12/01/2021

Kolumne
(Staub-)Wolkenschaufler_42

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Die Kolumne Wolkenschaufler von Wenzel Mraček zu Lebensraum, Kunst und Kultur(-politik) erscheint jeden 2. Dienstag im Monat auf GAT.

12/01/2021

Freiflughalle, Hong Kong

©: Zita Oberwalder

Von Mengen und Unmengen

Vor Jahren überlegten Kollege Klammer und ich ein Konzeptkunstwerk. Vor allem machten wir uns Gedanken, wie diese Idee wohl umzusetzen sein mag. Wir hatten uns an einer Arbeit der Künstler Steinbrener/Dempf & Huber orientiert, die im Jahr 2005 im 7. Wiener Gemeindebezirk unter dem Titel Delete! alle Werbeaufschriften, Firmennamen, Logos mit gelber Folie verkleideten und so quasi Hinweise auf Privatwirtschaft im öffentlichen Raum verschwinden ließen. Unser Ansinnen hingegen war es, alle Veranstaltungen des Kulturbetriebes für einige Tage auszusetzen respektive Hinweise auf bildende Kunst, Literatur, Musik, Theater etc. der öffentlichen Wahrnehmung zu entziehen. Weshalb? Um durch den Mangel das Verlangen hervorzurufen. Es blieb freilich allein bei der Idee, unvorstellbar, dass etwa ein Schauspielhaus für einige Tage keine Vorstellungen gibt.
Was uns damals nicht gelingen konnte, ist nun Status quo infolge einer Pandemie. Hätten wir nur die Ahnung von solcher Misere gehabt, wir hätten gerne darauf verzichtet, die Machbarkeit unseres Konzeptwerks auch nur zu überlegen.

Allerdings bliebe mir auch unter Normalbedingungen derzeit keine Zeit für die Kunst, wenn nicht das, was meine Frau und ich gerade tun, Kunstcharakter hat. Wie im letzten Wolkenschaufler schon erzählt, ziehen wir in eine neue Wohnung. Vorrangiger Grund für diese Entscheidung ist der großzügige Einsatz von sogenannten Raumdiffusern durch unsere Nachbarn. Diese geniale Erfindung verdampft mit Duftstoff versetzte Kunstharzflüssigkeiten nicht nur in den eigenen Wohnungen, sondern reicht über Fassaden und Stiegenhäuser auch bis in die Wohnräume anderer. Und jetzt, wo – ich habe mich zunächst verschätzt, dachte es wären weniger – etwa 7000 Bücher zu siedeln, in Tauschregale zu bringen oder sonstwie zu verlagern sind, entdecken wir einen weiteren Effekt der Duftstoffmaschinen: Der Großteil der Bücher ist mit einer braunen Harzschicht belegt, die nach den besagten Kunststoffen riecht. Zunächst nicht bedacht, haben wir mit Büchern, Kleidung und Wäsche diesen Geruch auch schon in die neue Wohnung gebracht. Jetzt versuchen wir, alles was wir haben mit Chlor zu reinigen in der Hoffnung, wir werden die Auswirkungen der E-Dampfgeräte eines Tages los. Irgendwie erinnert mich die Situation – der Bücher wie der Infektionsgefahr – an den letzten Satz aus Polańskis Tanz der Vampire, wo man vermeint, alle Gefahr sei ausgestanden, aaaber! Auf dem Kutschbock sitzend blickt Professor Abronsius nach vorne, während der Gehilfe Alfred gerade von seiner unvermutet vampirisierten Geliebten in die Halsschlagader gebissen wird. „Zu diesem Zeitpunkt“, spricht eine Stimme aus dem Off, „wusste Professor Abronsius noch nicht, dass er im Begriff stand, das Böse in die Welt zu tragen“.
Zurück in der Wirklichkeit waschen wir also Buch für Buch mit Chlor. Es sind viele Bücher und wir wissen nicht, ob sich der gewünschte Effekt einstellt, das klebrige Zeug sich wirklich abwaschen lässt. Der Vorgang könnte eine Performance sein, die mich doch an Balkan Baroque erinnert, als Marina Abramovich 1997 auf der Biennale in Venedig über Tage einen Berg von Rinderknochen mit einer Bürste reinigte.
Ein allerdings merkwürdiger Gedanke kam gegenüber dem Bücherberg auf. Neffe Franz hilft, Bücherkisten aus dem dritten Stock zu tragen, am anderen Ort wieder hinauf in den zweiten Stock. (Man muss sich Sisyphos als glücklichen Menschen vorstellen, muss an dieser Stelle naturgemäß stehen.) Irgendwann fragte mich Franz: „Glaubst du, du könntest das alles noch einmal lesen?“ „Abgesehen davon, dass ich nicht alles mehr lesen wollte“, war meine Antwort, „bleibt mir nicht mehr so viel Zeit“. Gemessen an der Zahl der Bücher, habe ich also ein Zeit-Mengen-Verhältnis gewissermaßen an seinen geringeren Teil gebracht oder kurz, die Menge werde ich nicht nochmals schaffen.

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