16/03/2008
16/03/2008

sonnTAG 218

Hausbesichtigung

Von Werner Schandor

Im ersten Absatz des Textes steht, wie der Makler uns die Tür zum Haus aufhält und wir in einen Gang eintreten, der uns erdrückt: Blank polierter, grau gemaserter Marmor am Boden, die Wände sind damit bis zu den Hüften ausgekleidet. Wir betreten aber keine Halle, sondern einen Gang, in dem man die Arme nicht ausbreiten kann, ohne an die Wände zu stoßen. Ein Spiegel auf der rechten Seite soll mehr Raum schaffen, aber der Rahmen (Sichtbeton?) ist so wuchtig, dass er nur Platz wegnimmt. Es ist dunkel hier, wir haben das Haus durch das Tiefgeschoß betreten. Ein Schrei hängt noch tief im Raum. Am Ende dieses Absatzes steht zu lesen, wie der Mann ein paar Wochen davor hier stand und laut brüllte, er werde jetzt gehen, und zwar endgültig, es sei hier nicht mehr auszuhalten. (Vielleicht war es auch die Frau.) Dann flog die Tür ins Schloss, und der, der zurückblieb, war vermutlich starr vor Schock.
Kommen Sie weiter, sagt der Makler, einer von der kultivierten Sorte, sein Doktorat der Kunstgeschichte hat ihn über den Antiquitätenhandel ins Immobiliengeschäft geführt. Nun führt er Interessenten durch Häuser, die zum Verkauf stehen, fast wie ein Blindenhund. Wie ein Blinder tastet man sich unter seiner Führung durch fremde Welten.
Wir stolpern über Schuhe, die am Marmorgang aufgereiht sind. Es ist dunkel hier, und der Einbauschrank im Vorraum am Ende vom Gang wirkt wie eine Mauer aus Beton. Wir sind in einem surrealen Setting gelandet, mitten in Raiffeisens Alptraumjournal. „Hier die Tür“, sagt der Makler, und öffnet die Tür, dann sagt er nichts mehr. Wir stehen in der Tür und blicken auf ein paar Meter Freiraum, und am Ende des Zimmers, das in stumpfem Gelb-Ocker ausgemalt ist, befindet sich ein Krankenbett, ein paar Schritte von dessen Fußende entfernt steht ein Fernsehapparat auf einem Regal mit Rollen. Die Rollos an den Fenstern sind halb heruntergelassen, das Licht, das durch die Schlitze dringt, spiegelt sich im Bildschirm. Wer wird hier gepflegt? Und wo ist der Mensch hin verschwunden, der hier sein Lager hat? („And this is the place where she cut her wrists / that odd and fateful night“.)
Wenn es einem zu gut geht, kann man Zeitung lesen. Und wenn man von den Katastrophen- und Todesmeldungen nicht beeindruckt genug ist, kann man die Immobilienseiten durchblättern und sich ein paar Termine vereinbaren. „Geräumiges Haus. Beste Ruhelage am Rand von Graz.“ Am Ende die Telefonnummer des Maklers, mit dem man sich einen Termin ausmacht.
Wir wenden uns ab, der Makler spricht über Quadratmeter und Raumaufteilung, wir nicken und fragen etwas Beiläufiges, das uns aus der Beklemmung helfen soll.
Er schließt die Tür und öffnet die Tür zum Zimmer nebenan. Hier lagern Sperrmüllmöbel in Form eines Jugendzimmers. Poster von Popstars an der Wand, eine Stereoanlage, Utensilien eines Teenagers, männlich, unglücklich. Die latente Katastrophe des Erwachsenwerdens hat vor allem mit Inneneinrichtung zu tun. Und damit, dass die Räume schrumpfen, die man als Kind noch als endlose Weiten erlebt hat. Man selbst wächst, und man kann wie im Zeitraffer miterleben, wie sich die Wände langsam, aber unaufhaltsam auf dich zu bewegen, bis sie dich erdrücken, bis du atemlos an der dünnen Luft des zerbrochenen Familienglücks erstickst. Ein leiser Tod.
Totenstille im Souterrain, das Haus ist in einen Hang gebaut, und in diesem Hanggeschoß gibt es noch ein weiteres Zimmer. Es ist das Zimmer des Vergessens: Man öffnet es, schaut hinein, und vergisst gleich wieder, was man gesehen hat. Man könnte darin alles entdecken und mit dem Raum, der sich ausbreitet, Jahrhunderte füllen oder Gigaterrabyte an Speicherplatz mit überflüssigsten Informationen vollstopfen. Wo waren wir? Wo waren wir stehen geblieben?
„Schauen wir nun in den Wohnbereich im Obergeschoß“, sagt der Makler. Wir stolpern über die Schuhe zurück durch den Gang zur Eingangstür. Links vom engen Marmorgang ist eine
Treppe
Treppe
Treppe
Treppe
Treppe
Treppe
Treppe.
Brachialer Nippes schmückt die Stufen. Mit wie viel Wucht die Bewohner hier zu den falschen Dingen gegriffen haben! – Gip-Sengel neben drahtigen Meta-L-Skulpturen, Vasen mit Seitenblumen und an den Wänden japanische Duschezeichnungen. So viel Wahnes, Gures und Schöhres! Und dann:

Eine kurze Brücke führt zu einem Geheimausgang
direkt unter der Kuppel der Sainte-Chapelle.
Diese Kuppel ist ein Wehr aus kunstvollem Stahl von
etwa fünfzehntausend Fuß Durchmesser.
Von einigen Punkten der Kupferstege,
der Plattformen, der Treppen aus, die Hallen und Säulen
umlaufen, glaubte ich die Tiefe der Stadt
beurteilen zu können. Das ist das Wunderwerk, dessen ich
mir nicht bewußt werden konnte: in welchen Höhen sind
die andren Viertel auf oder unter der Akropolis?

In welchen Tiefen der Trostlosigkeit sind wir gelandet? Rimbauds Gedicht, das wir kurz durchstreiften, spuckt uns wieder aus, von der Surrealität zurück in die Sub-Realität des heimischen Realitätenmarktes. Wir befinden uns im Obergeschoß, aber hier im Vorraum ist es nicht heller als im Souterrain, obwohl draußen die Sonne scheint. Das bedeutet, dass wir uns in einem dieser Häuser befinden, wo alle vier Wände nach Norden zeigen. Zudem drängt sich der Wald ganz dicht an das Haus heran. Wir sehen ihn durch die Glastür zum Wohn-Essbereich.
Der Makler zählt auf: Das Arbeitszimmer. Das Schlafzimmer. Dort dann der Wohn- und Essbereich mit der Küche. Direkt vom Wohnzimmer gibt es eine Tür auf die Terrasse. Doch fürs erste spähen wir in das Arbeitszimmer. Ebenfalls frisch verlassen. Der Computer läuft noch. Als wären die Bewohner des Hauses vor einer Katastrophe geflohen. Der Katastrophe des Wohnens. Es riecht nach Pharmazie in diesem Zimmer. Auf dem Tisch liegen vorgedruckte Überweisungsscheine – wir stehen in der Ordination eines hilflosen Helfers. Sind peinlich berührt von den privaten Dingen, die sich hier unserem Blick entblößen: Die Urlaubsbilder, Hoffnungsschimmer aus glücklicheren Ta…

[Der Teil des Manuskripts, in dem das Arbeitszimmer weiter beschrieben wird, und in dem der Makler danach durch die übrigen Räume führt, ist verloren gegangen. Auf einem verschmutzten Blatt können wir nur noch das Ende entziffern:]

[Im] letzten Absatz steht, wie sich die Erde unter dem Swimmingpool auftut, das Pool versinkt im Schlamm. Es stinkt nach Schwefel […] und nach Opium. Uns wird schwindlig, und wir träumen von einem endlosen Saal, an den sich Computer an Computer an Computer reiht. Hinter den Monitoren sitzen Legionen von Architekten und Planern. Sie blicken von ihrer Arbeit auf und zucken entschuldigend mit den Schultern. Hinter ihnen gierige Bauherren und geile Immobilienmakler, farbenblinde Innenausstatter und unfähige Handwerker, die allesamt verzückt grinsen. Dann stehen sie auf, und in Reih und Glied steigen die Untoten des Wohnens hinab in das Grab, das sie den Bewohnern hier bereitet haben. Kommt, kommt zu uns!, rufen sie mit schaurigen Stimmen. Wir haben Euch ein Haus gebaut!

Werner Schandor, Jahrgang 1967, "schreibkraft"-Herausgeber und rundum-Schreibkraft in den Ausprägungen Autor, Texter, Journalist und Pressesprecher. Lebt (gerne) in Graz. www.textbox.at und schreibkraft.adm.at

Verfasser/in:
Werner Schandor
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