28/12/2008
28/12/2008

ORTE DER INSPIRATION (3) – Stille Oasen

von Ruth Scheuer

STILLE.
Wie eine weiche, flockige Schneedecke legt sich Stille über die Seelenlandschaft. Kühlt den geschundenen Körper. Beruhigt das erhitzte Gemüt. Sonst nichts.
Kein Weihnachtstrubel, keine Events, kein Shoppingwahn, keine endlosen Diskussionen, kein innerer Dialog. Nichts. Nur Stille.
Milde Sanftheit füllt den Raum, weitet sich aus, breitet langsam, sehr langsam ihre Flügel aus und schwebt nach draußen. In den Garten, über die Stadt, hinaus in die Welt. In eine Welt, die gleichzeitig drinnen Platz hat. In mir. In uns. In allem.

Die Welt, das ist im Augenblick durch die halb geöffneten Augen betrachtet die flackernde Flamme einer Kerze, das Abendrot über der Stadt, die mit Einbruch der Dunkelheit ihre Lichter zu einem flimmernden, glitzernden Teppich webt. Es dauert nur wenige Atemzüge und die Wolkengebilde wandeln ihr Dunkelviolett in ein tiefes, sattes Schwarz. Was ein anderes Mal als bedrohlich wahrgenommen wird, ist nun wohltuende Ruhe. Einen Moment lang empfinde ich dieses Idyll, das sich hier vor meinen Augen auftut, als kitschig. Aber es gibt hier keine Bewertung. Es IST einfach.

Wir – eine kleine Gruppe von Yoga-Übenden – befinden uns bei Jörg Trettler, der in seinem Haus am Pfeifferhofweg (dem offiziellen Wanderweg von Graz-Andritz Richtung Platte) den Dachraum ausgebaut hat, um hier einen geeigneten Platz zu bieten für seine Kum-Nye-Yoga-Abende. Der Raum ist wahrlich eine Wohltat. Der warme Holzboden, die schlichte Einrichtung, wenige meditative Bilder, genügend Wolldecken, Kissen, jede Menge Kerzen. Ein Fenster ermöglicht diesen atemberaubenden Blick über Graz, die anderen eröffnen ebenso schöne Aussichten in den Garten. Hierher zu kommen bedeutet anzukommen bei sich selbst. Orte wie dieser leben von ihrer besonderen Ausstrahlung, sie regen auf eine bestimmte, oft unerklärliche Weise einfach wohltuende Empfindungen an. Genau das Richtige für Kum Nye Yoga, auch Achtsamkeitsyoga genannt, das aus der tibetischen Tradition kommt.

Unter Jörgs behutsamer und erfahrener Leitung und mit einiger Übung führt die „Kum Nye Expedition“, wie er es einmal genannt hat, in eine ganzheitliche Entspannung von Körper und Geist – in „beschleunigten Zeiten“ wie diesen wichtiger denn je. Wir staunen immer wieder, wie effektiv diese schlichten, sehr langsamen Bewegungen und die ruhige Sitzhaltung wirken.

SCHNEE
FÄLLT AUF SCHNEE –
STILLE

Nicht nur in Japan, wo dieses ZEN-Gedicht entstanden ist, ist der Winter die Jahreszeit, die zur Stille einlädt. Wir nehmen diese Einladung im Westen nur seltener an, meistens verdrängen wir die Stille durch noch emsigere Aktivitäten. Doch gerade wenn die Nächte lang werden holen uns in der Dunkelheit Erinnerungen und Unverarbeitetes ein, was mitunter auch als schmerzhaft erlebt wird. In der tiefen Stille haben aber auch lang gehegte Visionen die Chance, in uns zu erwachen.

So gibt uns die von vielen ungeliebte kalte Jahreszeit die Gelegenheit, die Kraft der Stille zu nutzen. Wenn auch das Stille-Erlebnis bei frischem Schneefall bei uns im Süden noch weitgehend ausgeblieben ist, Spaziergänge in die Abgeschiedenheit der Natur lohnen sich immer!

Einer meiner Lieblingsspaziergänge führt von der Heinrichstraße in die Schönbrunngasse, hinauf bis zum Franzosenkreuz, von dort weiter den Schwarzbauernweg Richtung Mariagrüner Kirche. Dieses kleine, sehr schlichte Kirchlein samt seiner sanften Umgebung ist auch ein wunderbarer Ort zum Innehalten. Weiter geht´s quer über die Mariagrünerstraße, vorbei am Pfarrhof, dann über die Wiese entweder rechts Richtung Einsiedlerweg (!) und schließlich nach Mariagrün oder links durch den Wald hinauf, von wo man irgendwann (überraschend) am Oberen Plattenweg landet und von dort weiter auf die Platte kommt. Ja, auch dieser Weg führt auf die Platte.

Es gibt in der Umgebung von Graz und im ganzen Land natürlich noch eine Vielzahl von solchen Spazierwegen, die an wunderbaren Orten der Stille vorbeiführen oder uns beim Gehen selbst in eine Stille führen. Gehen ist ja auch Meditation.

Inspirationen und künstlerische Impulse haben häufig ihren Ursprung in solchen stillen Unternehmungen. Die Kunst braucht eben auch einsame Stunden. Wobei Einsamkeit nicht schmerzen muss. Im Sinne von All-eins-sein ist sie ein Zustand, der uns kraftvoll und gelassen, ja sogar freudig die täglichen Herausforderungen annehmen lässt.

STILLES LEBEN = Stillleben

Wird nicht schon im „Stillleben“ die Lebendigkeit der Stille begreifbar? All die berühmten und weniger berühmten Maler mussten erst Stille erfahren, um Stille sichtbar zu machen. Stille ist eben auch Schönheit, ist Vollkommenheit, die erst im Gegensätzlichen begründet ist. Wie Licht und Schatten, Weichheit und Härte, Wärme und Kälte. Beim Betrachten eines Stilllebens empfinden wir eine tiefe, innere Ruhe, so, als ob die Dinge nun in ihre richtige Ordnung gerückt sind.

Die Gegensätze bestimmten auch unser winterliches Bild. Vom ausgedehnten Spaziergang durch die karge, kühle Landschaft zurückkommend, belohnen wir uns gerne mit Behaglichkeit. Mit Wärme, Weichheit, Licht. Ist es nicht wunderbar kuschelig, dieses Ankommen daheim oder in einer anderen einladenden Stube? Die gemütlichen stillen Stunden bei einer Tasse Tee oder Glühwein, einem guten Buch, oder einem angenehmen Gespräch? Außerdem können wir ja zur Abwechslung auch einmal gemeinsam schweigen – das stille Einverständnis vorausgesetzt.

Es müssen nicht unbedingt offener Kamin und Ledercouch sein, wir können uns unsere Orte der Stille auch einfach und individuell selbst gestalten. Mit unseren Lieblingswinterfarben, mit Decken und Pölstern, nahe einer warmen Lichtquelle. Ein spezieller Leseplatz in der Nähe der privaten Büchersammlung ist natürlich besonders exklusiv.

Aber auch die öffentlichen Bibliotheken wie z. B, der Lesesaal der Steiermärkischen Landesbibliothek bieten eine besondere und zeitlose Atmosphäre, die den Ruhesuchenden Stress und Hektik der Stadt vergessen lässt.

STILLE SEHNSÜCHTE

Zugegeben, der Winter ist lang und die Natur stellt unsere Geduld manchmal hart auf die Probe. Besonders der Jänner zieht sich unerbittlich in die Länge. Die Weihnachtshighlights sind überstanden und nun?

Nur wenige Menschen baden im Luxus von Zeit und Geld. Die Reise in wärmere Gefilde bleibt für die meisten von uns ein Traum. Doch das Fernweh holt uns erbarmungslos ein. Da reichen auch sonst bewährte Verdrängungsstrategien nicht mehr aus. Es bleibt nur noch das Auskosten des süßen Schmerzes der Sehnsucht.

Für solche Tage, wenn Kälte und Öde des Winters unerträglich scheinen, empfehle ich Freunden gerne einen Besuch in die Gewächshäuser des Botanischen Gartens in der Schubertstraße. Ich selbst bin vor einigen Jahren an einem Jännertag auf der Flucht vor der eisigen Kälte spontan reingegangen. Seither fühle ich mich von diesem Ort besonders im Winter magisch angezogen. Schon am Eingang wurde ich von reich blühenden Türkenkappen begrüßt, bevor ich weiter eintauchen konnte in eine herrliche exotische Pflanzenwelt. Im Sukkulentenhaus wurde ich von den tropischen Temperaturen so überwältigt, dass ich sofort Mantel und Jacke ablegen musste und die beschlagene Brille dazu. Wie im Traum und voller Verzückung lernte ich Schritt für Schritt eine neue Welt kennen, tastete mich staunend durch einen dichten Dschungel, einen phantastischen Pflanzenreichtum, mit dem ich überhaupt nicht gerechnet hatte.

Stille bedeutet nicht unbedingt Abwesenheit von Tönen. Hier kommt Stille auch durch Blätterrauschen, Sprudeln und Plätschern der Bewässerungen zum Ausdruck, Zwischendurch durchbricht das gespenstische Knacken der Glaskuppel die Dschungelatmosphäre und – während man sich allein wähnt und sich seinen Reisephantasien hingibt – kann es sein, dass man plötzlich einem der fleißigen Mitarbeiter des Botanischen Gartens begegnet. Irgendwo hinter indischem Riesenbambus oder Palmfarnen gut versteckt sorgen die Leute dafür, dass die Pracht blühen und gedeihen kann.

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Stille Oasen finden sich mehr als genug – und sie sind eine ergiebige Quelle der Inspiration. Hier noch einige Anregungen (speziell für den Winter):

Museum der Wahrnehmung – Samadhi-Bad
Franziskanerkloster – Kreuzgang Innenhof
Haus der Stille – z. B. „Stille Tage zum Jahreswechsel“
Kunstgarten – Gartenbibliothek (vorher anrufen!)
Galerien, Bibliotheken …

RUTH SCHEUER
Lebt in Graz. Arbeitet als freie Autorin, Lektorin und Bildgestalterin. LIEBT Kunst, Natur und Freiheit, Menschen, die das Staunen nicht verlernt haben, magische Orte, abendliche Spaziergänge, Sinnliche Genüsse und noch viel mehr …
KONTAKT: ruth.scheuer@tele2.at

Verfasser/in:
Ruth Scheuer
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