21/10/2007

Wild Sides
London – Paris – Berlin – Wien – Jakomini

Wiederabdruck aus Anlass der Grazer Gemeinderatswahlen im Jänner 2008. Der Beitrag ist erstmals erschienen in: T.T.T./THROUGHtheTEXT(URE), Rhizom (Hg); Graz 2005.

21/10/2007

Abbruch „Kommodhaus“, Graz, Innere Stadt, 2007

©: Wenzel Mraček

sonnTAG 197

Kommod-Haus in der Grazer Burggasse vor dem Abbruch

Verlauf des Kommod-Abbruchs in der Grazer Burggasse, im 2003

Verlauf des Kommod-Abbruchs in der Grazer Burggasse, im 2003

Warten auf Zaha Hadid: 12. Oktober 2007

Warten auf Zaha Hadid: 12. Oktober 2007

"Scharfes Eck" in Richtung Palais Jakomini, Poststation

Jakominiplatz

Jakoministraße

Vormals "Hotel Rhizom", Kunstverein, Jakoministraße

Drama Graz, ESC, Jakoministraße. Fotos: Wenzel Mracek

„Graz braucht eine Skyline!“ So kurz und zugleich umfassend drückte der vielfach als jung & dynamisch beschriebene Grazer Bürgermeister seine Ambitionen zur Stadtentwicklung aus. Ein erster Versuch einer Annäherung an das utopisch anmutende Desiderat wurde mit dem Um- und Überbau des Thalia-Komplexes unternommen, der als massiver Riegel mit formaler Nähe zu Wiener Flaktürmen zwischen Opernring und Kaiser-Josef-Platz hingeklotzt wurde und im Verlauf der Bauarbeiten mehrfach Gelegenheit bot, die Schwindelfreiheit des mit Schutzhelm bewehrten Bürgermeisters medial zu demonstrieren, indem er in einer am Kranarm hängenden Gondel über dem Traum einer Großbaustelle schwebte. Das ursprüngliche Konzept der Aufstockung zum Hotel- bzw. Bürobau wird vorerst nicht realisiert, es fehlen Investoren und Betreiber, es gibt keine vernünftige Überlegung einer wirtschaftlichen Nutzung – es besteht schlicht kein Bedarf.

Wie schon in anderen Fällen wurden ablehnende Meinungen respektive Gutachten der Altstadtsachverständigenkommission, die gegen das Bauprojekt Stellung bezogen, letztlich nicht berücksichtigt; vielmehr besteht augenscheinlich die Tendenz bei den verantwortlichen Stadtpolitikern, Raum zu schaffen für ökonomisch opportun erscheinende Baumaßnahmen mehr oder weniger potenter Immobilienmoguln, wie es sich auch am Beispiel des im Kulturhauptstadt-Jahr 2003 abgerissenen Kommod-Hauses gezeigt hatte. Der zu Anfang des 19. Jahrhunderts von Georg Hauberrisser d. Ä. erbaute und unter Denkmalschutz gestellte Biedermeierbau war über etliche Jahre dem Verfall preisgegeben, bis schließlich, entsprechend dem zahnlosen Denkmalschutzgesetz, eine Sanierung „wirtschaftlich nicht zumutbar“ erschien und der Abbruch sogar bauamtlich verordnet wurde. Der während der finalen Phase urlaubende und nicht erreichbare Bürgermeister hatte schon im Vorfeld bekundet, dass dieser „Schandfleck“ einem bereits geplanten Projekt weichen müsse. Dass dieses nun als von Baustadtrat und Bürgermeister akklamierter Entwurf von Zaha Hadid, hervorgegangen aus einem im Jahr 2004 initiierten Wettbewerb, präsentiert wurde, macht eine Realisierung in dieser Form und in nächster Zeit nicht wahrscheinlicher.

Im Umfeld der Kalamitäten wiegt aber schwerer die damit einhergehende Auflösung des von den maßgeblichen Stadtpolitikern offenbar als politisch konspirativ qualifizierten Wirtshauses Kommod, in dem sich – wenngleich nicht organisiert – auch bildende Künstler, Musiker und Schriftsteller trafen, denen nun eine Relaisstation entzogen zu sein schien. Die Situation tangiert ein Problem, das der Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich schon 1965 in seiner analytisch polemischen Schrift „Die Unwirtlichkeit unserer Städte“ wie folgt beschreibt: „... was sich hergestellt hat, ist ein Kapitalfall der Selbstzerstörung unserer städtischen Kultur. Nicht bei einer Gliederung der Baumasse, sondern bei einer funktionsfähigen Gliederung menschlicher Bezüge im Stadtwesen muß die Einstellungsänderung beginnen. Was wir beobachten, ist nicht nur die Flucht vor dieser Aufgabe in Traumklischees – wie das der Familie, die sich aber in Wahrheit nicht weniger ändert als die sozialen Beziehungen in der Arbeit; wir beobachten zugleich die Flucht in Raumästhetik, welche die fehlenden menschlichen Affektbeziehungen trügerisch ersetzen soll.“

Die Haltung des stets in dunklem Anzug, weißem Hemd und schlanker Krawatte auftretenden Bürgermeisters gegenüber seinem bürgerlich konservativen Verständnis nicht adäquaten Personen, ihrer äußerlichen Erscheinung und ihrer sozialen Befindlichkeit muss hier nicht ein weiteres Mal ausgebreitet werden. Entsprechend seiner Vorliebe für städtebauliche Maßnahmen kommt die Instrumentalisierung einer Gruppe so genannter „Punks“ - die im übrigen weniger mit einem Phänomen der Popkultur als mit einem gesellschaftlichen im Paris der Jahrhundertwende vom 19. zum 20. gemein haben, wo die Bourgeoisie das Äquivalent als „Apachen“ bezeichnete - in Akkordierung mit dem Sozialamt doch wiederum sehr gelegen. Im Jahr 2003 wurde diesen Punks Wohnraum im Haus Kärntnerstraße 1 zur Verfügung gestellt. Die zu erwartenden Konflikte führten inzwischen zum Auszug aller bisherigen Bewohner. Besagtes Haus befindet sich nicht zufällig im Eigentum jener Immobiliengesellschaft, die auch für den Abbruch des Kommod-Hauses verantwortlich ist. Für das am Lazarettgürtel gelegene Areal einschließlich des so genannten „Gürtelturmes“ in nächster Nähe zur Kärntnerstraße 1 ist ein städtebaulicher Wettbewerb zur Errichtung eines großen Büro-Komplexes vorgesehen.

Ein Exkurs in die Geschichte einer bis vor kurzer Zeit beinahe vergessenen, nun aber in wissenschaftlicher Aufarbeitung begriffenen Disziplin, der „Stadtethnografie“, scheint hier angebracht, zumal einige Phänomene der Stadtentwicklung europäischer Metropolen seit dem 19. Jahrhundert ursächlich eng mit sozialen Problemen verknüpft sind und gegenwärtigen Bedingungen zumindest nicht unähnlich zu sein scheinen.

Zum Anstoß für eine Stadtethnografie wurden die großen Choleraepidemien in den europäischen Großstädten. Fragen nach den Ursachen der Epidemie musste nachgegangen werden, und damit wurden erste Untersuchungen um Stadtentwicklung und Stadtsoziologie angestellt. Die europäischen Großstädte des 19. Jahrhunderts waren in rasantem Wachstum begriffen. Aufgrund der allgemeinen Krise der Landwirtschaft kam es zu einem enormen Zuzug von armen, praktisch mittellosen Menschen in die Städte. Dort bildeten sie riesige Slums, ganze Bezirke, die von Armut und Improvisation gekennzeichnet waren. Diese Stadtteile waren für die aus dem Bürgertum stammenden Stadtbewohner „Wild Sides“, dunkle, unbekannte Orte in der Großstadt, ihre Bewohner von sozialem Elend gezeichnet. Im Wesentlichen war dieses soziale Elend, das sich in den Vorstädten konzentrierte, etwas wenn schon nicht Gewolltes, so doch Akzeptiertes und damit auch Verdrängtes. Man versuchte die Vorstädte ökonomisch zu integrieren, indem man Großindustrie ansiedelte; zugleich war man bestrebt, sie kulturell und sozial auszublenden. Das funktionierte bis zu einem Zeitpunkt, an dem sich die Vorstädte in ihrer Gegensätzlichkeit artikulierten.

Im Sommer 1849 betrat ein englischer Journalist Bermondsey, einen Stadtteil im Südosten Londons, der den meisten Londoner Bürgern unbekannt war. Er begab sich an den Ort des Fiebers und der Krankheit. Im September 1849 erschien sein Bericht in der Times, der von Friedhofsgeruch, Ekel und Niedergeschlagenheit berichtete, von Wasser, das mit dreckigem Schaum bedeckt war, an Brückenpfeilern hingen aufgedunsene Kadaver toter Tiere. Dieser Journalist, Henry Meyhew, gilt heute als Begründer der Stadtethnografie, der vor allem kulturelle Differenzen ausmachte, indem er etwa Besonderheiten von Kleidung untersuchte.

Vor der Zeit von Mayhews Recherchen wurde die Stadt vor allem als bürgerliche wahrgenommen, als lokales Zentrum des Umlandes, in dem sich Verwaltung, Repräsentation und Handwerk niedergelassen hatten. Von Industriearbeit und Unterschichten war in den Stadtbeschreibungen bis ins frühe 19. Jahrhundert nur ganz am Rande die Rede. Topografisch gesehen lagen die Armenviertel im Osten Londons. Die vorherrschenden Westwinde sollten den Industriesmog der Wild Sides nicht in die bürgerlichen Stadtbereiche leiten. Die Slums galten nach bürgerlicher Anschauung gleichermaßen als Fiebersumpf und Sündenpfuhl. Für Krankheiten, die in der Stadt grassierten, wurden Arme und Arbeiter verantwortlich gemacht. Neu an der Arbeitsweise Meyhews war vor allem, dass er in seinen Beschreibungen die Betroffenen selbst zu Wort kommen ließ, was zuvor und aus bürgerlicher Sicht als unerhört gegolten hatte. Mit der Serie "London Labour and the London Poor" (1861-1862) erarbeitete er eine umfassende und detaillierte Darstellung des „sittlichen geistigen und physischen Zustands der Armen in London“.

Nach dem Beispiel Meyhews entstanden in der Folge in Berlin und Wien die „Großstadtdokumente“ (50 Bände, 1904 bis1908), herausgegeben vom Berliner Publizisten Hans Ostwald unter Mitarbeit – neben anderen - von Max Winter und Felix Salten. Die Großstadtdokumente sind heute wichtige Quellen für die historische Stadtforschung, die zu ihrer Entstehungszeit keinen wissenschaftlichen Anspruch hatten, wohl aber einen politischen: Sie wurden zu einer Zeit verfasst, in der die Sozialdemokratie noch in vielerlei Hinsicht am Rande des politischen Lebens stand und ihre Anliegen nur schwer durchbringen konnte - und viele Autoren der Großstadtdokumente waren Sozialdemokraten.

Ganz anders ein Nachfolger von Henry Meyhew, der sich der Großstadtforschung an den dunklen Orten der Stadt aus wissenschaftlicher Sicht und mit wissenschaftlicher Methodik näherte. Charles Booth war Reeder, der quasi nebenher an seinen Forschungen arbeitete: Am 8. Februar 1886 kam es in London zu einer Massendemonstration von Arbeitslosen. 20.000 kamen aus dem East End auf den Trafalgar Square. Es kam zu Plünderungen und Panik unter der wohlhabenden Bevölkerung. Vor dem Hintergrund dieser Massenproteste begann Booth mit seinen Sozialstudien. Anlass war in erster Linie wohl ein Versuch der Überwachung aufgrund einer verbreiteten Angst vor dem Ungewissen, das sich in den kritischen Vierteln zusammenbrauen könnte, bis hin zu Phantasmen, nach denen irgendwann die „Wilden“ - die man in Frankreich etwa zur gleichen Zeit tatsächlich „Apachen“ nannte - des East End in das West End strömen könnten, um die Bürger zu verschlingen. Die Beobachtung dieser Formen einer Sozialisierung erfüllte so durch das Beobachten auch die Funktion der Kontrolle. Booth klassifizierte die Bevölkerung mit Kategorien von A bis E, wobei A für die unterste Klasse, die störenden Elemente stand, für das Lumpenproletariat. Er markierte in der Folge diese Bevölkerungskategorien auf der Karte Londons mit verschiedenen Farben: A/Schwarz, E - zu der er sich selbst zählte - wurde mit Gelb bezeichnet, und darauf folgte seine Empfehlung, alle mit Schwarz bezeichneten Straßen, die in dieser Form auch der Polizei als Krisengebiet bekannt gemacht worden waren, zunächst zu räumen und möglichst auch abzureißen. Das Hauptwerk von Charles Booth, „Life and Labour of the People in London“, erschien 1903 und gilt heute als Klassiker der frühen Stadtethnografie.

Paris: Diese Stadt sollte dem übrigen Europa nicht nur im Hinblick auf ihre funktionale Gliederung zum Vorbild werden, sondern auch durch ihr Stadtbild eine suggestive Wirkung ausüben. Als Präfekt des Departement Seine betätigt sich Georges Eugène Haussmann von 1853 bis 1869 als Bauunternehmer im Wettbewerb mit vielen anderen, die unter dem bonapartistischen Regime ein angemessenes Betätigungsfeld gefunden haben und den verschiedensten politischen Richtungen angehören. Neben unbedingt erforderlichen Maßnahmen wie dem Ausbau des Abwassersystems, der Wasserversorgung, des Transportsystems, der Krankenhäuser und Märkte erweisen sich die Maßnahmen im Straßenbau und die damit verbundenen Eingriffe in bis dato vorhandene Bausubstanz als vergleichsweise kompliziert. Den neuen, breiten und gerade anzulegenden Straßen müssen die heruntergekommenen Quartiere weichen, in deren engen Gassen sich die revolutionären Volksversammlungen formiert hatten. So verbessert man zugleich mit den hygienischen Verhältnissen auch die Beweglichkeit der Truppen. Haussmann kann sich auf den Artikel 13 des Gesetzes über das Gesundheitswesen von 1850 und auf einen Erlass des Senats von 1852 stützen, der es gestattet, Enteignungen aufgrund eines einfachen Verwaltungsbeschlusses hinsichtlich hygienischer Sanierung vorzunehmen. Es galt, die Pariser „Seuchenherde“ zu beseitigen. Verseuchung aber meint dreierlei: Krankheit, Kriminalität und vor allem politischen Aufruhr. Es sollen Straßen entstehen, die – anders als während des Juni-Aufstandes der Pariser Arbeiter 1848 – nicht mehr zu verbarrikadieren sind und einen raschen Truppenaufmarsch erlauben.

In der Folge beschließt der Staatsrat 1858, dass die Grundstücke entlang der neuen Straßen an die ehemaligen Eigentümer zurückgegeben werden. Die Auswirkungen dieses Dekrets sind enorm, verändert es doch das Stadtbild von Paris für immer; ähnliches geschieht auch in anderen europäischen Städten. Durch das Dekret wird nun eine scharfe Grenze zwischen öffentlichem und privatem Raum gezogen, nämlich die Bauflucht, die an die Stelle der zufälligen, gewachsenen Trennlinie tritt, womit auch das Stadtbild schwer in Mitleidenschaft gezogen wird, da nun über den augenblicklichen Bedarf hinaus und dichter gebaut wird; Renditen steigen, und der Kontrast zwischen den verschiedenen Stadtvierteln wird deutlicher. Den Vierteln der Wohlhabenden im Zentrum und im Westen von Paris mit ihrer vergleichsweise geringen Einwohnerzahl stehen die dichtbevölkerten, überwiegend von Arbeitern bewohnten Quartiere im Osten gegenüber. Und hier lässt sich Gewinn machen: Man hat bereits erkannt, dass das Straßenraster auf Dreiecksbasis (siehe nachfolgend den Bereich mit Zentrum Jakominiplatz), das Haussmann und seine Nachfolger bevorzugen, bei gegebener Baufläche die längsten Häuserfluchten und die größte Anzahl der besonders begehrten Eckgrundstücke garantiert (was offenbar gegenwärtig noch ein Kriterium für die Qualität des Grundstückes Ecke Einspinnergasse / Burggasse ist, auf dem das „Kommodhaus“ stand, dessen Abriss mit unglaublichen Kalamitäten verbunden war). Neu errichtete Wohnblocks im Paris Haussmanns sind auf Gewinnoptimierung ausgerichtet: Während die Erdgeschosse kommerziell genutzt und an Ladenbesitzer vermietet werden, werden die bis zu fünf Geschosse darüber mit möglichst vielen Wohnungen vollgestopft, Hofflächen und Gärten werden reduziert oder entfallen gänzlich. Faktisch verschlechtert sich die Lebensqualität für einen Großteil der Bewohner von Paris, und Kritiker sprachen von prächtigen Fassaden, die nicht halten, was sie versprechen.

Zurück nach Graz, abseits der Metropolen: Nach der Aufhebung der Festungswerke durch Joseph II erfuhr Graz gegen Ende des 18. und bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts städtebauliche Erweiterungen am Rand der innerstädtischen Kernzone. Neue, ringförmig angelegte Straßen, wie die Wickenburggasse, die Glacis- und die Radetzkystraße, und die zusätzlich geschaffenen Radialstraßenzüge, wie die Zinzendorfgasse, Elisabethstraße, die Reitschulgasse, der nördliche Teil der Klosterwiesgasse, die Jakoministraße und die Schönaugasse bilden die Grundstruktur der biedermeierlichen Stadterweiterung. Diese ist in ihrer Anlage nicht unähnlich dem Radialstraßensystem des Haussmannschen Paris, wenngleich älter, in viel kleinerem Maßstab und in weiten Teilen als Stadterweiterung und nicht als Umstrukturierung schon vorhandener Stadtteile ausgeführt. Südlich des ehemaligen Eisernen Tores wurde ab 1786 durch den Postmeister Caspar Andreas Ritter von Jakomini die um 1820 fertiggestellte Anlage des Jakominiplatzes mit den erwähnten halbkreisförmigen Radialstraßen angelegt. Den baulichen Schwerpunkt bildet der schlossartige Block der Alten Post mit seiner 15-achsigen Fassade mit josephinisch-klassizistischem Dekor.

Mit dem Bau der Straßenbahntrasse zu Ende des 19. Jahrhunderts entwickelte sich der Platz zunehmend zu einem Knotenpunkt des öffentlichen Verkehrs. Die Neugestaltung des Platzes erfolgte ab den 1930er-Jahren nach maßgeblichen Kriterien der Verkehrsbetriebe. Aber auch ein abermals erfolgter Versuch vor einigen Jahren, den Jakominiplatz im Zuge einer generellen Neugestaltung um die ihm anhaftende Qualität eines gewissen Unbehagens zu reduzieren, ist augenscheinlich gescheitert. Wenn seine ursprüngliche Anlage aus einer als bourgeois zu bezeichnenden Haltung hervorging, nach der dem Platz ein zentraler Charakter anhaftete, so veränderte sich dieser im Lauf des 20. Jahrhunderts in sein diametrales Gegenteil als Verkehrsknotenpunkt und Durchgangsort am Berührungspunkt dreier städtischer Entwicklungszonen am Übergang von der Altstadt zur biedermeierlichen Vorstadt, tangiert von mehrgeschossigen historistischen Bauten einer Ringstraßenanlage.

Der von Stadtsoziologen als „Innenstadtergänzungsgebiet“ bezeichnete Bereich des Bezirks Jakomini ist gegenwärtig vor allem von Abwanderung und Auflösung des Einzelhandels gezeichnet. Dies betrifft massiv die genannten Bereiche von der Reitschulgasse bis zur Schönaugasse und ist am Bild reihenweise leer stehender Geschäftslokale auszumachen. Ursachen mögen die generelle Wirtschaftslage, die Verkehrssituation und die großen Einkaufszentren an der Peripherie sein.

Nach dem Weggang der kleinen und mittleren Einzelhändler versuchen KünstlerInnen – naheliegend der Vergleich mit dem Londoner East End – den Stadtteil zu nutzen, ihn inhaltlich aufzuwerten. Dafür stehen Vereine wie Rhizom und ESC. Woran es in Graz im Vergleich mit London aber fehlt, sind eindeutige politische Absichtserklärungen, diese Infrastruktur langfristig zu unterstützen respektive mangelt es an Interesse zur potenten Unterstützung seitens der Privatwirtschaft. Was Saatchi zur Young Brit Art führte, hat in Graz kein Äquivalent. Auf die Künstler der Jakoministraße werden aus heutiger Sicht Wettcafés folgen und darauf möglicherweise Baumaßnahmen, die den Vergleich mit potemkinschen Dörfern – auch Haussmann hatte Scheinfassaden gebaut - nicht scheuen müssen. „Ein Reitersmann möchte ich werden wie mein Vater einer war“, soll Kaspar Hauser immer wieder gesagt haben und sonst nicht viel. Ein Reitersmann sei er aus Passion, betont der Bürgermeister immer wieder, und so befleißigt er sich zweier Sichtweisen einer manierierten Kavaliersperspektive: vom hohen Ross herab und aus den oberen Stockwerken avisierter Bürohochhäuser. - Worauf aber mag er blicken?

Literatur
Leonardo Benevolo: Die Stadt in der europäischen Geschichte. München 1993.
Friedrich Bouvier, Hasso Hohmann (Hrsg.): Lebendige Altstadt. Erfahrungen und Ausblicke am Beispiel Graz. Graz, Stuttgart 1991.
Rolf Haubl: Unter lauter Spiegelbildern. Zur Kulturgeschichte des Spiegels. Frankfurt a. M. 1991.
Rolf Lindner. Walks on the Wild Side. Eine Geschichte der Stadtforschung. Frankfurt a. M. 2004.
Alexander Mitscherlich: Die Unwirtlichkeit unserer Städte. Frankfurt a. M. 1996.

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