11/05/2008
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Ein Spaziergang durch Lend - so wie man diesen Stadtteil vielleicht nicht kennt...

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Fotos: Ute Angeringer-Mmadu, 23.04.2007

"Wohnen im spätmodernen Begehren"

Ein Vortrag, den Ao.Univ.-Prof. Dr.phil. Elisabeth Katschnig–Fasch vor 9 Jahren im Rahmen eines Wohnbaukongresses an der TU Graz gehalten hat und der, u. a. in Hinblick auf die laufenden Aktivitäten im Bezirk Graz-Lend, auch heute noch von außerordentlicher Brisanz und Aktualität ist.

In den Wohnformen manifestiert sich der gesellschaftlich-kulturelle Zustand, sein Wandel, seine Ideologie, seine Machtstruktur in der innersten Bastion. Hier manifestieren sich auch die Antworten der Menschen als ihre kulturelle Kraft, ihr kultureller Ort. Als empirische Kulturwissenschafterin versuche ich die Auswirkungen der gegenwärtigen kulturellen und sozialen Veränderungen auf Lebens- und Wohnstile zu interpretieren, wobei es mir methodisch darum geht, den distanzierten Blick der Wissenschaft mit der subjektiven Erfahrungswelt der Menschen zu kreuzen.

Immer mehr sind Menschen gezwungen – oder in der Lage – ihren Lebensentwurf zu “basteln”. Auf den vorgegebenen biographischen und beruflichen Raster kann man sich nicht mehr verlassen. Ein neuer Menschenschlag ist angesagt: flexibel, mobil, elastisch. Seine Wohnbedürfnisse entsprechen diesem neuen Selbst, das sich nicht mehr durch tradierte Ordnungsmuster oder die Anwesentheiten bisher gewohnter Dinge zum Ausdruck bringen will. Die Entscheidungsfreiheit, zu leben wie man will und nach seinem persönlichen Geschmack, wird als unendliche Freiheit proklamiert, als Möglichkeit, den alten Zuordnungen zu entkommen und nach der Entlassung wieder Selbstwert und Identität zu gewinnen. Das ist der eigentliche Motor, eine Hoffnung vorweg, eine Suggestion immer im Versprechen der nächsten; eine Hoffnung, mit der sich die Menschen als selbstbestimmte Akteure in einer individualisierten Gesellschaft zu bestätigen meinen.
Einmal abgesehen davon, daß Institutionen auf die spätmodernen Veränderungen nicht entsprechend reagieren, weil sie zu schwerfällig sind (ich denke etwa an fehlende Antworten des geförderten Wohnbaus auf die Singlegesellschaft oder die Überalterung, die Migration), ist das eigentliche Problem, daß es sich nicht um eine bloß schnellere kulturelle Gangart handelt, in der das heute wenigstens absehbare Morgen schon wieder out ist, sondern, daß die Gegenwart in einen ungeheuren Wirbel unterschiedlichster kultureller Richtungen geraten ist. Vergangenheit ist nicht, wie viele Theoretiker in den 80ern ausposaunten, obsolet. Vielmehr ist Tatsache, daß sie trotzdem noch vorhanden ist, daß erste und zweite Moderne gleichzeitig stattfinden. Und damit sind wir alle konfrontiert, das schafft schier unbewältigbare Probleme. Diese Gleichzeitigkeit trifft Bewohner ebenso wie Planer und Städtebauer, Architekten und Verwalter.
Die kulturellen Fließgeschwindigkeiten laufen nicht mehr nur in eine Richtung. Sie gehen nach vorn und zurück zugleich und verwirbeln sich in konfuzianischen Kreolen (um ein Bild Salman Rushdis zu verwenden), beschleunigt durch die Auflösung der sozialen Milieus und Klassen, (für die noch immer gebaut und geplant wird).
Wohnen als Verkörperung von kulturellen Wirklichkeiten verliert seinen symbolischen Tatbestand, der sich als soziale Ordnung und Stabiltität eingeschrieben und den für alle verbindlichen Blick auf die Welt zum Ausdruck gebracht hat: aufgesogen im unterschiedlichsten Begehren, das die stabilen Konturen verloren hat und Veränderung und Transformation bedeutet.
Dazu kommt, daß die Prozesse nicht an allen Orten gleich ablaufen. Die Lebensbedingungen in unseren europäischen Städten sind Bedingungen der Gleichzeitigkeit von prinzipieller Ungleichzeitigkeit, die nur eines gemeinsam haben: gegeneinander laufende und nicht mehr zusammen realisierbare lokale und transnationale Prozesse der symbolischen und politischen Gleichzeitigkeit. Hier konstituiert sich ein Konfliktfeld in bisher noch nicht gekannter Form, das das Zusammenspiel von Kultur, Politik, Macht und Identität prinzipiell in Frage stellt.

Die “cultural flows” werden von unterschiedlichem Begehren der Spätmodernen angetrieben. Geschäftstreibende, TouristInnen und KünstlerInnen (ArchitektInnen), Intellektuelle – das sind die einen – die anderen sind die “Zuspätgekommenen” und die Menschen aus der anderen Welt, Flüchtlinge und MigrantInnen. Was die ersten verbindet, ist, daß sie nur partiell an einem Ort wohnen, weil sie gleichzeitig zu anderen Orten permanente Verbindung haben, auch gleichzeitig an verschiedenen Orten leben. Ihre Welt ist offen, sie betrachten sie als ihre eigene. Sie bewegen sich in ihren Bildern und Vorstellungen selbstverständlich in allen Räumen und produzieren dadurch Globalisierung. Sie haben ein Netz von Orten im Kopf, urbane Szenen, vielleicht auch exotische Örtlichkeiten. Sie setzen die Kopie des Besonderen ihrer globalen “mental map” nicht nur in ihrer Lebenswelt um, sondern implantieren sie auch in die Lebenswelt anderer. Ihren habituellen Raum und seine symbolische Wirklichkeit haben sie verlassen. Sie sind Nomaden – heute vielleicht noch eine relativ kleine Schicht, aber im Besitz des wichtigsten Kapitals: der Flexibilität. Deshalb genießen sie soziale Anerkennung.
Sie kennen z.B. diejenigen unter ihnen, die sich die Stadt ebenso wie den ganzen Globus zur Kulisse ihrer eigenen Darstellung und zur Bühne ihrer Selbst-Inszenierung machen. Seit etwa 10 Jahren nehmen sie den inneren Stadtraum in Beschlag, machen ihn zum Wohnzimmer, zum Repräsentations-, Spiel- und bei Bedarf auch zum vernetzten Arbeitsraum. Ihr Wohnraumbedarf hat die spezifische Teilung der Lebenswelten in öffentliche und private Sphären endgültig gesprengt. Sie wohnen nicht nur in den vier Wänden. Sie sind überall – im Netz und am Handy. Richard Sennets Diktum von der Intimisierung des öffentlichen Raumes scheint mit ihnen vielleicht die Krise der Stadt zu überwinden, die funktionale Moderne ebenso wie die Schwere der Kleinfamilie. Ein Sein mit sich und für sich, so sagen Skeptiker. Diese angeblich egozentrische Lebensweise ist befreit von Raum und Zeit. Wertprioritäten sind mit ihnen zur Disposition gestellt, jedenfalls sind sie nicht mehr den Prämissen verbindlicher Ausdrucksformen unterworfen. Ihr Wohnen entspricht dem Effekt eines neu entdeckten Selbst.

Der andere postmoderne Bewohner – eigentlich ein Halbnomade, taucht seit den 80ern in allen Städten auf. Ästhetisch ambitioniert und auffallend begierig auf alte, in der Moderne vergessene Wohngebiete, weil er eben hier noch ein Leben zu spüren glaubt und Authentizität zu erleben hofft. Dieses Phänomen ist unter dem Stichwort “Gentrification” längst bekannt. Man spricht von der Buntheit und ist von der Spontaneität fasziniert. “Hier riecht man das Leben noch”, wie sich einer ausdrückte, der, wie in den letzten Jahren viele andere seines Typs, in ein ehemaliges Vorstadtviertel gezogen ist. Was man in den 70ern noch als Schandfleck bezeichnete oder ganz einfach übersah, erscheint für die Lebensbedürfnisse dieser Halbnomaden in vieler Hinsicht zukunftsweisend. Räume einer ehemals empfundenen “Unnatur” haben sich in ihrer postmodernen Wahrnehmung zur letzten Natur und zur Kulisse des spätmodernen Begehrens verwandelt. Die hedonistische Begierde montiert sozusagen die Codes des vormodernen Zusammenwohnens um, bis sie mit den Codes des postmodernen Begehrens übereinstimmen und der gespiegelten Sehnsucht nach neuen Lebensentwürfen entsprechen. Entbunden von realen Bezügen entsprechen die Codes dieser postmodernen Bewohnerschaft längst nicht den Wohn- und Lebensmodalitäten oder den Sichtweisen und Lebenswelten der alteingesessenen Bewohnerschaft und sie meinen sie auch nicht. Die bloße Ästhetisierung des einfachen Lebens, das ist ihre Antwort auf die Überforderung, das ist spätmoderne Sehnsucht nach Unschuld.
Die Geschichte wird aus den Angeln gehoben, Zeit und Ort verlagert in die Kulisse des eigenen, des individuellen Lebens, zur kolorierten Dienstleistung, die das ersehnte Authentische doch nie mehr einholen kann. Daß in der Anziehungskraft einer wiedergefundenen Atmosphäre letztlich die wenig unschuldige Nahtstelle auszumachen ist, die eine soziale und kulturelle Umstrukturierung provoziert, liegt zudem daran, daß Investoren, Politiker und Planer, die sich ihrerseits durch marktwirtschaftliche Begehrlichkeiten auch sehr schnell mobilisieren, ursprüngliches Milieu und Athmosphäre in die “Nomenklatur des Wertlosen” verwandeln, um ihrerseits die profitablen Zeichen der übermodernen Eigenschaftlosigkeit hineinzusetzen – wie dies Karin Wilhelm kürzlich in einem Beitrag zur Stadt ohne Eigenschaften berechtigt einigermaßen zornig formulierte. Eine dramatische Entwicklung, an der die Wohnmanager aller Art seit Beginn der Moderne mitgewirkt haben.

Bei alten Bewohnern – und ich meine damit durchaus nicht die an Lebensjahren Alten, sondern Eingesessene – sind die Wohn- und Lebensräume meist noch symbolische Landschaft, ideologische Arrangements in einem historisch gesättigten Raum. Materielle und imaginäre Interpretationen von Geschichte, ausgestattet mit der Qualität einer Verbindlichkeit, die eine Identität zu sichern vermag, die gerade in der sich verändernden Welt aus dem Vergangenen wieder Bedeutung schöpft.
Während sich die spätmoderne Gesellschaft sozial, wirtschaftlich, verkehrs- und medientechnologisch global organisiert, wohnen diese Menschen symbolisch noch nach traditionellen Leitlinien und können sich vielleicht gerade deshalb noch stabil halten. Die spätmodernen Nomaden fügen sich hingegen problemlos in den konflikthaften Prozeß der kulturellen wie gesellschaftlichen Diversifikation und heizen ihrerseits die rasante Entwicklung entsprechend an, weil sie davon profitieren.

Ein immer größeres Konfliktfeld ist das Wohnen der “anderen” Spätmodernen, der eigentlichen Verlierer der Spätmoderne, derjenigen, die das “Elend der Welt” (Bourdieu) gezwungen hat, ihren sozialen Ort zu verlassen. Sie sind auf dem Weg nach unten und haben auf diesem Weg nicht nur ihre Identität verloren, sondern auch die wirtschaftliche Kraft, um am Wohnungsmarkt noch teilzuhaben. Individualisierung und Enttraditionalisierung kommen hier quasi in ihrer wenig beachteten Rückseite zu tragen. Nicht als Freiheit, sondern als Zwang offerieren sich ihnen die Konsequenzen der Gegenwart, die sie in Räume drängt, in denen Wohnen Resignation, Angst und Aggression bedeutet und sie in den Trabantensiedlungen gefangen hält. Während der Unterschied ihres Daseins zu den Gewinnern immer größer wird, der Bezug nach draußen immer dünner wird, wird ihre Abhängigkeit immer stärker. Wohnen nimmt hier eine beispiellose Entwicklung, die als subjektive Not, als deren “eigene Schuld” das Scheitern der Gesellschaft verschleiert.
Und da sind noch die anderen Verlierer, die Migranten, die Flüchtlinge, die Ausländer, die Fremden. Sie kommen und begehren zu bleiben. Und sie kommen mit der Verbindung zu einer Heimat im Kopf, die irgendwo in einer hier verlorenen, vergessenen oder fremden Zeit lokalisert ist, in deren Grundprinzipien sie aber noch denken und handeln. Verankert in einer Welt, in der ihr Dasein mit ihrer Kultur und ihrem sozialen Raum übereinstimmte. So kommen sie in eine Welt, wo sie als wirtschaftliche und gesellschaftliche Störfaktoren empfunden werden, weil sie wenig soziales Kapital mitbringen und es auch nicht erwerben können. Als neue Unterklasse werden sie in eigene Räume abgedrängt. Ihr Lebensraum wird Ghetto, das sich nur durch Gefühle und die kulturelle Relativität Perspektive schafft.
Das ist ein Wohnen, ein Dasein ohne Gegenwelt, nicht weil Öffentlichkeit und Privatheit (wie bei den spätmodernen Nomaden) durch ihr eigenes Begehren gesprengt wurden, sondern weil sich die Öffentlichkeit verabschiedet hat. Ihre Wohnorte werden zu den einzigen Identifikationsorten, weil die Gesellschaft ihnen keine öffentlichen Rechte und wirtschaftlichen Möglichkeiten zugesteht. Diesen spätmodernen Wanderern ist der Einschluß in die kulturellen Fremdheit dann die einzige Möglichkeit der Identität. Damit entstehen symbolische Räume, in denen gesellschaftliche Hierarchien und soziale Ungleichheit in der kulturellen Terminologie verschleiert werden. Deshalb sind diese Räume politisch hochexplosiv.

Wohnen schafft heute unvereinbare symbolische und metaphorische Landschaften, die im rückwärtsgerichteten Beharren eine Vergangenheit fixieren, oder solche, die im postmodernen Begehren sich alter Räume bemächtigen und sie verwandeln, bis sie einer anderen Wirklichkeit entsprechen, solche, die Räume in globalisierte Szenen auflösen und zur ästhetischen Inzenierung formen, solche die zum Ghetto werden. Von diesen spätmodernen Szenen des Flüchtigen und der Flüchtenden geht eine enorme kulturelle Geschwindigkeit aus und zieht gesellschaftliche wie kulturelle Verwirbelungen nach sich.
Das heißt, die Akteure der Städte – die Bauenden und die Wohnenden – sind prinzipiell von unterschiedlicher Wahrnehmung und unterschiedlicher Erwartung. Und damit sind Konflikte zwangsläufig vorprogrammiert. Das ist ein Problem, das eine immer wichtigere politische Rolle spielen wird.

Längst geht es nicht mehr um ein harmloses Nebeneinander, sondern um die Verflechtung unterschiedlicher kultureller Identitäten aus unterschiedlichem Begehren. In dieser kulturellen Widersprüchlichkeit wird das Wohnen immer unübersichtlicher. Die Logik des spätmodernen Repräsentationskults bewirkt, daß die dominanten Gruppen die Bühnen und Formen der Selbst- und Fremdrepräsentation allein definieren und kontrollieren. Das Ergebnis ist ungezügeltes und amorphes Wachstum an der Peripherie, Verslumung, Abwanderung der ärmeren Bevölkerung und das Sterben der historischen Baukultur. Die Zeichenwelt der heutigen Wohn- und Lebensräume hält jedenfalls nicht mehr, sie ist fraktal und flüchtig geworden. Und damit ist die Gelegenheit für die Begehrlichkeiten des gefräßigen Marktes und der international orientierten Bautätigkeiten gekommen, die ihrerseits permanent neue Begehrlichkeiten stimulieren. Die Besonderheiten der Wohn- und Lebensräume mit den regionalen Zeichen einer traditionellen Wohn- und Architekturlandschaft werden überflüssig: Der Genus loci verläßt die Orte.
Das Bewußtsein vom Verlust des Eigenständigen der regionalen Wohnkultur führt dann in der Folge zu einer ästhetischen Betonung des Unterschiedes im kulturellen Vokabular. Sie kennen das Phänomen auf der baulichen Struktur – das Aushöhlen der historischen Bausubstanz, die dann als Verschnörkelung den Verlust kaschieren will. Die Geschichte wird zu leeren Bildern, Eigenheiten zu kulturalisierten Versprechungen, welche den Inhalt nicht mehr halten können.
Der kulturelle Fluß des urbanen Lebens ist mit seinem symbolischen Kapital “Wohnen” aus dem Bett getreten.
Paradoxerweise gewinnt Wohnen als privater Ort gerade in einer Zeit der Auflösung des Raumbezuges eine dramatische Bedeutung: “Die Rückkehr zum Ort, ist die Rückkehr dessen, der die Nicht-Orte frequentiert.” (Augè). Es spiegelt hochkapitalistische Bedingungen, die ungezügelte – unbestimmte Sehnsüchte erzeugen, nämlich, der Enge des kulturellen und psychischen Diktats zu entkommen und gleichzeitig mit dem Wohnen Gegengewicht zur Enträumlichung und Enttraditionaliserung im Wohnen zu finden. In der Verbindung mit der rasanten technologischen Verfügbarkeit und der Zuspitzung der ökologischen Ressourcen könnte damit gerade die selbstverständlichste Sache Wohnen noch zum hochexplosiven Thema werden.

Wohnen hat als Sein nur dann eine Chance, wenn es gleichzeitig Raum für gesellschaftliche Identifikation und Integration bietet und ihn schützt, etwa vor politischen, marktstrategischen oder ästhetischen Simulierungen. Das ist eine zutiefst politische Notwendigkeit. Die sich verändernden Formen, die man jedoch nur aus der Perspektive der Menschen erfahren kann, lassen erkennen, was bisher übersehen wurde und unbedacht blieb. Und das ist eine Frage einer neuen Ethik des Respektes vor dem Unspektakulären, der Selbstverständlichkeit der alltäglichen Lebenskultur der Menschen und ihres Eigensinns. Dann sind in den Risken der Spätmoderne auch die Chancen nicht verloren. Dies erfordert ein anderes Wahrnehmen, ein andere Planung, ein anderes Bauen: nicht eines der selbstgefälligen oder der mechanischen Übermoderne, sondern eines, das noch die Empfindlichkeit der Menschen und ihren “inneren Sinn” auszumachen imstande ist. Nur das wird uns bewahren, falsche Schlüsse für das Wohnen der Zukunft zu ziehen.
Mit dem Verlust der Ordnungen haben wir so gesehen auch etwas gewonnen. Wir sind gerade dadurch zur Reflexion unseres Tuns gezwungen worden. Nicht nur die Art, wie Menschen wohnen, ihre Vorstellungen und Wünsche suchen Antwort, um sich selbst in der Zeit und im Raum wiederzufinden, und das wird die Verwaltungsinstitutionen ebenso wie die Wirtschaft dazu zwingen, neue Antworten zu finden. Die Architektur ist aus dem Stadium der künstlerischen Selbstverwirklichung und dem Zwang des Ökonomischen getreten und geht über die fachspezifische Innenspektion hinaus. Diese Tagung ist in diesem Sinne zu verstehen.
Die Grenzen der Disziplinen sind durchlässig geworden. Das ist vielleicht auch die Chance, das Missing link zu erkennen, und die Lücke zwischen dem Planen und Verwalten und dem Wohnen mit dem Wissen um die kulturelle Bedeutung von Wohnen zu schließen. Von Louis Sullivan, dem großen amerikanischen Architekten der Chicagoer Schule ist das Zitat: “Architektur ist Interpretation und Initiation”, bekannt und damit ist wohl gemeint, daß wir die Gegenwart sehr genau verstehen müssen, um für eine Zukunft zu bauen, die nicht leere Fiktion ist oder bloße funktionale Raumanfüllung, sondern Raumschaffung, in der Menschen in einen aktiven Dialog zwischen Geschichte und Zukunft leben können.

Der vorliegende Text ist die bearbeitete Wiedergabe eines mündlichen Vortrages, gehalten im Rahmen des 1. Grazer Wohnbaukongresses im Jahr 1999, mit dem Titel "wohnbau ...haltbar bis", an der TU Graz, veranstaltet vom Institut für Städtebau und Umweltgestaltung, Fakultät für Architektur. Der Vortrag wurde mit freundlicher Genehmigung der Referentin in GAT veröffentlicht.

Alle 17 Kongressbeiträge sind in Buchform erscheinen:
wohnbau ...haltbar bis. Band 1
Beiträge zum 1. Grazer Wohnbaukongress
22.-24 . April 1999
housing ...best before. volume 1
Contributions to the 1st Graz Housing Congress 22nd - 24th April 1999
Hg: Ute Angeringer, Jörg Kindermann, Hansjörg Tschom, Wolfgang Winter
Verlag der TU Graz, ISBN 3-901351-44-2

Der Beitrag folgt konsequent der alten Rechtschreibung, die zum Zeitpunkt seiner Erstveröffentlichung noch gültig war.

Über die Autorin: Elisabeth Katschnig-Fasch, Ao.Univ.-Prof. Dr.phil., ist Lehrende am Institut für Volkskunde und Kulturanthropologie der Karl Franzens Universität Graz, Lehrtätigkeiten im In- und Ausland, zahlreiche Publikationen auf den Gebieten der Kulturanthropologie und ethnologischen Stadtforschung. Katschnig-Fasch ist seit 2006 im Stadtforum Graz, eines der vier Instrumente des Grazer Modells, vertreten.

Verfasser/in:
ausgewählt von Ute Angeringer-Mmadu
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16. + 17.11.2023
 
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