06/07/2008
06/07/2008

sonnTAG 234

Rem Koolhaas (CCTV Headquarter Peking)

Norman Foster (Camp Nou Stadion, Barcelona)

Frank Gehry (Guggenheim Museum, Bilbao)

Zara Hadid (Bergisel Schanze Innsbruck)

Jean Nouvel (Kultur- und Kongresszentrum Luzern)

Kevin Roche (Ramlee Tower Kuala Lumpur - Detail)

Coop Himmelb(l)au (Akron Art Museum)

Daniel Libeskind (The Ascent, Covington)

Oscar Niemeyer (Vorentwurf zu einer neuen Hauptstadt von Österreich). Fotos: Emil Gruber

Architektur der Demut oder Form Follows Socke.

Von Emil Gruber

Dann lag sie plötzlich zwischen meinen Beinen. Diese Socke. Als ich in der Hosentasche nach meinem Hausschlüssel bohrte und daher den Blick geneigt hatte, war sie mir zu Füßen. Im Randstein vor der Eingangstür meines Hauses. Nichts erinnerte mehr daran, dass da einmal fünf Zehen die Socke kurz in die Länge dehnten, bis sie als Schutzhülle vor Schweiß, Reibung oder Kälte am senkrechten Endterritorium eines Menschen im Dunkeln eines Schuhs ihrer Bestimmung nachkam. polypropylen-, polyamidverstärkt oder doch reine Baumwolle?

Zusammen mit dem Zwillingsbruder als Markenware aus einer Boutique oder im Fünferpack aus einem Diskontladen zur peditären Sklaverei entführt? Regelmäßig in Waschmaschinen Schleudertraumen ausgesetzt? Zu ruchlosen Mehrtagesverwendungen erniedrigt? Schlüpfriger Untertan eines Kindes, einer Frau, eines Mannes ?
Ich weiß es nicht.

Sie war bereits bis zur Unkenntlichkeit Durchzugsstraßen gepflegt. Von Gummiprofilen gemartert, durch Verkehrswellen ins Rinnsal geschleudert, vom täglichen Regen aufgepludert. Ein leckes Boot, mit Steinchen, Sand und verwelkenden Blüten- und Blattfragmenten als letzte Passagiere, am Betonriff einer Gehsteigskante gestrandet. Keine Zeugen, die den Ursprung dieses textilen Exodus beobachteten, keine Spur vom gefaserten Alter Ego. Der Täter unbekannt. Die Ermittlungen eingestellt. Ein Beinkleid Cold Case.

Socken führen ein Leben im Unten. Tag um Tag, auch in der Kunst.
An der fehlenden Demut von Anzugträgern am eigenen geschlauchten Bindeglied zwischen Hose und Schuh scheiterte ja auch Antoni Tapies. Seine für die Eröffnung des Nationalmuseums in Barcelona bestimmte, schmutzige Riesensocke als Huldigung der Bedeutsamkeit des im täglichen Leben Unbedeutenden blieb ein Entwurf.
Wie gesagt, Socken führen ein Leben im Unten.

Zeit zur Umkehr, Zeit für eine Huldigung. Zeit den Blick zu senken, nach außen und nach innen. „Demut ist schließlich nichts als Einsicht“ (Egon Bahr).

Wer seinen Kopf im Freien neigt, wird eine neue Ästhetik entdecken. Taucht in die Architektur des Weggeworfenen, Entsorgten oder Verlorenen. Beiläufig in ihrer Wahrnehmung, derb ätherisch in ihrem Willkürdesign. Das Schicksal hat hier schon ereilt. Vergänglichkeit? Ja unbedingt! Nachhaltigkeit? Gott bewahre! Jedes Fragment ist hier sein eigener flüchtiger Masterplan. In einer ständig vorläufigen Endmodellierung.

Straßen, Gehwege, Trampelpfade durch Grünanlagen - aus der kleinen Vogelperspektive eröffnet sich hier dem Spaziergänger die Nomenklatur des Drecks, die Bionik des Abfalls, die Hermeneutik des Mülls. Alles an Form ist hier erlaubt, These und Antithese bauen gemeinsam an Strukturen, kein Flächenwidmungsplan bremst.

Wehe dem, der aufrecht bleibt. Nur der Architekt, der den erhabenen Blick exorziert, vor dem Schmutz in die Knie geht, wird Erleuchtung erlangen.
Die Ikonen der Zunft holen sich schließlich schon lange ihre Inspirationen durch Demut.

Emil Gruber lebt in Graz.
Bildermacher, Schreiber, Spaziergänger.
KONTAKT: katmai@aon.at

Verfasser/in:
Emil Gruber
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