15/09/2008
15/09/2008

...sogar ein Agent provocateur wurde aufgebracht, der auf der saftigen Wiese des dem Ort gegenüber liegenden Hanges temporäre und tageweise wechselnde Botschaften in die Landschaft schrieb bzw. an die BesucherInnen richtete wie "NO MORE SHITTI ATTACK".

Bisher war mir das Europäische Forum Alpbach zwar aus der Ferne und von Medienberichten ein Begriff, das erstmalige Kennen lernen vor Ort bringt aber eine wesentlich differenziertere Sicht. Da ist zuerst einmal vom ersten Eindruck und vom Dorf an sich zu erzählen: ein typischer alpiner Tourismusort mit all seinem – etwa landschaftlichen – Reiz, konterkariert durch all die kleineren und größeren Bausünden, überschwemmt von Blumenschmuck, Kitsch und Touristen, Blasmusik in Dirndl und Tracht jeden Samstag Abend am Dorfplatz, sogar ein Agent provocateur wurde aufgebracht, der auf der saftigen Wiese des dem Ort gegenüber liegenden Hanges temporäre und tageweise wechselnde Botschaften in die Landschaft schrieb bzw. an die BesucherInnen richtete. Wir hatten über die Bedeutung der Worte NO MORE SHITTI ATTACK zu grübeln. (siehe Foto)

Und dann die Veranstaltung. Mir war nicht bewusst welch enormer Aufwand hinter dem Forum steckt. Alleine die Auflistung der Namen, die in den Gremien des Vereins von der Vereinsleitung, dem Leitungsausschuss, dem Rat, dem Kuratorium, den Korrespondierenden KuratorInnen, dem ständigen Büro (in Wien), dem Sekretariat, dem technischen Sekretariat usw. tätig sind nimmt 2 Seiten von 80 des Programms ein. Noch beeindruckender natürlich das allen Beteiligten ausgehändigte Who is who. Alphabetisch geordnet und – wohl aufgrund der Leistungskapazität der Klammermaschine - in drei Teilen abgeheftet, stellt dieses Kompendium das Hauptgewicht der Tagungsmappe dar.

Das Thema des Jahres 2008 lautete „Wahrnehmung und Entscheidung“, welches in Seminarwoche, Tiroltag, Reformgespräche, Technologiegespräche, Filmworkshops, Universitätstage, Politische Gespräche, Bankseminar, Wirtschaftsgespräche, Gesundheitsgespräche und Architektur/Baukulturgespräche unterteilt war. Ich könnte den Rest des Berichts darauf verwenden, um die Subthemen der einzelnen Bereiche abzuschreiben, werde mich jedoch in weiterer Folge eher dem letzten Abschnitt widmen. Denn die Architektur/Baukulturgespräche waren sicherlich nicht nur zeitlich am Ende zu finden. Auch sonst hatte man das Gefühl, dass diesem Thema – um es höflich zu formulieren – nicht das Hauptaugenmerk der Verantwortlichen geschenkt wurde. Die wirklich interessanten, international renommierten Fachleute, die für andere Gesprächsrunden aus ganz Europa, oder auch aus Übersee eingeflogen wurden, fehlten – neben einem präzisen Thema – bei den Architektur/Baukulturgesprächen gänzlich. So konnte das Allerweltsthema „gebaute oder verbaute Umwelt“ in eineinhalb Tagen, aufgeteilt in 7 Blöcke ohne große Anstrengung für die DolmetscherInnen abgehandelt werden, da ausschließlich Deutsch gesprochen wurde. Der Start des ersten Tages verlief etwas enttäuschend. Da holte etwa der deutsche Historiker W. Sonne mit seinem Kompagnon, dem Architekten Ch. Mäckler zu einem Rundumschlag gegen Architektur- und Städtebauentwicklungen seit dem 19. Jh. aus, indem sie von der Gartenstadtbewegung bis zur Moderne alle neueren Entwicklungen dafür verantwortlich machten, dass unsere Städte, unsere Landschaft und unser Leben überhaupt in so bedauernswertem Zustand sind, wie wir ihn eben vorfinden. Neben einem Lob auf die historische Stadt, viel Verständnis für BürgerInnen, die sich für das Nachstellen von historisierenden Bauten einsetzen und gute Noten für „zeitgemäße Siedlungsfomen“ wie etwa die gated community Celebration waren von ihnen keine innovativen Ansätze zu hören. Da passte die etwas daneben gegriffene Berichterstattung (und Ausstellung) über die Ausgrabungen und den teilweisen Wiederaufbau des römischen Carnunthum gut dazu. Für sich gesehen ist das ja kein uninteressantes Thema, im Kontext zu Baukulturgesprächen wäre eine klarere Abgrenzung zwischen historischer Baukunst und aktuellen Baukulturthemen jedoch wünschenswert. In weiterer Folge kamen die Themen und die Vortragenden dann doch noch ins Jetzt und Heute. Energie, Raumplanung, Einzelhandel, Bürobau und Wohnbau wurden als einzelne Sektoren in ihrem Zusammenwirken mit baukulturrelevanten Fragestellungen besprochen. Besonders heiß ging es her, als „Raumplanung, Mobilität und Umwelt“ abgehandelt wurde. Sowohl H. Fassmann, Prof. für Geographie und Regionalforschung der Uni Wien, als auch G. Weber, Prof. für Raumplanung und ländliche Neuordnung an der Boku führten nach profunden Einleitungsvorträgen eine angeregte und anregende Diskussion mit den PodiumsteilnehmerInnen, etwa dem bekannterweise provokant auftretenden Verkehrsplaner Knoflacher und dem Publikum. Das Gespräch musste abgebrochen werden, um den strikten Zeitplan einzuhalten. Ähnliches passierte beim virulenten Thema Wohnbau. Und in solchen Momenten wurde bewusst, dass dies auch eine Schwäche der Organisationsform ist: Dass zwar wichtige Themen angerissen werden, diese dann aber nicht in all ihrer Tiefe und in all ihren Facetten so weit besprochen werden können, um daraus Schlussfolgerungen und praktikable Lösungsansätze abzuleiten.
Somit also meine drei Wünsche an die nächsten Baukulturgespräche in Alpbach, die im kommenden Jahr unter dem Generalthema „Vertrauen“ stattfinden werden: Präzisere inhaltliche Straffung, internationalere Besetzung und mehr Zeit für Vertiefung.

Auch Alpbach kann nur mit finanzieller Hilfe durch die Wirtschaft existieren. Von einigen TeilnehmerInnen wurde es geradezu als Zumutung empfunden, dass Sponsorenvertreter übergewichtiger Platz am Podium eingeräumt wurde, um ihre Werbebotschaften unter dem (extra dafür eingerichteten?) Titel „Baukultur am Thema Einzelhandel“ unter die Menschen zu tragen. Da müsste einem schon der Hausverstand sagen, dass dies zu Protestschreiben führen würde. Stillerer Protest regte sich beim äußerst arroganten Auftreten des Asset One Vertreters A. Doepel, der auf Grund zahlreicher Geschäftstermine bei den Salzburger Festspielen nur kurz anwesen war. Auf die Frage wie man mit der benachbarten Stadt denn so umginge, wenn es um die Beplanung eines ca. 45 ha großen Areals ginge, meinte er sinngemäß: da sind wir besonders vorsichtig unterwegs, denn wir sind ja fast auf jeder Parzelle unser eigener Nachbar.

Belohnt wurden die Letzten, also die Architektur/BaukulturgesprächsteilnehmerInnen durch abschließende Worte des Präsidenten Erhard Busek und das Abspielen der Europahymne vom Tonträger. Für mich persönlich, der ich das Musikstück nicht hören kann ohne an die textliche Adaptation durch Kurt Sowinetz (alle Menschen samma zwider …) zu denken, also ein mehrschichtiges Vergnügen. Dieses hatte ich – dem Zufall sei`s gedankt – am selben Tag noch einmal. Ich besuchte, nach Graz zurückgekehrt, die letzte Grazer Aufführung des Werner Schwab Stücks „Übergewicht, unwichtig: Unform“, welches im Untertitel „ein europäisches Abendmahl heißt, und welches ebenfalls mit demselben Musikstück schloss.

Verfasser/in:
Günter Koberg, Bericht
Netzwerktreffen
16. + 17.11.2023
 
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