05/10/2008
05/10/2008

Als die Grazer Annenstraße Krefelderstraße hieß: Postkarte (ca. 1938-1942) zeigt die Straße mit dem bekannten Rosegger-Haus.
Fotoquelle: Archiv Stadt Graz

Annenstraße mit Blick Richtung Innenstadt: vor dem Krieg galt auch hier Linksverkehr. Fotoquelle: Archiv Stadt Graz

Die Stadt Graz plant, in den nächsten Jahren insgesamt 100 Millionen Euro in die Verbesserung der Annenstraße zu investieren. Schaubild von der oberen Annenstraße. Quelle: Stadt Graz

Plätze sollen neu gestaltet werden: Schaubild Esperantoplatz bei Nacht. Quelle: Stadt Graz

Platz für Wasser und Grünflächen: Beispiel Zugang zum Metahofpark, Schaubild. Quelle: Stadt Graz

Annenstraße NEU?

Von Ulrich Tragatschig.

Am 22. September war die Annenstraße in Graz autofrei und ziemlich selbstreflexiv. Im UCI Annenhof und anderen Geschäftslokalen wurde nicht nur ihre Geschichte illustriert. Auch Pläne für ihre nähere Zukunft wurden skizziert.

Nach dem Krieg war die Welt für die Annenstraße noch in Ordnung. Die Annenstraße hatte damals Flair, der wohl über die typische Verklärung des Vergangenen hinaus reicht. Jedes Wochenende und manchmal auch unter der Woche, erinnert sich Frau Friedl, sei sie vom Hauptbahnhof in die Annenstraße spaziert, wo die Auslagen mit den verschiedensten Sachen noch etwas Besonderes waren, wo die vielen Konditoreien einen Duft von echtem Bohnenkaffee und leckeren Mehlspeisen verströmten. Die von der Abteilung für Verkehrsplanung im UCI eingerichtete Ausstellung „Ansichten und Einsichten“ ist vollgehängt mit solchen Anekdoten. Die Annenstraße, das war der Ort, wohin man auch von weither fuhr, um einmal Stadt zu schnuppern. Mit dem Zug nach Graz und dann die Annenstraße einmal rauf und runter. Fertig war der erlebnisreiche Einkaufstag.

Das ändert sich in den 70er Jahren komplett. Als Hauptverkehrsachse erliegt die Annenstraße dem explodierenden Individualverkehr, der die nun mobilen Leute aus der Stadt, in die Randbezirke bringt, wo nicht nur Reihenhausglückseeligkeit und Kinderspielplätze, sondern bald auch Einkaufszentren darauf warten, alle Lebensbedürfnisse aufs Beste abzudecken.

Mit dem Absiedeln alt eingesessener Betriebe zeichnet sich eine weitere Veränderung ab, mit der nicht jeder glücklich ist: Nicht nur Billigshops ziehen in der Annenstraße ein und verändern deren Image, auch viele von Immigranten betriebene Geschäftslokale. Beide spitzen den in der Annenstraße repräsentierten Branchenmix auf die hier ansässige Bevölkerung hin zu. Lend und Gries, die beiden Viertel, welche die Annenstraße trennt, waren immer schon durch ethnische und soziale Diversifizierung gekennzeichnet, haben immer schon unterschiedliche kulturelle Milieus und dementsprechend differenzierte urbane Lebensstile nebeneinander angeboten. Zunehmend entspricht nun auch die Geschäftslandschaft in der Annenstraße dieser urbanen Vielfalt.

Langsam wird nun auch stadtplanerisch für die Annenstraße umgedacht. Ein erster, 1999 unternommener Versuch, die Annenstraße abschnittsweise nur in eine Richtung befahrbar zu gestalten, fiel allerdings nach peinlich kurzer Zeit dem Protest der ansässigen Händler zum Opfer, die damals interessanterweise noch davon ausgingen, dass ihre Kundenfrequenz proportional zur PKW-Verkehrsdichte wäre.

Die Stadt Graz plant, in den nächsten Jahren insgesamt 100 Millionen Euro in die Verbesserung der Annenstraße zu investieren. Vorgesehen ist laut Baudirektor Werle unter anderem eine Straßenbahnunterführung des Gürtels mit einer unterirdischen Haltestelle beim Bahnhof, die Neuorganisation des Verkehrs (mehr Platz für Fußgänger und Radfahrer, mehr Sicherheit für Straßenbahnfahrgäste) und die Attraktivität der Straße ganz allgemein mit mehr Licht, Bäumen, Wasser, Bänken zu erhöhen: „Perlenschnurartig aufgefädelte Platzsituationen sollen zum Wohlfühlen einladen.“ So soll aus der Annenstraße tatsächlich (wieder) eine „Erlebnisstraße“ werden.

Solche Maßnahmen kommen freilich spät. Schon weil sie Gestaltungsprinzipien umlegen, die bereits in den 70er Jahren entwickelt wurden und dort überraschenderweise an dieselben Konzepte anschlossen, welche auch den vielgeschmähten Einkaufszentren auf der grünen Wiese zugrunde lagen. Den aus Österreich stammenden Architekten Victor Gruen kennt man landläufig als Erfinder dieses Typs neuer Shoppingwelt, mit dem er übrigens die Cities entlasten bzw. zu deren Revitalisierung und Re-Urbanisierung beitragen wollte. Dass er das von ihm entwickelte EKZ-Konzept aber auch konkret auf die Sanierung bedrohter Stadtkerne umlegte, ist weniger bekannt: Die fußgängerfreundliche, verkehrshemmende Umgestaltung der Wiener Innenstadt etwa geht maßgeblich auf ein von ihm 1971 fertig gestelltes Konzept zur Neuorganisation des Stadtkerns zurück.

Veränderungen hat die Annenstraße jedenfalls nötig, will sie dem ihr vorgezeichneten Schicksal, als laute, staubige, gefährliche Durchzugsstraße zu verkommen, noch entgehen. Spätestens wenn die Otto-Konzerntochter ECE 2012 ihr Shopping-Center an der Gürtel-Kreuzung eröffnen wird, spätestens wenn aus den Reininghaus-Gründen ein städtisches Entwicklungsschlaraffenland entstanden ist, wird die Annenstraße in Verlegenheit geraten, entweder als Verbindungsachse bzw. Verkehrshölle zwischen Innenstadt und smart designten Architekturlandschaften abzustinken oder um- und aufzurüsten.

Dass der Bau eines Einkaufszentrums seine Nachbarschaft unter Zugzwang bringt, sich ebenfalls durch Investitionen aufzuwerten und konsumfreundlicher zu gestalten, wird ja selbst von der ECE bzw. von ihrem Vorstandsvorsitzenden Alexander Otto nicht bestritten: „Der Bau einer Innenstadt-Galerie sorgt vielfach dazu, dass ein „Ruck“ durch den bestehenden Einzelhandel geht: Lange geplante Investitionen werden umgesetzt, der Ladenbau modernisiert, City-Management-Gesellschaften werden gegründet und die Fußgängerzone aufgewertet. Eine Innenstadt, die sich auf diese Art fit für den Wettbewerb macht, muss weder ein Shopping-Center noch die Nachbarstädte fürchten.“

Die spezifische Situation in Graz wird allerdings vom Umstand verkompliziert, dass vom neuen ECE-Projekt eine der sozialen Wirklichkeit der Annenstraße diametral entgegen gesetzte Vorstellung des Urbanen repräsentiert ist, von der sich die Annenstraße als „Multi-Kulti-Traumland“ markant unterscheiden wird. Wird das gut sein?

1 „Annenstraße im Fokus“, BIG (September 2008), S. 4.
2 Vgl. Victor Gruen, Das Überleben der Städte. Wege aus der Umweltkrise: Zentren als urbane Brennpunkte, Wien/München/Zürich 1973, S. 223–245.
3 Alexander Otto: Fakten statt Vorurteile – wie sind Shopping-Center heute wirklich?, in: Shop aktuell, Ausg. 102 (12. 9. 2007).

> > AUSSTELLUNGSHINWEIS:

"Die Grazer Annenstraße: Ansichten und Einsichten/Mobilität einst/Ansichten und Aussichten"

Mit den Ausstellungen "Die Grazer Annenstraße - Ansichten und Einsichten" in der UCI Kinowelt Annenhof bis 15. Oktober 2008 und "Die Grazer Annenstraße - Mobilität einst" in den Auslagen der Annenstraßen-Betriebe (Ende: 22. September 2008) soll ein bildhafter und erinnerungsreicher Ausschnitt der Kulturgeschichte der Grazer Annenstraße gezeigt werden.

_ Ausstellungsort: UCI Kinowelt Annenhof und Annenstraßen-Betriebe, Annenstraße, Graz
_ Ausstellungsdauer: bis 15.10.2008
geöffnet täglich von 15.00-22.00 Uhr

KURZBIOGRAFIE:
Ulrich Tragatschnig ist Kunsthistoriker- und -kritiker; Lehrbeauftragter am Institut für Stadt- und Baugeschichte der TU Graz und freier Schreiber. Tragatschnig arbeitet zusammen mit Monika Stromberger an einem Forschungsprojekt zur Geschichte und Zukunft der Grazer Annenstraße.
Kontakt: ulrich.tragatschnig@TUGraz.at

Verfasser/in:
Ulrich Tragatschnig
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