20/07/2008
20/07/2008

sonnTAG 236

LAST MINUTE - von Wilhelm Hengstler

Eine leicht neurasthenische, aparte, und politisch ziemlich korrekte Frau meinte letzthin ihr Sabbatical mit einer Fernreise auslaufen zu lassen – wohin wisse sie noch nicht, sie werde das günstigste Last Minute Angebot buchen. Der Blick zurück (oder hinab) auf all die unterschiedlichen Reisespraktiken, die ich schon erlebt hatte, machte mich schwindeln.

Ich wuchs in der Obhut einer steirischen Schipionierin auf. An dunklen Wintermorgen wurden die Bretter (noch ohne Stahlkante) geschultert, und eine Reise mit der Straßenbahn brachte uns quer durch die Stadt nach Andritz, wo meine Cousine abgeholt wurde. Dann ging es weiter zu Fuß hinauf auf die Platte. Meine Cousine war drei Jahre älter als ich, was bei einem Siebenjährigen enorm was ausmacht. Oben auf der Platte zitterten mir die Beine, was sich verheerend auf meinen Fahrstil auswirkte und mir den Nationalsport für den Rest meines Lebens verleidete. Das Sinnbild vom Pilger auf seiner beschwerlichen Lebensreise durch dieses Tal des Jammers wurde mir auf diese Weise früh vertraut.

Damals absolvierten höhere Angestellte oder Bankdirektoren ihre Sommerfrische noch auf dem Land, meist in Zimmern ohne fließendes Wasser, ohne WC und schon gar nicht mit Bad. Dafür gab es Familienanschluss und eine ländliche Küche, deren Charme vor allem im Mangel der Nachkriegszeit lag. Aber diese Begegnungen zwischen Sommerfrischlern und Gastgebern hielten über Generationen. Die Kinder der Gäste von damals kommen noch heute auf der Durchreise zu ihren Segeljachten in der Adria vorbei, und präsentieren ihrer seinerzeitigen, nunmehr sehr betagten Gastgeberin (der Mann ist bereits verstorben) die Enkel.

Meine Sommerfrischen fanden in Bruck am Küchenfenster meines magenkranken Onkels statt, wo ich die angeblich heiteren, tatsächlich aber ungeheuer grausamen Bildergeschichten von Wilhelm Busch studieren durfte. Reisen bildet. Zur Entspannung schaute ich hinüber zu den Schwalben auf der Stromleitung. Keine Ahnung, wo diese Vögel geblieben sind. Reisen sie nicht mehr?

Hier wechsle ich elegant zur Reiseliteratur: Ein anderer Onkel von mir, sub auspiciis promovierter Bauingenieur mit enormen Schweißfüßen, hat meines Wissens niemals Belletristisches konsumiert, ausgenommen seine zerfledderten Karl May-Bände (Durch die Wüste) und den Fahrplan der ÖBB - damals ein sehr dickes Buch. Gereist ist er niemals, kannte aber unglaublich viele Verbindungen auswendig. Wie unser raunender Nationalpoet sagt: „Die wahren Abenteuer sind im Kopf…“

Wenn globale Heimat das ist (um ein berühmtes Wort abzuwandeln), wo keiner hin will, dann gewinnt die „Zimmerreise“ erhöhte Anziehungskraft. Tatsächlich gab es einen Xavier de Mainstre, der schon 1790 eine Reise durch sein eigenes Zimmer antrat, und den wahrheitsgemäßen Bericht darüber unter dem Titel
„Reise um mein Zimmer“ veröffentlichte. Er legte diese Art Reise für die nur Pantoffeln und Pyjama benötigt werden, vor allem den Mittellosen ans Herz. Noch heute sind technisch avancierte Zimmerreisen via Fernsehen ein Programm für eher Unterbemittelte. Reisesehnsucht wird durch so genannte Dokumentationen - Galapagos! Eismeer! Death Valley! – gestillt. Die gefilmten Bilder zeigen Orte und Landschaften eindringlicher, als man sie „live“ erleben könnte. Insofern gleichen sie pornografischen Filmen, die genauere, wenn auch nicht unbedingt schönere Bilder von diversen Aktivitäten zeigen, als sie live vom hormonseligen Praktikanten wahrgenommen werden.

Jahre vor Einführung des Fernsehens gab es in der Herrengasse das „Panorma“. Ich durfte auf einem roten Samtkissen knien, um durch die Messingmaske auf beleuchtete Bilderkulissen blicken zu können. Lebendig Verschüttete, Auswirkungen der Atombombe in Hiroshima, unheimliche Menschenfresser bewegten sich, von einem sanften Klack begleitet, im Kreis vorüber und verschafften mir frühe Inbilder der Fremde und erstklassige Alpträume.

Später führten die wirklichen Reisen zum Schwimmlager nach Burgau, bald darauf als Jungautor zu auswärtigen Lesungen. Die Dramaturgie letzterer Unternehmungen bestand darin, einer Alkoholvergiftung so nahe wie möglich zu kommen und dabei auf beiden Beinen zu bleiben. Oder mit einem Mädchen zu schlafen, das ein Faible für Literatur hatte. Oder am besten beides. So schön kann Literatur sein. Die Drinks waren wehrlos, aber warum die Mädchen mitmachten, ist mir heute noch schleierhaft.

Auf das Autostoppen folgten mindestens monatelange Reisen mit moribunden PKW oder Kleinbussen, die hinreichend Verstecke für allerlei orientalische bzw. illegale Spezereien boten. Gelegentlich wurden Reisepausen eingelegt, um Gelder für die Weiterreise zu akquirieren. Oder das Gastland brachte die straffälligen Reisenden in Örtlichkeiten unter, wo für längere Zeit sehr, sehr gut auf sie aufgepasst wurde.

Das alles fiel unter das Konzept Erfahrungen zu machen, Unvergessliches zu erleben. Aber woran erinnere ich mich eigentlich noch, was habe ich je gewusst über die norwegischen Fjorde, halb im Grund versunkene Kathedralen in Portugal, oder die „Haha“ genannten Gräben in englischen Parklandschaften? In diesem Zusammenhang habe ich einmal den Satz geschrieben „Manchmal muss man irgendwohin fahren, um zu vergessen, dass man dort gewesen ist“, habe aber keinen blassen Schimmer mehr, was ich damit eigentlich meinte.

Das alles diente dazu erwachsen zu werden, als Persönlichkeit zu „reifen“. Ähnlich wie junge Adelige und reiche Bürgersöhne vergangener Jahrhunderten auf die „Grand Tour“ durch Europa gingen: Da machte man dann Goethe seine Aufwartung in Weimar, versuchte der Syphilis auszuweichen und lernte vermutlich das Whistspielen in London. Man spricht von „rites of passage“, Initiationsriten für den Wechsel vom Jugendlichen zum Erwachsenen. Es handelt sich dabei um ein anthropologisches Prinzip, das gleichermaßen bei den Bleichgesichtern, den Rothäuten oder den Aborigines auftaucht.

Es galt als unverzichtbar, sich vor Antritt der Reise Grundkenntnisse der fremden Sprache, Kultur und Geschichte anzueignen. Noch die Generation VW-Käfer wuchs reisebedingt zu Italien-, Frankreich- oder Spanienkennern, zu geistesgeschichtlichen Teilzeit-Spezialisten heran. Atheisten mutierten zu Experten für hochgotische Kathedralen, Gourmets, die vorher „pastos“ allenfalls für einen speziellen Pastis gehalten hatten, kannten plötzlich sämtliche Gemälde Zurbarans in Sevilla, Villenbesitzer, die ansonsten mit Gartenzwergen liebäugelten, wurden heimisch in allen Palladiobauten.

Das Authentische wurde zur begehrtesten Reisetrophäe und verband sich mit dem Kult des politisch korrekten Reisens. Auch für Lehrer oder Abteilungsleiter herrschte plötzlich eine soziale Hierarchie, die an den Sprachkenntnissen und vor allem an der Vertrautheit mit Einheimischen gemessen wurde. Es war schon beachtlich, wie blondierte Hofratsgattinnen plötzlich mit unrasierten, berufshalber ein heftiges Odeur verströmenden Fischern Bruderschaft tranken.

Bei den ganz großen Reisenden, wie Marco Polo, die Jahrzehnte „unterwegs“ waren, verwischten sich die Unterschiede zwischen Weg und Ziel. Unterwegs zu sein wurde zur heimatlichen Lebensform. Dass der Weg das Ziel ist, wurde mit dem Auftauchen des Begriffes „Destination“ fraglich. Die Methode „Last Minute“ kennt Destinationen, aber keine Ziele. Dass der Weg das Ziel ist, lässt sich ja sagen, dass der Weg die Destination ist, eher nicht. An Stelle des Ziels tritt genormte Qualität. Zuerst die streng regulierte Bewegung der euphemistisch „Fluggäste“ bezeichneten zweibeinigen Biomasse über Laufbänder, in Funktionsräume und enge Flugkäfige. Anschließend die große Mast in einem Resort, das vom eigentlichen Land beinah fugendicht abgeschottet wird. Es mag ja sein, dass sich die Länder noch voneinander unterscheiden, die Resorts mit Sicherheit nicht. Gelegentliche Raids aus dem Resort heraus ins Weichbild der Städte erinnern an US-Stoßtruppunternehmen in Bagdad: Nur ist an Stelle des gepanzerten HUMVEES ein klimatisierter Bus, an Stelle scharfer Munition ein schwacher Dollar bzw. ein starker Euro getreten.

Auffallend ist die Verbissenheit, mit der sich die Reisenden gegen den echten oder vermeintlichen Nepp zur Wehr setzen. Leute, die zu Hause ohne weiteres einen Euro Trinkgeld geben, bekommen Tränen vor Wut, wenn sie unterwegs um 20 Cent übervorteilt werden. Die Tränen des Rikschahfahrers, der sie barfuß 12 km durch die dreckige Luft von Dakhar zieht, rühren sie nicht. Der Mann will sie vermutlich übers Ohr hauen, also geben sie ihm sicherheitshalber zu wenig. Kids, die sich daheim über die Praktiken der Sweatshops erregen, sehen ihren ultimativen Urlaubserfolg darin, noch billiger unterwegs zu sein, als es ihr Lonely Planet vorschreibt. An Stelle der Authentizitätssucht ist irrationaler Geiz getreten.

Reisen ist nicht nur eine der größten Industrien. Solange einem das Träumen nicht ausgetrieben wird, stellt es eine temporäre Alternative zum Alltag, vielleicht zum verunglückten Leben dar. Deshalb erledigen die Abreisenden ja auch all die Arbeiten, die schon lange anliegen, und genau so gut noch warten können. Verfassen Briefe, die schon längst geschrieben gehört hätten. Stellen viel zu schwere Reisebibliotheken aus Büchern zusammen, für die sie bisher nie die Energie hatten, sie zu lesen. Oder suchen ihr verwahrlostes, halb vergessenes Sportgerät zusammen: Kanu, Mountainbike, Kletterausrüstung, Neopren Anzug. Sie möchten versäumte Chancen im Reizklima der Fremde noch einmal wahrnehmen, vielleicht doch noch der werden, der sie hätten sein können. Unter zunehmendem Stress werden alte Zelte abgebrochen und neue Horizonte avisiert… Ich muss endlich Schluss machen, die Hupen unten schon, der Text ist viel zu lange, der Flieger wartet nicht. Nur noch die Tinte umfüllen, diese Buch noch… und…und…
WILHELM HENGSTLER ist Filmregisseur und Autor, ausgezeichnet mit dem Manuskriptepreis 2004, lebt in Judendorf/Strassengel bei Graz.

Verfasser/in:
Wilhelm Hengstler
Netzwerktreffen
16. + 17.11.2023
 
GAT+