18/05/2008
18/05/2008

sonnTAG 227

INTERAKTION ALS POSITION
Referat anlässlich des 1. Grazer Wohnbau-Kongresses "wohnbau...haltbar bis", von 22. bis 24. April 1999, an der TU Graz.

Kindermann:
Architektur ist das Schaffen von Kulturraum,
also der kulturellen und kultur-räumlichen Umwelt. Architektur ist somit Umweltgestaltung im kulturellen und im räumlichen Sinn.

Architektur schafft den Menschen eine künstliche Umwelt, in der sie sinnvoll existieren können.
Architektur stellt Sinn durch Unterscheidungen dar.
Sie ist somit Medium der Welterschließung.
Architektur verschafft und ist selbst Orientierung.
Sie steigert die Lesbarkeit der Welt.
Architektur erzählt Geschichten.
Architektur handelt von den Ängsten und Wünschen der Menschen.
Architektur ist politisch.
Der Beruf des Architekten ist ein politischer.

Winter:
Daß mit politisch nicht ideologisch gemeint sein kann, sollen folgende drei Statements aufzeigen:

“Der Architekt ist Sozialpolitiker. So schon Gottfried Semper 1849, als er sagte: ‘Architektur ist Politik. Und sie soll Politik zugunsten des Volkes sein.’
Architektur ist immer Bauen für den Menschen. Baukunst ist der Ort menschlicher Zuwendung und Solidarität.
In dem Maße, in dem technische, ökonomische, politische Einflüsse auf das Bauen einwirken und das Bild des Menschen als Ziel und Essenz allen Bauens verlorengeht, ist der Architekt zum Widerspruch aufgefordert: Der Architekt muß ... auf Seiten der Schwachen stehen. Der Architekt war aber immer und ist bis heute der verlängerte Arm der Macht.“

Der Architekt ist aber auch Wirtschaftspolitiker. Er sagt: “Architektur ist Politik. Und sie soll Politik zugunsten des Marktes sein.”
Architektur ist immer Bauen für die Wirtschaft.
Bauwirtschaft ist der Ort finanzieller Zuschüsse und des Kartells.
In dem Maße, in dem soziale, ökologische, politische Einflüsse auf das Bauen einwirken und das Bild des Profits als Ziel und Essenz allen Bauens verlorengeht, ist der Architekt zum Widerspruch aufgefordert: Der Architekt muß auf Seiten des Geldes stehen.
Der Architekt war aber immer und ist bis heute arm.

Der Architekt ist auch Kulturpolitiker. Er sagt: “Architektur ist Politik. Und sie soll Politik zugunsten der Kunst sein.”
Architektur ist immer Bauen für den Sinn.
Baukunst ist der Ort wahrer Schönheit und des Geistes.
In dem Maße, in dem funktionale, ökonomische, politische Einflüsse auf das Bauen
einwirken und das Kunstwerk als Ziel allen Bauens verlorengeht, ist der Architekt zum Widerspruch aufgefordert: Der Architekt muß auf Seiten der Wahrheit stehen.
Der Architekt war aber immer und ist bis heute “professioneller Dilettant”.

Was bedeutet das nun für die Ausbildung? Man spricht vom “gebildeten Architekten”, der im Gegensatz, sage ich jetzt einmal, zu den Fachhochschulen eine Führungsrolle anstrebt; oder wie es Elli van Schelt aus den Niederlanden beim vorjährigen Treffen der UIA, der “Internationalen Architektenunion” in Griechenland ausdrückte:

“Die Ausbildung muß darauf abzielen, zum selbständigen Denken fähige Individuen hervorzubringen”, sie definiert das weiter: das sind Leute, “welche in der Lage sind, Fragen zu stellen, unsere Welt des Wandels zu verstehen und in der Gesellschaft interagieren zu können.
Der Schwerpunkt sollte sich verschieben von ‘wie man etwas löst’ zu ‘wie man sich verhält’. Das ist die grundlegende Anforderung an eine Führungsrolle.”

Interaktion heißt aufeinander bezogenes Handeln zweier oder mehrerer Personen. Wir verstehen es auch als die Begleitung von Prozessen.
Genau das definiert die Führungsrolle als Vermittlerrolle, mit der Betonung auf Vermittler.

Kindermann:
Vermitteln als unterstützendes Element der Ich-Werdung ist Arbeit, ist permanente prozeßhafte Auseinandersetzung mit dem eigenen Selbst, getragen durch die Konfrontation mit dem Du.
Die Sprache als Medium der Konfrontation ist durch ihre Interpretationsebenen Quelle der Mißverständnisse.
Die absolute Wahrheit also ist fiktiv. Der Vermittler hat einzig und alleine die Aufgabe, zwischen “Wahrheiten” unter Anführungszeichen zu vermitteln und diese zur “Wahrheit” unter Anführungszeichen werden zu lassen. Und diese wieder in eine andere Wahrheit überzuführen. Nichts anderes hält die Menschheit am Laufen, nichts anderes treibt die Menschen voran, und das einzig Unmenschliche ist, diesem Prozeß Einhalt zu gebieten.

Wenn wir am Anfang des Referates von der Architektur als Medium der Welterschließung sprachen, Architektur als Orientierung schaffendes Medium bezeichnet haben, so spielt in diese Anschauung der interpretative Rahmen hinein. Mißverständnisse beruhen auf Interpretation, auf Polarisierung statt Integration.
Dialektik als Lösungsfindung jedoch endet letztlich in Synergie.
Diesen interpretativen Rahmen, bezogen auf den Architekten, veranschaulichte Irene Nierhaus im Rahmen von “Studio“ – ein internationales Symposium zur Zukunft von Architekturstudium, und -beruf – veranstaltet von der ÖGFA, Österreichische Gesellschaft für Architektur, im Mai des Vorjahres, zum Thema Berufsmythen u.a. folgendermaßen:
“Veränderungen im Architektenberuf bedeuten auch Umarbeitungen im Image, d.h. in der mythischen Struktur des Berufs, welche die Anordnungen des Architekten innerhalb der Gesellschaft zeigt und in der Ausbildung zum Tragen kommt ...
Zur beruflichen Wirklichkeit gehören eben auch die Imageproduktion, die in kursierenden Berufsbildern sichtbar und in Berufswünschen und Bildungsvorstellungen wirksam wird, d.h. Mythen gehören zur Identitätskonstruktion des Berufs und zeigen gesellschaftliche Anforderungen an den Beruf.”

Nierhaus weiter:
"Im Wesentlichen baut die Mythisierung des Architekten auf zwei Grundtypen auf:
Erstens, die Figur des MACHERs und Planers, des Koordinators mit Überblick, Durchsetzungskraft und Fähigkeit zum Integrativen in Politik und Ökonomie ...
Der zweite Grundtyp ist die Figur des KÜNSTLERs, der gerne antithetisch zum Macher gesehen wird: der Autonome, gesellschaftlich Oppositionelle, der aus sich selbst schöpft, aus unbewußter Genialität visionär Noch-nicht-Sichtbares umsetzt und deswegen auch gerne Ausnahmelizenzen für Exzentrik erhält, ...
In der Figur des STARs sind Macher und Künstler und ihre Kategorien von Einfluß und Innovation verbunden, er stellt ‘den Architekten‘ dar, obwohl es ein einheitliches Berufsfeld eigentlich kaum gibt. Entwerfer, Gutachter, Bauleiter, Büroleiter, Zeichner werden im Mythos homogenisiert.”
Die Faszination solcher Figuren zeigt sich beispielsweise bei Rem Koolhaas.
Interessant dabei ist, “welche Bildermaschine er in Gang setzt”.

Rem Koolhaas, der Star also, stellt jene synergetische Figur dar. Er entzieht sich der Polarisierung des Machers und Künstlers, indem er den interpretatorischen Spielraum erweitert, er steht außerhalb der Dialektik von Gut und Böse.
Synergie jedoch ist das Zusammenwirken der Positionen wie Gut und Böse und entzieht sich damit einer eindeutigen Kategorisierung. Dieser Umstand schafft Raum, Betätigungsraum, Lebensraum.

Daß Koolhaas und sein Team nämlich eine Marktstrategie mit perfektem Kommunikationsdesign verfolgen, läßt sich unschwer erahnen.

Norbert Bolz, Professor des Lehrstuhls für Kommunikationstheorie am Fachbereich Gestaltung der Universität Essen, meint dazu in seinem Aufsatz mit dem Titel “Corporate Identity und Corporate Design” folgendes:
"Marketing als Komunikationsdesign hat die Aufgabe, Marken, Mythen und Medien erfolgreich zu koppeln: Medien inszenieren Mythen, die Marken umhüllen. Medien ernähren sich von Geschichten, Mythen ködern Wünsche und Marken brauchen einen spirituellen Mehrwert ..."

Winter:
In zunehmendem Maße treten Universitäten, Fakultäten und Institute als Körperschaften in Erscheinung.

Daher gilt es für die Architekturschulen ab jetzt, das Ausbildungsziel, die Vermittlerrolle – also die Interaktion – glaubwürdig zu “transportieren”.
Ich sage es noch einmal, weil es so wichtig ist: Wir müssen die Vermittlerrolle glaubwürdig vermitteln. Und wenn wir uns nun bei den Marketingexperten schlau machen, wie so etwas geht, wird es spannend:

Klaus Linneweh, Professor für angewandte Sozialpsychologie an der Universität Hannover meint: “Die gleichen Merkmale, die eine Person zur Persönlichkeit machen, verhelfen nach Meinung der CI-Theoretiker auch einem Unternehmen zu einer Unternehmenspersönlichkeit: Ein Unternehmen ist in den Augen anderer immer dann eine Persönlichkeit, wenn bei ihm die von außen erlebbaren Persönlichkeitsaspekte mit seinem Persönlichkeitskern, seinem Wesen ... widerspruchsfrei übereinstimmen.”

Corporate Identity heißt übersetzt, “körperschaftliche Identität” – das Konzept basiert auf einer Sichtweise, die davon ausgeht, daß sich “soziale Gebilde – Organisationen, Parteien, Verbände und Unternehmen – in ihrem Verhalten und in ihrer Wirkung auf die Umwelt grundsätzlich analog zu Individuen bzw. Personen beschreiben und erklären lassen, also somit auch wahrnehmen lassen. ...
Ähnlich wie Menschen einander als Personen mit unterschiedlichen Individualitäten und unterschiedlichen Persönlichkeiten wahrnehmen, läßt sich demnach auch sozialen Gebilden eine spezifische personale Identität zuschreiben. So bietet beispielsweise auch ein Unternehmen seinen Marktpartnern nicht nur Produkte und Dienstleistungen an, sondern zusätzlich auch Botschaften, Einstellungen, Haltungen, und Wertvorstellungen.”

Auf den Punkt gebracht bedeutet das: Der Marketingexperte liefert uns als Ansatz für das glaubwürdige Vermitteln der Vermittlerrolle in der Architekturausbildung die Persönlichkeit!

“Persönlichkeit wird nach Erke in der Psychologie definiert als ‚relativ überdauernde Gesamtheit aller individuellen Merkmale in ihrer spezifischen Ausprägung‘.” „Relativ überdauernd“ bedeutet, daß die Persönlichkeit sich verändert, das bedeutet also, daß wir es mit einem Prozeß zu tun haben.

Zu den individuellen Merkmalen zählen, neben der körperlichen Erscheinung, die dem Corporate Design eines Unternehmens entspricht, auch noch:
Alter, eigene Geschichte, Selbstbewußtsein und Selbstkonzept, Einstellungen, Haltungen, Gewohnheiten, Werte und Normen, Ziele, Bedürfnisse, Intelligenz, Kenntnisse, Fähigkeiten, Fertigkeiten, Kreativität, Temperament, Emotionalität, soziale Qualitäten.

Linneweh weiter:
“Die wichtigsten Kennzeichen einer Persönlichkeit sind:
- ihre individuelle Persönlichkeit
- die Übereinstimmung zwischen äußerer Erscheinung, Worten und Taten sowie dem persönlichen Selbstverständnis
- und ihre starke Ausstrahlung auf Andere.”

Daher hat die Architekturausbildung, so sie Studenten auf ihre Führungs- also Vermittlerrolle vorbereiten will, die individuelle Entwicklung zum Ziel.

Kindermann:
“Ziel der individuellen Entwicklung ist die Person mit ihrer unverwechselbaren, spezifischen personalen Identität, ihrer spezifischen Art, sich selbst und ihre Umwelt wahrzunehmen, in ihr zu agieren, mit ihr zu kommunizieren und sich in ihr darzustellen. Individuen und Körperschaften, die im Verlauf ihres lebenslangen Entwicklungsprozesses nicht nur ihre personale Identität verwirklichen, sondern darüber hinaus eigenständige Verhaltensstrukturen entwickeln und eventuell richtungsweisende Normen und Orientierungspunkte setzen, gelten als Persönlichkeit.”

Für die Lehre bedeutet dies also, um es noch einmal zu sagen: Prozeßbegleitung in der notwendigen segregativen Strömung der Ich-Suche – der Werdung der einzelnen Persönlichkeit, bei gleichzeitiger Aneignung der Fähigkeiten zum Integrativen.
Dies war der Versuch des team.work.shops, der mit dem einfachen Mittel des Informationsflusses jenes integrative, hier aktiv eingesetzte Mittel, versucht hat, in prozeßhafter Art und Weise den eigenen Ängsten und Wünschen auf die Spur zu kommen.
Und wenn wir ganz am Anfang von der Architektur als der Geschichte, die von den Ängsten und Wünschen der Menschen handelt, gesprochen haben, so war dieser Workshop eine ganz persönliche Geschichte in Richtung Architektur, eigentlich war sie Architektur, und diese wurde prozeßhaft, integrativ entwickelt.
Und wenn wir vom Wissen des “wie man sich verhält” als die Anforderung an die Vermittlerrolle sprachen, so meinte ich genau jenes integrative Element.

Wie rar jene Persönlichkeiten sind, die jene integrativen Fähigkeiten besitzen, zeigt sich an jenem menschlich traurigen aktuellen Beispiel im Kosovo auf der Suche nach einem Vermittler. Evident ist auch, daß diese Vermittlerrolle keine exklusive Anforderung an den Architekten darstellt; wenn aber unsere Politiker als die Architekten des “neuen Europa” bezeichnet werden, so sehe ich hiermit doch eine gewisse Korrelation gegeben und komme damit wieder an den Beginn zurück und sage: Architektur ist politisch.

Winter:
Wenn wir Architektur verstehen als: das Schaffen von Kulturraum, also der kulturellen und kultur-räumlichen Umwelt, so bedeutet das für uns das Schaffen von Lebensraum.

Im Moment – und das zieht sich für mich als Kernaussage durch diesen “1. Grazer Wohnbau Kongreß” – bestimmt die Überreguliertheit unsere Gesellschaft, unseren Lebensraum.

Damit Architektur auch im kulturellen Sinne zur Umweltgestaltung wird, muß sie in der momentanen Situation “de-regulieren”, also “ent-regeln” und das im Vertrauen auf die natürlichen Lebensprozesse.

Und obwohl ich anfangs gesagt habe, daß mit politisch nicht ideologisch gemeint ist, will ich ein ideologisches Schlußstatement abgeben, ich sage: Architektur ist Interaktion. Und sie soll Interaktion zugunsten des Lebens sein.

Architektur ist immer Bauen für das Leben.
Baukunst ist der Ausdruck menschlichen Lebens in seiner Vielfalt.
In dem Maße, in dem regulierende Einflüsse auf das Bauen einwirken, und das Bild des menschlichen Lebens in seiner Vielfalt als Ziel und Essenz allen Bauens verlorengeht, ist der Architekt zum Widerspruch aufgefordert: Der Architekt muß zu lebendigen Prozessen stehen.
Der Architekt war aber immer und ist bis heute im Anspruch auf die Richtigkeit seiner Wahrheit gefangen.

Danke.
Der vorliegende Text ist die bearbeitete Wiedergabe eines mündlichen Vortrages, gehalten im Rahmen des 1. Grazer Wohnbaukongresses im Jahr 1999, mit dem Titel "wohnbau ...haltbar bis", an der TU Graz, veranstaltet vom Institut für Städtebau und Umweltgestaltung, Fakultät für Architektur.

Alle 17 Kongressbeiträge sind in Buchform erscheinen:
wohnbau ...haltbar bis. Band 1
Beiträge zum 1. Grazer Wohnbaukongress
22.-24 . April 1999
housing ...best before. volume 1
Contributions to the 1st Graz Housing Congress 22nd - 24th April 1999
Hg: Ute Angeringer, Jörg Kindermann, Hansjörg Tschom, Wolfgang Winter
Verlag der TU Graz, ISBN 3-901351-44-2

Der Beitrag folgt konsequent der alten Rechtschreibung, die zum Zeitpunkt seiner Erstveröffentlichung noch gültig war.

DI Jörg Kindermann und DI Wolfgang Winter sind Lehrbeauftragte am Institut für Wohnunbau der Architekturfakultät, TU Graz.

Verfasser/in:
ausgewählt von Ute Angeringer-Mmadu
Netzwerktreffen
16. + 17.11.2023
 
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