17/08/2008
17/08/2008

sonnTAG 240

Ob Geheimnisumwittertes ...

… Beschauliches …

… fröhliches Landidyll …

oder Kunst im Winzerhaus …

… das Abenteuer ruft …

… lockt uns an immer neue Orte …

… lässt uns nicht ruh´n …

… bis … (Fotos: Ruth Scheuer)

ORTE DER INSPIRATION (1)

Von Ruth Scheuer

Als ich mich vor einigen Jahren mit verschiedenen Methoden des Kreativen Schreibens befasste, stolperte ich über eine schlichte Übung, die dem lernfreudigen Schreiberling zur Anregung des Kreativflusses dienen sollte: „Nennen Sie 101 Orte, an denen Sie gewesen sind.“ Was sich zuerst als langwierige und eher kindische Lektion anhörte, entpuppte sich überraschend zu einer äußerst reizvollen Aufgabe. Flüssig – ohne lang nachzudenken – schrieb ich all meine Lieblingsplätze auf, von der frühen Kindheit bis in die Gegenwart. Auch einige düstere Kulissen und trostlose Stätten, an denen Dinge passierten, die hier nicht Gegenstand sind, tauchten auf und forderten ihr Recht auf Aufmerksamkeit. Urlaubsorte und Städtetrips streuten sich recht unauffällig zwischen all die Schauplätze. Bunte, lebendige Bilder kamen hoch, versetzten mich in rasant wechselnde Stimmungslagen. Die unterschiedlichen Atmosphären erschienen wie im Zeitraffer gedreht und alles zusammen in einem Lebensfilm verpackt. Mein Leben – ein abenteuerliche Reise von Ort zu Ort. Eine völlig neue, spannende Sicht tat sich auf.

Seit dieser literarisch angehauchten Reise in die Vergangenheit wird mir immer wieder bewusst, wie sehr wir alle geprägt sind von bestimmten Orten, die uns erst Schutz und Zuflucht bieten, und dann, wenn wir beginnen, uns darin wohlzufühlen, unsere Phantasien anregen. Es müssen immer erst Ort und Mensch zu einer Symbiose werden, damit etwas entstehen kann. Wir spielen, lernen, arbeiten, leben, lieben, reisen – alles ist untrennbar verbunden mit bestimmten Orten. Tragisch, dass manche Menschen sich erst am Urlaubsort richtig frei und lebendig fühlen. Dabei muss man gar nicht in die Ferne schweifen. Jeder kann sich sein ganz persönliches, kleines Paradies gestalten, wo er sich seinen speziellen Sinnesfreuden hingibt. Oft bleibt uns ein Ort auch nur durch eine kurze Sequenz ein Leben lang in Erinnerung. Wir treffen uns an einem bestimmten Ort zum ersten Rendezvous – und heiraten den geliebten Menschen Jahre später. Oder wir verabreden uns zu einem Geschäftsessen im Nobelrestaurant – und machen den Deal unseres Lebens.

Es gibt grundsätzlich Orte, wo wir mehr wir selbst sein können als woanders. Ein simples Beispiel: Ich bin im Wald mehr ich selbst als im Shoppingcenter. Dort fühle ich mich als Fremdkörper: Verstört und ungeduldig irre ich durch endlose Gänge. Während mir im „Einkaufsparadies“ wenige Meter wie Kilometer erscheinen, habe ich im Wald das Gefühl, mit Siebenmeilenstiefeln unterwegs zu sein. Mühelos und ohne Zeitgeißel erreiche ich mein Ziel: eine Waldlichtung oder auch einen gemütlichen Gastgarten, wo ich zufrieden meine Rast einlege und mich an Erfrischendem labe.

Mittlerweile bin ich schon recht gut darin geübt, mir die wichtigen Plätze nach meinem Geschmack und meinen Bedürfnissen einzurichten. Meine Wohnung liegt in einer kleinen Grünoase, wo mich nicht Menschenmassen und Verkehrschaos am Morgen wecken, sondern Kinderlachen und Vogelkonzerte. Ohne Natur bin ich´s sozusagen nicht. Aber auch Architektur, die sich respektvoll und elegant in die Natur einfügt, fasziniert ungemein. Freunde und Verwandte kennen mittlerweile meine Vorliebe für Spaziergänge, die manchmal auch ausufern in abenteuerliche Kraxeltouren über umgestürzte Baumleichen oder an wildem Dornengestrüpp vorbeiführen, was nichts für fein gewandete Leute ist, die lieber in stylishen Stadtcafes sitzen. Manche Gespräche kommen erst richtig schön ins Fließen, wenn wir die sanfte, mir persönlich fast zu brave Runde um den Teich wandeln. Aber auch dort werden die Sinne wunderbar angeregt und unsere Gedanken sind einfach freier und frischer als in beengten Räumen. Deshalb lassen sich Probleme im Gehen besonders leicht von der Seele reden. Loslassen in freier Natur lautet die Devise.

Was aber sind die ultimativen inspirierenden Orte für kreative Geister? Wieder tut sich eine Vielzahl an Szenarien auf. Wie wär´s zum Beispiel mit einem hübschen, alten Schlösschen in einem verwunschenen Garten mit wild wuchernden Rosen und farbenprächtigen Blumen und Sträuchern? Mittendrin vielleicht noch ein Seerosenteich und das ganze Idyll melodiös untermalt mit Grillengezirpe und abendlichem Froschgequake? Bestimmt ein idealer Ort, um zauberhafte Märchen zu spinnen, von verschlafenen Jungfrauen beispielsweise, die irgendwann wachgeküsst werden.

Aber kann nicht auch ein seit Jahrzehnten aufgelassenes Fabriksgelände die Kreativität anregen? Ich finde schon. Denn gerade da, wo gespenstische Stille und düstere Kargheit ehemals lebendige Betriebsamkeit erahnen lassen, könnte etwas Außergewöhnliches entstehen. Eine Geschichte zum Beispiel, die von Großvater erzählt, der damals unter harten Bedingungen seine Familie ernähren musste, der für immer verschwand, kurz nachdem die Fabrik geschlossen wurde.

Manchmal haben wir Glück und erleben einen dieser magischen Momente, wo wir uns in irgendeiner fremden, aufregend schönen Stadt in einer Art Déjà-vu-Erlebnis wiederfinden. Wir stehen vor einem einstmals prächtigen und nun dem Verfall preisgegebenen Gebäude, berühren den schmiedeeisernen Türknauf mit dem Löwenkopf und plötzlich haben wir das untrügliche Gefühl, hier schon einmal gewesen zu sein. Es ist wie ein Stück Heimat in der Fremde. Diesen äußerst seltenen Augenblicken, wo wir Raum und Zeit zu überbrücken scheinen, sollten wir alle Aufmerksamkeit schenken. Wir sollten sie dankbar annehmen und zu einem geeigneten Zeitpunkt als kostbare Inspirationsquelle nutzen.

An Orten, die unsere Phantasie anregen, die den Widerspruchsgeist wecken, die uns zu Tagträumen verführen, die uns heitere und surreale, aber auch katastrophale Aspekte des Daseins vor Augen führen, fühlen wir uns auf eine spezielle Art noch lebendiger als sonst. Und in dieser Wachheit, wenn alle Sinne auf Empfang geschalten sind, wenn Bild und Wort einen Dialog beginnen, können auch unsere sonst tief verborgenen Talente freigelegt werden. Auf wundersame Weise entfalten sie sich auf einmal mühelos. Bestimmte Orte sind wie Futter für unsere Kreativität.

Mit solchem „Futter“ – in Form von spannenden Geschichten über außergewöhnliche Orte der Inspiration – möchte ich die geneigten LeserInnen auch gerne noch eine Weile verwöhnen.
RUTH SCHEUER
Lebt in Graz.
Arbeitet als freie Autorin, Lektorin und Bildgestalterin. Initiiert Kreativworkshops.
Liebt Kunst, Natur und Freiheit, Menschen, die das Staunen nicht verlernt haben, magische Orte, abendliche Spaziergänge, sinnliche Genüsse und noch viel mehr schöne Facetten des Lebens.
Kontakt: ruth.scheuer@tele2.at

Verfasser/in:
Ruth Scheuer
Netzwerktreffen
16. + 17.11.2023
 
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