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Als die drei gewählten Fallbeispiele von Großwohnanlagen, denen die Autorin einen hohen Grad von struktureller Komplexität im Hinblick auf ein Entwicklungspotential für den Wohnbau der Zukunft zumisst, sind zu nennen:
Olympiadorf in München
Das Olympische Dorf, das für die Sommerolympiade 1972 von den Archiekten Heinle, Wischer und Partner und Architekt Werner Wirsing (Flachbau) errichtet wurde, stellt einen Großwohnkomplex dar, der einen Wechsel von einer öffentlichkeitsbezogenen Anlage zu einer bewohnerbezogenen für ca. 3.000 Wohnungen erfahren hat. Beherbergte sie zunächst die Athleten, die gemeinsam versorgt wurden und denen die nahen Sportstätten der Spiele zur Verfügung standen, erfolgte anschließend die Besiedlung durch Neubewohner. Dieser Prozess ging nicht reibungslos vor sich, da die angebotenen öffentlichen Räume erst von diesen „erobert“ werden mussten. Allmählich wuchs das Ausmaß an interner Kommunikation, wobei die bauliche Struktur von mäanderförmigen Geschoßwohnbauten und vorgelagerten Flachbausiedlungen die Randbedingungen bieten. Entsprechend wuchs die Bewohnerzufriedenheit, die mit einer öffentlichen Akzeptanz einhergeht.
Dies ist eine Voraussetzung, dass eine bauliche Erneuerung und Sanierung in den letzten Jahren vonstattengehen konnte, die ebenso durch „smarte Sanierungen“ den baulich-ästhetischen Wert einer als Zeitzeugnis geltenden Anlage sicherzustellen versuchte. In diesem Sinn wurden in größerem Ausmaß Sichtbeton-Bauteile durch geeignete Innendämmungen, die den heutigen Standards entsprechen, in ihrem Charakter erhalten. Das ursprünglich planende Architektenteam wurde teilweise in die Sanierung einbezogen, die den Planungsprinzipien in zeitaktueller Form unter Anwendung technischer Neuerungen entsprechen sollte.
Brunswick Center in London
Kürzlich führte mich ein Besuch nach London, wo ich das Brunswick Center im Stadtteil Bloomsbury besuchte. Die nordöstlichen Londoner Bezirke zeigten nach Zerstörungen einen starken Zuzug nach dem 2. Weltkrieg, was zu größeren Projekten im Kultur- und Wohnbau führte. Neben dem bekannten Barbican Center mit Wohnungen, Kultur- und Shopping-Center wurde das öffentlichkeitsbezogene Brunswick Center zu einem Pilotprojekt urbaner Verdichtung, das strukturalistischen Prinzipien im Sinne zeitaktueller Strömungen zu folgen versuchte.
Dem planenden Architekten Patrick Hodgkinson war es gelungen, den aus zwei längsgerichteten 3- bis 5-geschoßigen Terrassenbauten gebildeten Komplex, der multifunktional genutzte Freiräume auf erhöhtem Niveau umschließt, zu einer „lkone“ der englischen Nachkriegsarchitektur im Sinne des Brutalismus zu machen. Eine Bezugnahme auf die georgianische Umgebung sollte unbeschadet des raumplastischen Konzepts in der Farbgebung in einem Beigeton erfolgen, wurde vom Errichter jedoch verworfen. Die Stadt London hat schließlich dem Projekt den Grade II verliehen, was es zu einem als Zeitzeugnis geltenden schützenswerten Objekt erhebt.
Dem entsprechend hat eine in den letzten zehn Jahren vollzogene Generalsanierung auf den ursprünglichen Entwurf Bedacht genommen, indem der planende Architekt als Konsulent des beauftragten Büros Levitt & Bernstein einbezogen wurde (durch Bauträgerwechsel war er 1972 nicht mit der Fertigstellung befasst). Die stadtzentrale Lage hat bei der Sanierung mit gewissen Erweiterungs- und Umbauten wohl zu einer in der Besucherfrequenz erkennbaren Aufwertung des öffentlichkeitswirksamen Freiraums geführt, der allerdings durch eine Einschränkung der Durchgängigkeit und strikte Trennung der Erschließungswege für die Öffentlichkeit und die Bewohner erkauft wurde. Dagegen wurde die ursprünglich vorgesehene Farbgebung der Sichtbetonteile nunmehr ausgeführt.
Der Entwurf sah als urbane Insel einen wenig ausgeprägten Naturbezug zum dicht verbauten Umraum vor, der allein als Durchgang zu einem östlich angrenzenden Park besteht. Durch Bepflanzungen auf dem öffentlichen Freiraum, künstlerische Interventionen mit Aktivierung des Wassers (Projekt Susanna Heron) und Bemühungen der Bewohner um Begrünungen im Terrassenbereich ist dieser Naturbezug im Zuge der Generalsanierung aufgewertet worden.
Das Brunswick Center bietet sich heute als attraktiver urbaner Bereich dar, der hochwertige Wohnnutzung mit städtischem Leben durch Geschäfte und Restaurants verbindet. Er stellt eine Landmark im Stadtraum dar, die angesichts der Errichtungszeit zwischen 1965 und 1972 ohne Zweifel programmatisch eine Bruchlinie zur Moderne markiert.
Terrassenhaussiedlung Graz – St.Peter
Die Autorin hat nach Studium von Sekundärliteratur – über die Terrassenhaussiedlung liegt zum Unterschied von den anderen Fallbeispielen keine umfassende Gesamtdokumentation vor – auf Projektunterlagen der planenden Werkgruppe Graz (1) zurückgegriffen.
Sie charakterisiert sie als Großwohnanlage, die sich durch stadtnahe Lage, eine differenzierte Wohnungstypologie und Einbeziehung eines öffentlichen Freiraums als betont bewohnerorientierte Anlage ausweist. Dieser Charakteristik wird durch die Kleingliedrigkeit und das hohe Maß von Partizipation beim Wohnungsausbau bestätigt.
Dabei beobachtet sie einen gleitenden Übergang von einer Wohnstruktur halböffentlichen Charakters – Kommunikationsräume auf verschiedenen Ebenen – zu einem verstärkten Öffentlichkeitsbezug durch die zunehmende Inanspruchnahme von Raumgruppen für Zwecke tertiärer Raumnutzung. Dies geschieht neben dem Innenbereich auf mehreren Etagen durch die Erweiterung über den engen Raum der Siedlung hinaus, die sich als Attraktionspunkt im Siedlungsraum Graz-Südost ausweist. Die Autorin merkt an, dass die erkennbare durch das Terrassenhaus initiierte bauliche Entwicklung im Umraum in gewisser Weise das von den Architekten geplante Geschäftszentrum mit Hotel Garni auf der Fußgängerebene kompensiert. Gerade diese Funktionsmischung hat programmatisch dem strukturalistischen Konzept des 1965 entstandenen Entwurfes entsprochen.
Die Typologie der Wohnbauten als zweiseitig abgestufte Wohnhausscheiben – aus Besonnungs- und Orientierungsgründen – evoziert als freie Mitte einen „Hinterhofcharakter“, der sowohl der Erschließung als auch der öffentlichen Nutzung dient. In besonderer Weise sieht die Autorin die betonte Einbeziehung der Natur zum Unterschied der anderen gewählten Fallbeispiele ausgeprägt, wobei sowohl die für Bewohner und Besucher erlebbare Durchlässigkeit zum Parkgelände als auch die Bepflanzungen innerhalb der Anlage den ökologischen Aspekt zum Ausdruck bringen. Sie hebt den guten Erhaltungszustand der Anlage hervor, der eine Identifizierung der Bewohner mit ihrem Umraum hervorhebt. Ein Entwicklungspotential für den Wohnbau – wenn auch hinsichtlich von analogen Großwohnanlagen für Graz aus entwicklungsgeschichtlichen Gründen nicht nachvollziehbar – wird in der Komplexität der räumlichen Konzeption erkannt, die in ihrem programmatischen Charakter die Umbruchstendenzen der Moderne manifestiert.
Zusammenfassend ist das Werk als profunde und anschauliche Darstellung des Wohnbaues in Europa mit dem Schwerpunkt der Entwicklungsanstöße der 60- und 70-er Jahren zu nennen, die auch ein Potenzial für die bauliche Zukunft eines auf Verdichtung ausgerichteten Städtebaues enthalten.
(1) Eugen Gross, Friedrich Groß-Rannsbach, Werner Hollomey, Hermann Pichler mit Walter Laggner und Peter Trummer.
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Infobox
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Karen Beckmann eröffnet neue Sichtweisen auf die Architektur der 1970er Jahre und Strategien für den Umgang mit Gebäudestrukturen dieser Art. Ihre Aktualität zeigen Projekte wie das Brunswick Center in London, die Olympiastadt in München und die Terrassenhaussiedlung in Graz-St.Peter.
Karen Beckmann (Dr.-Ing. Architekt) lebt und arbeitet als Architektin in Hannover. Ihre Forschungsschwerpunkte sind neben Architektur- und Städtebaugeschichte der 60er/70er Jahre Fragen zu Architekturrezeption und -produktion.
transcript Verlag, 2015
500 Seiten,
kart., zahlr. Abb.
39,99 Euro
ISBN 978-3-8376-3063-3