19/06/2008
19/06/2008

Gisèle Vienne: Jerk, Foto: Alain Mollot

Gisèle Vienne: Jerk, Foto: Alain Mollot

Immanuel Kant, heißt es, habe sich Listen angelegt von Dingen und Themen, über die er nicht mehr nachdenken wollte. Ein bemühter Versuch, das Gehirn frei zuschalten für Wichtigeres, ein zu diskutierendes vielleicht gar nicht Paradoxon, nachdem der Philosoph zu eliminieren versucht, indem er festhält. „Listen schreiben“, meint Intendantin Veronica Kaup-Hasler im Vorwort zum Programmheft für den Steirischen Herbst ´08, „tut man, wenn die Verhältnisse unübersichtlich geworden sind“ – und das sind „die Verhältnisse“ in Wirklichkeit zu jeder Zeit. Über das Prinzip der Aufgabenliste, und als Explosionszeichnung umgesetzt für den Umschlag des Programmheftes, nähert sich der kommende Steirische Herbst der Erfüllung seines aktuellen Leitmotivs, nämlich „Strategien zur Unglücksvermeidung“ in Form künstlerischer und diskursiver Handlungen vorzuschlagen. Wenn zurzeit allenthalben überlegt wird, was das Glück denn sei und wie man wohl in seinen Genuss geraten könnte, dann dürften sich die Geschicke des gesellschaftlichen Lebens der aktiven Einflussnahme durch das Individuum offenbar entzogen haben und was bleibt ist die Hoffnung auf das Glück im richtigen Augenblick. Wir könnten von Glück reden, wenn die „Strategien zur Unglücksvermeidung“ sich als praktikabel in einer Wirklichkeit abseits der Kunst erweisen sollten. Angeboten jedenfalls werden sie uns im Steirischen Herbst vom 2. bis 26. Oktober.

Eröffnet wird am 2. Oktober in der Helmut-List-Halle, in der der Bildhauer Christoph Steinbrenner und der Foto- und Typograf Rainer Dempf eine begehbare Skulptur installieren und die Rituale und Konventionen von Eröffnungen zum selbstreferentiellen Projekt formen. Das Publikum ist zugleich Beobachter und Akteur, die Installation zugleich die Feier unter dem Titel „Volksbad Wagner-Biro-Straße“.

Raumlaborberlin, das sind die Künstler und Architekten Benjamin Foerster-Baldenius und Jan Liesegang, gestalten heuer das Festivalzentrum im Joanneum-Gebäude Neutorgasse, das so – vor dem Generalumbau zum Museumsquadranten – für den Herbst adaptiert wird. Liesegang erzählte in der Pressevorstellung vom „Initial“-Erlebnis für seine spätere Karriere, als während seiner Grundschulzeit das Haus des städtischen Gasinspektors durch eine Gasexplosion … ja, wirklich! Das an sich wenig erfreuliche Phänomen der Explosion ist seither für Liesegang vor allem anwendbare Struktur eines Augenblicks vor der Auflösung.

Eine begehbare Explosion wird also ins Festivalzentrum führen, das in einer weiteren Anlehnung an Explosionsbilder aus Filmen von Michelangelo Antonioni die Monochromie von Staub und Schwarzweiß-Sequenzen aufnimmt. Gleichwohl finden im Festivalzentrum ein Café, Projekte von Nature Theater of Oklahoma (USA), Herrn Manfred (A), Club oder das Filmprogramm Der Ruhm des Beliebigen Raum. Programmiert von Reinhard Braun sind Filme von Klaus Scherübl, Alexander Kluge, Sean Snyder, Luis Buñuel, Otto Piene, Bill Viola oder Gottfried Bechtold zu sehen. Ein „modulares Videopragramm in progress“, „Bilder des Festivals“ von Timm Ringewald (D) reflektiert die vergangenen beiden und das aktuelle Festival. Ebenfalls im Festivalzentrum ist das „Ersatzherbstlager“ eingerichtet, mittels dem die Gruppe endlich Katzenersatz – Wurstenden 14,90 (ekw 14,90) (A/CH) für gleichwertigen Ersatz aller eventuell eintretenden Programmausfälle sorgen will.

SIGNA (DK/A) richten in den „hinteren Winkeln“ des Joanneums ein Hospital ein, in dem Besucher für die Dauer von 6 bis 24 Stunden als Patienten Gegenstand der „Komplex-Nord-Methode“ für Amnesie-Kranke werden können. Eine theatrale Interaktion gegen allgemeines wie das Kant’sche Vergessen.

Theatralische und filmische deutschsprachige bzw. österreichische Erstaufführungen werden umgesetzt von Michel Schweizer (F) mit fünf Schäferhunden und Hundeführer, einem Psychoanalytiker, einem Philosophen und einem ehemaligen Legionär.

Geschlechterspezifische Tradierungen und die Dressur einer Ballettschule sind Thema bei Eszter Salamon (D/H). Die belgische Künstlergruppe Berlin gibt mit „Bonanza“ ein Filmporträt einer nahezu verlassenen ehemaligen Silberminenstadt. Eine Oper in drei Teilen ist „Melancholia“ von Friedrich Haas (A) und Jon Fosse (N) und Giséle Vienne (F) gibt mit „Jerk“ eine Soloperformance für einen Puppenspieler.

Gleichermaßen brisant wie Versuch, dem bevorstehenden Unglück vorzubeugen, ist die Koproduktion des HDA (Haus der Architektur) mit Steirischer Herbst „mit freundlicher Unterstützung von Acoton“, wie im Programmheft zu lesen ist. „F für Fußgänger“ macht den Grazer Andreas-Hofer-Platz zum Gegenstand einer temporären baulichen Intervention. Die Künstler und Architekten Köbberling und Kaltwasser verwenden Material aus Abfallcontainern und recyceltes von Baustellen, das im Rahmen von Self-Service-Urbanisierung in allgemein nutzbares umgewandelt wird.

Eine weitere Koproduktion des Afro-Asiatischen Instituts, ISOP, KHG, Kulturzentrum bei den Minoriten und heißt „wie du mir“ und handelt von Gegenbildern für transkulturelles Handeln. Subversiv gegenüber dem Leitmotiv geht man davon aus, dass Lebensglück für alle ein Desiderat bleibt und die Festung Europa weiterhin im Ausbau begriffen ist.

„Strategien zur Unglücksvermeidung“ findet auch diesmal wieder als Walking Conference statt, außerdem bildende Kunst im Galerienprogramm, Musikprotokoll, Herbst-Akademie, Workshops, Kinderprogramm. – Und mit der Tante Jolesch wünschen wir uns, dass „abgehütet“ werden soll „von allem, was noch ein Glück ist“.

Verfasser/in:
Wenzel Mracek, Bericht
Netzwerktreffen
16. + 17.11.2023
 
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