14/10/2007
14/10/2007

sonnTAG 196

Lonely Planet Burma

Wilhelm Hengstler

Von der weiten Terrasse des Mandalay Hill reicht der Blick weit über die Stadt bis hinüber zum Irrywaddi. Am Horizont schimmerte noch das Band des Flusses, während Regengüsse schon in breiten Streifen auf uns zu jagten. Die Sonnenbrille konnte ich nun abnehmen. Ich hatte mir vor dem Abflug nach Burma im Khan Market, New Delhi dieses ziemlich teure Stück europäischer Provenienz besorgt, das sich aber infolge der durch die Hitze bedingten Wechsel der Spannungsverhältnisse extrem verzog. Am Morgen war die Sonnenbrille zu meinem Erstaunen nicht mehr auf dem Tisch, sondern auf dem Fußboden gelegen, und das linke, aus der Fassung gesprungene Glas war irgendwo daneben.

Als 3 Jahre später, September 07, die buddhistischen Mönche und mit ihnen viele andere gewaltlos in den Straßen Burmas protestierten, erinnerte ich mich an den Besuch bei den „Moustache Brothers“ in der 39. Straße in Mandalay. Wusste ich (noch) genügend über Burma, hatte ich jemals etwas gewusst? Lange Zeit war ich der Meinung, dass es sich nicht lohne über etwas zu schreiben, das man nur undeutlich im Gedächtnis behielte. Nur das Unvergessene garantierte die Bedeutung mehr oder weniger leicht hingeschriebener Erinnerungen. Was man sich nicht merkte, bräuchte man auch nicht zu erzählen. Nichts erregte mir mehr Argwohn, als das Notieren von Eindrücken, das Fotografieren und schließlich das Auswerten all dieses Materiales, um – ja, um was? - vorzutäuschen. Etwa die falsche Bedeutung des wahrhaft Bedeutungslosen? Aber vielleicht war das nur eine Theorie zur Rechtfertigung meiner Trägheit, die eben diesem Notizenmachen, Fotografieren und Hervorkramen abgelegter Erinnerungen im Wege stand.

Am Nachmittag hatten wir über den ziemlich breiten Irrywaddi zur unvollendeten Mungin-Pagode übergesetzt. Der gewaltige Pyramidenstumpf aus gebrannten Ziegeln, den ein despotischer Bauherr für sich hatte bauen lassen, beeindruckte schon vom Wasser aus. Der Bauherr selber war noch vor Vollendung seines düsteren Monumentes erschlagen worden. Im 19 Jahrhundert hatte dann ein Erdbeben für einen klaffenden Riss gesorgt, der sich vertikal durch die Vorderfront zog. Die Riesenpagode erinnerte an die „Métal hurlant“ - Comics mit ihrer pittoresk gezeichneten Architektur aus einer längst vergangenen Zukunft.

Auf der Staubstraße, die sich zwischen Fluss und Pyramide hinzog, trieb ein Betrunkener seine Buckelrinder im Joch derart an, dass sogar dieses archaische Gefährt noch eine Ahnung vom Chaos unkontrollierter Geschwindigkeit vermittelte. Selbst von der Höhe des Pyramidenstumpfes – einer mit hartem, gelbem Gras bewachsenen Fläche groß wie ein Fußballplatz – sah und hörte man den Betrunkenen tief unten zwischen Verkaufsständen, fliegenden Händlern und Neugierigen krakeelen. Niemand griff ein, wie fast immer schienen die Burmesen mit einer unsichtbaren, elastischen Freundlichkeit imprägniert zu sein. Was die Generäle bauten, war wie man auf der Terrasse des Mandalay Hill sehen konnte, nicht ganz so pittoresk, aber gleich pompös. Der Regensturm fegte nun um die überdachte Terrasse des Mandalay Hill. Es war ganz angenehm, auf dem Boden zu sitzen und, den Rücken gegen ein Säule gelehnt, zu verfolgen, wie die Mädchen in ihren von der Nässe durchsichtigen Blusen Schutz suchten. Die unglaublich großen Regentropfen zerbarsten an den verspiegelten Wänden, und das im Aufprall frei gesetzte Licht erhellte über die vielen Spiegel die Gewitterdämmerung.

Im Song “Space Captain” von Joe Cocker und Leon Russel heißt es "once while travelling across the sky this lovely planet caught my eye". Aber Tony Wheeler, verhörte sich, und deswegen heißen die einflussreichen Reiseführer, die er mit seiner Frau entwickelt hat, „Lonely Planet“. Kein schlechter Name, vor allem, wenn er sich auf Burma bezieht. Unser Führer empfahl den Besuch eines Kabaretts, das von den „Moustache Brothers“ geführt wurde, vermutlich um selber aus dem Schussfeld der Kritik zu gelangen. Ich erinnerte mich dunkel an einen Hollywoodstreifen, der im Börsenmileu spielte, und in dem einer der Protagonisten sagte, sein Leben erinnere ihn an Burma, wo man schon für einen Witz eingesperrt würde.

Nun ja, der Realismus von Hollywood hat wenig mit der Realität der Welt zu tun, in der man – nicht nur in Burma – immer wieder ziemlich häufig Gefahr läuft, für einen Witz eingesperrt zu werden. Der Lonely Planet informierte uns darüber, dass Par Par Lay, der Kopf des Trios, tatsächlich mit seinem Cousin und Mitarbeiter Lu Zaw 1966 nach einer Protestveranstaltung im Haus der Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi in Rangoon festgenommen und in der Folge zu sieben Jahren Gefängnis bzw. Zwangsarbeit verurteilt worden war. Zuvor hatte das Trio, zu dem auch Lu Maw gehört, wegen ihres regimekritischen Programms natürlich schon eine gefährliche Berühmtheit erlangt.

Der Abend bei den „Moustache Brothers“ war unterhaltsam, ja sogar spannend gewesen, hatte aber auch Gefühle der Ambivalenz geweckt. Damals schien mir das ein Thema zu sein, auf das ich irgendwann zurückkommen würde, und die aktuellen Ereignisse in Burma wurden zum konkreten Anlass für diesen Text. Aber wie viel wusste ich noch von damals? Trotz meines angeblichen Misstrauens gegenüber Tagebüchern, Fotografien, all den üblichen Tricks, dienlich um dem Vergessen ein Schnippchen zu schlagen, hatte natürlich auch ich Erinnerungen gesammelt. Nicht ganz so radikal wie das, was ich über den Wert des Vergessens sagte, war ich nicht davor zurückgeschreckt alles in einer Schachtel aufzubewahren, die aufzufinden kein Problem sein sollte. Gelegentlich hatte ich in ein Moleskinebüchlein geschrieben, wie es angeblich schon Hemingway benützt hatte.

Ein Problem würde darin bestehen, das richtige, kleine schwarze Buch zu finden und die verblasste Bleistiftschrift darin zu entziffern. Das T-Shirt mit dem großen Porträt von Par Par Lay war bei der Wäsche und kein Problem. Es gab auch noch Farbfotos, auf denen das Blitzlicht allen Porträtierten die rot glühenden Augen von schlecht integrierten Aliens verpasst hatte. Und dann war da noch eine DVD über das Kabarett, die wir damals gekauft, aber niemals angesehen hatten. Auf ihr hoffte ich Ausschnitte jenes Hollywoodfilmes zu finden, in dem Bezug auf die Gefahren des Witzereißens in Burma genommen wurde.

Nach dem Abendessen ließen wir uns, das wenigstens weiß ich noch, von Sunny zu den „Moustache Brothers“ bringen. Es war dunkel, Menschen auf den Gehsteigen schwatzten, lungerten herum oder handelten, alles in einem gedämpften Tonfall. Das Licht aus geöffneten Türen spiegelte sich in Regenlachen, die Beleuchtung war so trüb, dass sie eher von Petroleumlampen zu kommen schien. Das matte Licht erweckte gleichzeitig Ahnungen von einem freundlichen Märchen und unbestimmte Angst vor einer fremden, undurchschaubaren Welt.
Wie die anderen Häuser in dieser Straße öffnete sich auch das Haus der „Moustachche Brother“ ebenerdig und ohne Schwelle in ihr zu einem Showraum umfunktioniertes Wohnzimmer hinein.

Die Nachbarn saßen mit unbeteiligter Miene auf dem Gehsteig, während die Besucher durch den hell beleuchteten, mit Puppen dekorierten Eingang passierten. Sunny fragte, ob wir allein zurückfänden und verabschiedete sich. Die Gäste, ausnahmslos von Lonely Plante gelenkt, nahmen auf der Reihe aus vielleicht fünfzehn Stühlen Platz, nah genug am Geschehen, um die Künstler anzufassen. Alle drei „Moustache Brothers“ trugen, wie bei dem Namen anzunehmen, buschige Schnurrbärte – eine Seltenheit in Asien – und wurden bei ihrem Programm von zwei Tänzerinnen unterstützt.

Soweit glaubte ich mich zu erinnern, dann begann ich mein eigenes Material zu suchen. Es fanden sich auch Schachteln, aber keine, deren Inhalt meinem Gedächtnis auf die Sprünge helfen konnte. Aber ich suchte weiter, kramte jeden Bilderumschlag hervor, wendete jedes einzelne Foto in der Hand. Alles fand ich, mein ganzes Leben, nur Mandalay nicht. Der unerklärbare Verlust einer Sache kann so etwas wie Phantomschmerz verursachen. Bevor mich dieser Schmerz überwältigte, wandte ich mich an meine Reisegefährtin und Tochter. Ob sie das Material mit sich genommen hätte? Tatsächlich, der Phantomschmerz beruhigte sich, sie hatte. Fotos und DVD lagerten allerdings für die nächsten sechs Monate in einem Container, bis sich eine neue Wohnung gefunden hätte. Der Leser wird bemerkt haben, dass meine letzten Sätze beinahe ein Stakkato aufweisen. Nun, ihre Kürze steht in entschiedenem Gegensatz zu der langen, mühevollen Suche.

Das Programm wurde hauptsächlich von Lu Maw präsentiert, der als einziger der drei ein sehr vitales Englisch spricht, wobei er stets betont, dass Par Par Lay die Nummer Eins sei. Geboten wurde eine bunte Mischung aus Vaudevilltheater, traditionellem Tanz und Sketches und Satire, unter starker Einbeziehung des Publikums. Viele der sarkastischen Witze handelten vom Niederschlag ihres Schicksals (ein Wort, das sie kaum gebrauchen würden) in den Medien. Die Moustakis als Medienphänomen waren realer geworden, als ihre Schatten aus Fleisch und Blut.

Die Jüngere der beiden Tänzerinnen musste eine große Schönheit gewesen sein, wie ihr Mann Lu Law mit einem alten Playboyheft demonstrierte. Sie war die erste und einzige burmesische Schönheit, die es auf den Titelumschlag des Playboy geschafft hatte. Hollywood, Hugh Hefner…Filme, Bücher und Zeitschriften waren in Burma, diesem Staat, der durch Zensur und weitgehende Abwesenheit allgegenwärtiger Unterhaltungselektronik geprägt ist, zum eigentlichen Thema der Show geworden. Dazu gehörte auch, dass sich Publikum und Künstler gegenseitig fotografierten, das Betrachten der unzähligen Fotos früherer (und berühmterer) Besucher an der Wand, der Verkauf von Puppen, T-Shirts und DVDs. All das hatte vermutlich das Überleben und höchstwahrscheinlich auch den bescheidenen Reichtum der Moustakis gesichert und vielleicht auch den Neid der Nachbarn erregt.

Aber dieses bunte Haus ließ sich gleichzeitig auch als etwas Trauriges deuten. Die Moustache Brothers durften ihre Show nur in englischer Sprache geben, die auch ihnen, mit Ausnahme von Lu Maw ziemlich fremd war. Das Publikum, für das sie ursprünglich aufgetreten waren, durfte ihre Vorstellungen nicht besuchen und kein Veranstalter in Mynamar auch nur daran denken die Moustaki Brothers zu buchen.

Vermutlich hatte keiner ihrer Nachbarn, die über ihren bescheidenen Reichtum vielleicht ein wenig Neid verspürten, diese Aufführung jemals gesehen. Bei Gefahr für Leib und Leben waren sie zu Fremden in ihrem eigenen Land, in ihrer eigenen Kultur, ja sogar in ihrem eigenen Haus geworden. Bloß wir, die wir eine Eintrittskarte oder ein T-Shirt gekauft, den Brüdern die Hand geschüttelt hatten, und dann wieder auf die nunmehr dunkle Straße getappt waren, handelten gefahrlos. Wir leisteten nur einen Obolus für politische Korrektheit, der darin bestand, sich unterhalten zu lassen. Die Bedeutung der Medien für die laufenden Ereignisse in Burma konnte vermutlich nicht überschätzt werden, aber je mehr das Engagement vom Infotainment genährt wurde, desto größer die Gefahr korrumpiert zu werden. Ich erinnerte mich der Geschichten aus meiner Kindheit, in denen alte Männer erzählten, wie sie als Jünglinge nach Spanien aufgebrochen wären, um sich der Internationalen Brigade anzuschließen.

Keine Flugreisen damals, kein Lonely Planet, dafür Arbeitslosigkeit und bittere Armut, aber vermutlich nicht vergleichbar mit dieser hier. Es gibt dieses Bild von dem republikanischen Soldaten, der mitten im Sprung von einer Kugel getroffen wird. Hatte das Cover von Playboy die berühmte Fotografie von Capra ersetzt?

Die Straße war nun nicht mehr belebt, und Rikschafahrer, die auf das Ende der Aufführung gewartet hatten, boten aus dem Dunkel heraus ihre Dienste an. Wir brachen gemeinsam mit anderen der Fans ins Hill Resort auf, um unser lebhaftes, politisches Engagment zu begießen. Das Bier heißt wie das Land „Myanmar“, ist ziemlich gut und kostete im Hill Resort um die 4 Dollar. Wir einigten uns darauf, dass der Hollywoodfilm in dem die Moustache Brothers erwähnt wurden „Wallstreet“ hieß, 1987 mit Michael Douglas, Regie natürlich Oliver Stone.

Nachdem wir unser Engagement um den Gegenwert mehrerer burmesischer Monatsgehälter gekühlt hatten, nahmen wir ein Taxi, dessen Fahrer erst große Probleme hatte, den Namen unseres Hotels, den wir nur irgendwie aussprechen konnten, zu erraten. Das Hotelschild, vor dem wir schließlich ausstiegen, trug den uns bekannten Namen, aber als wir begriffen, dass es sich um ein anderes Hotel handelte, war unser Taxi schon weg. Wir liefen über die heiße Straße, alles geschlossen, menschenleer natürlich und ziemlich unheimlich. Die einzige Gestalt, die wir erblickten, zögerte zu lange, und dann war es für sie zu spät, um uns zu entfliehen. Eineinhalb Straßen weiter trieb der freundliche Gefangene einen Mann auf, der in seiner Rikscha schlief. Nach weiteren phonetischen Anstrengungen führte uns der Mann zu dem Hotel, von dem wir grade gekommen waren. Mittlerweile machten wir uns bittere Vorwürfe, nicht eine der Visitkarten aus der Lobby des Hotels mitgenommen zu haben. Glücklicherweise half uns der Rikschafahrer, statt sofort wieder zu verschwinden, jemand herauszuläuten. Es zeigte sich, dass es ein weiteres Hotel mit dem Namen „Shway Yoe“ gab, ziemlich weit entfernt. Die Schlingerfahrt durch enge Gassen und Winkel mit ihren dunklen Gestalten, wurde immer unheimlicher. Zum Lesen des schematischen Stadtplanes im Führer war es zu dunkel, ganz abgesehen davon, dass uns das burmesische Alphabet nicht geläufig war. Aber wie jeder weiß, gehört eine niedere Kleinkriminalität zum Kollateralnutzen aller ansonsten Elend stiftender Militärdiktaturen. Schließlich landeten wir vor dem „Shway Yoe“, aber es war wieder nicht unseres. Der erschöpfte Rikschafahrer gab auf und ließ sich auszahlen.

Dafür tätigte der Portier, nachdem er unsere Pässe gecheckt hatte, einen Anruf und setzte uns in ein Taxi. Es schien uns unglaublich, aber tatsächlich gab es (zumindest) drei Hotels mit dem Namen „Shway Yoe“. Der Taxifahrer fegte wie der Teufel durch die engen Gassen, aber musste den Hund genau so wie wir oder noch zuvor gesehen haben. Es handelte sich um einen ungewöhnlich hellen Hund, so als ob ihm sein Fell abhanden gekommen wäre. Tatsächlich bewegte sich das Tier ungewöhnlich langsam über die Fahrbahn, es mag Selbstbewusstsein gewesen sein, Schwäche oder vielleicht auch die Hitze. Gelegentlich habe ich Leute von der Hitze so betäubt gesehen, dass sie, hätte man sie nicht zurückgerissen, bei hellem Tageslicht in ein Fahrzeug gerannt wären. Nach dem dumpfen Aufprall blickte ich durch das Heckfenster zurück. Es bot sich ein arges Bild, ein aufgebrochener Kadaver, schon mit Blut gleich einer Robe bedeckt. Es war schwarz in der Dunkelheit, und ich erinnerte mich, welche Probleme den Maskenbildnern das Blut in Schwarzweißfilmen bereitet. Es wirkt nie echt, obwohl es doch heißt, dass Schwarz-Weiß die Farbe der Wahrheit ist. Noch im Traum verfolgte mich dieses Bild des Todes, aber nun verhundert, vertausendfacht. „Shway Yoe“ Did you know that U2 wrote "Walk On" in honor of Aung San Suu Kyi? Neither did I.

WILHELM HENGSTLER ist Filmregisseur und Autor, ausgezeichnet mit dem Manuskripte-Preis 2004. Er lebt in Judendorf/Strassengel bei Graz.

Verfasser/in:
Wilhelm Hengstler
Netzwerktreffen
16. + 17.11.2023
 
GAT+