird beladen, aufgeladen, aufgehäuft, aufgetürmt. Die
Sendung, die Beladung wird zu einem Fremden, wird von außen gesehen,
mit Abstand, scheinbar unbeteiligt, aus der Ferne.
Es ist ein Hoffnungslauf, wie eine junge Liebe. Alles ist möglich, alles wird
zugetraut, alles erwartet. "… das Schönste sucht er auf den Fluren, womit
er seine Liebe schmückt".
Er steigert sich am Gegenüber, spendet, schenkt, liefert, lizitiert in
schwindelnde Höhen. Das Selbstgefühl wächst, regt an, erregt, macht
bewunderns- und begehrenswert. Gemeinschaft bildet sich, eine ver-
schworene Gemeinschaft, eine Verbindung von Auserwählten, von
Wissenden, von Hervorbringenden, von Schaffenden: Die Gemeinschaft
der Kreativen. Er wächst über sich hinaus, hebt ab, überwindet seine
Grenzen. Gottvater und Gottessohn, und darüber der heilige Geist der
Eingebung, der Erkenntnis, der Erleuchtung?
Irgendwie und irgendwann kommt die Übertragung zum Ende, erschöpft
sich das Erregen, das Steigern, das Entäußern. Er ist wieder weiter gekom-
men, hat einen Sprung gemacht, ist über sich hinaus gewachsen, hat eine
neue Dimension erreicht. Mithilfe des anderen, durch den anderen, auf dem
anderen. Der Gebende hat sich verausgabt, der Beschenkte wird funktions-
los, läuft leer, wird unbrauchbar, nutzlos.
Ein Werkzeug fehlt noch, die Zelle der Meditation: Ein abgeschlossener
Raum, die Kapsel auf Rädern für den Traum des Knaben vom Rennfahren,
für die männliche Lust an der Technik, der Mechanik, der Maschine. Die
Begeisterung für das Funktionieren eines Apparats, für die Beherrschung
der Maschine, für die Kraft des Motors: Aufreizen, aufheizen, hinaufjagen
bis an die Grenze, der Schaltruck, die Maschine greift abrupt, jault hoch
von Neuem ... Die Straße im Blick, den Verkehr, die Landschaft, die Technik
im Griff, alle Informationen erfasst, alles koordiniert, alles kontrolliert. Das
Bewusste gespannt, alle Sinne wach. Gebündelt die Aufmerksamkeit der
Oberfläche, gefangen in der Neugierde, der Schaulust, der Abenteuerlust,
das Bewusstsein voll in Beschlag.
Das Unbewusste drängt nach oben, das Suchende, das Erfindende: Das
Eigentliche: Finden, darstellen, verwirklichen – sich selbst verwirklichen.
Das Bewusste vereinnahmt von Rennsucht, Gefahrsucht, Geltungssucht.
Und unter den Süchten des Knaben unmittelbares Gefühl, reine Ahnung,
heftige Lust: Erfinden, Gestalten, Vollbringen – Kunstlust: Erschaffungslust,
Gebärlust: Eigentlichkeit im Entstehen, im Werden, immer anders, immer
neu – immer gleich. Das Unfassbare greifen, das Geahnte entnebeln, das
Vage kristallisieren, das Gespürte fangen, fassen, darstellen.
Die Vorstellung verfestigt sich, kriegt Kontur, wenn sie kann, wenn sie darf,
wenn man sie lässt, sie nicht vorzeitig drängt, zwingt, fesselt, fixiert: Zu
konkret, zu ehrgeizig, zu eitel. Vom Bewusstsein befreit, entfaltet sich
Weite, Höhe, Tiefe in Raum und Zeit, wächst unbehelligt, an und für sich,
l'art pour l'art. Das Entstehende strebt aus der Deckung, von der
Oberfläche unbehindert, unbeeinflusst, unbeengt.
Die fährt wieder ihr Rennen mit vollem Einsatz, mit allen Kolben des
Motors, mit allen Gängen des Getriebes, mit allen Dämpfern des
Fahrwerks, mit allen Backen der Bremsen, mit allen Lamellen der Reifen,
mit allen Rohren des Auspuffs. Die Oberfläche ist vereinnahmt vom
Lenkrad, vom Gas, von der Schaltung, der Bremse. Ein Fest des
Funktionierens, eine Meisterschaft der Beherrschung, eine Symphonie des
Zusammenspiels. Mensch und Maschine verbinden sich, werden zu einem
Ganzen, zu einer Maschinenmenscheinheit.
Im Auge des Zyklons ist es windstill, und im Zentrum des
Funktionsspektakels ist Gott zu Gast wie in einem stillen Kreuzgang inmit-
ten der lärmenden Stadt: BMW 320 oder so, oder wie, oder was – schwarz,
ohne Aufschrift, mit dicken Reifen. (1999)

ernot auffer, * 1942 kitzbühel, kindergarten zell am see, volksschule graz/huben/graz/huben/graz/huben/graz/huben in osttirol, realgymnasium innsbruck, architektur th graz, seither immer und wieder dies und das in graz.

Verfasser/in:
Ernot Auffer
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