22/04/2020

Von der Wohnung zur Gliederung der Stadt
Wie der Architekt Hans Scharoun (1893-1972) den „Wohnvorgang“ neu zu denken suchte.

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Buch
Hans Scharoun und die Entwicklung der Kleinwohnungsgrundrisse.
Die Wohnhochhäuser Romeo und Julia 1954–1959

Einblicke in die entwerferischen und intellektuellen Grundlagen von Hans Scharoun, einer Ausnahmefigur der deutschen Architektur,
herausgegeben von Markus Peter und Ulrike Tillmann,
mit Fotografien von Georg Aerni und einer Einführung von Eva-Maria Barkhofen. In Kooperation mit der Akademie der Künste, Berlin.

Park Books, 2019
1. Auflage, gebunden
232 Seiten, 106 farbige und 152 sw. Abbildungen
25 x 32,5 cm
ISBN 978-3-03860-156-2

Rezension von Bettina Landl

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22/04/2020

Cover: Hans Scharoun und die Entwicklung der Kleinwohnungsgrundrisse. Die Wohnhochhäuser Romeo und Julia 1954–1959

©: park books

Seite 45: Julia – Block B, Grundriss Typ 1. Zeichnung 1349.187.237, Hans Scharoun / Hans-Scharoun-Archiv

©: park books

Seite 50-51: Romeo und Julia – Lageplan. Zeichnung 1349.187.242.64. Hans Scharoun / Hans-Scharoun-Archiv

©: park books

Seite 56-57: Julia – Grundriss. Zeichnung 1349.187.5. Hans Scharoun / Hans-Scharoun-Archiv

©: park books

Seite 201: Ansicht Romeo. Foto: Georg Aerni

©: park books

Seite 202: Ansicht Julia. Foto: Georg Aerni

©: park books

„Meines Erachtens ist die notwendige Wiedervereinigung oder besser: Neuvereinigung des Wohnens und Werkens ein besonders dringendes Problem.“ (Scharoun, Vorlesung VI/7, 23.6.1952)

Ein Blick ins Archiv
Es beginnt mit einem Text von Eva-Maria Barkhofen (Leiterin des Baukunstarchivs, Akademie der Künste, Berlin) zum Erbe des Architekten Hans Scharoun im Archiv der Akademie der Künste, Berlin, dessen erster Nachkriegspräsident er von 1956 bis 1968 war, und die den HerausgeberInnen Markus Peter und Ulrike Tillmann umfangreiches Planmaterial zu den Stuttgarter Wohnhochhäusern Romeo und Julia – entstanden zwischen 1954 und 1959 – zur Verfügung gestellt hat, wodurch erstmals Einblicke in den Entwurfsprozess öffentlich werden, die anschaulich machen, wie Scharoun den „Wohnvorgang“ neu zu denken suchte. „Das Werkarchiv, das er der Akademie kurz vor seinem Tod 1972, geschenkt hat, ist bis heute das umfangreichste und bedeutendste im Baukunstarchiv. Insgesamt sind aus der Zeit zwischen 1909 und 1972 ca. 25.000 Pläne und Zeichungen, rund 14.000 Fotografien und 60 Meter Schriftgut zu 331 Bauvorhaben überliefert, von denen rund 90 realisiert wurden“, beschreibt Barkhofen den ungeheuren Dokumentenschatz in den Archiven der Akademie der Künste, Berlin. „Er war es, der zusammen mit den ersten Mitgliedern einer neu von ihm gegründeten Abteilung Baukunst in der Akademie begonnen hatte, eine Sammlung zur Architektur des 20. Jahrhunderts zu initiieren.“

„Für Hans Scharoun bedeutete Bauen ein lebensbegleitender Vorgang, und der Bauvorgang selbst hat in seinem Sinne nur gemeinsam mit den Menschen nicht nur für die Menschen funktioniert“, würdigt Barkhofen Scharoun, der „das Kleinhaus ebenso funktional und menschengerecht entwickelt [hat] wie den Massenwohnungsbau, das gehobene Einfamilienhaus und die Bauten für kulturelle Zwecke. Es ging ihm stets um den harmonischen Gesamtklang von Raum, Form, Funktion, Material und Maßstab in der gegebenen Umgebung.“

Ein Lehrbuch – gewissermaßen
Nach zwei einführenden Texten entfalten neun Kapitel alle Entwicklungsschritte Scharouns zu seinem ersten großen Geschoßwohnungsbau in Form von Zeichnungen, dem Prozess der Planung, der Genealogie der Wohnung in Deutschland, der Physiologie der Bewegung sowie historischen Fotografien und aktuellen Ansichten von Georg Aerni. „Organisches Bauen“ gilt als eine Leidenschaft Scharouns, die ihn dazu veranlasste, sich eingehend mit dem skulptural angelegten Raumbau zu beschäftigen, und welcher von klar abgegrenzten Funktionen und formübergreifenden, fließenden Linien zugleich bestimmt wird. In Scharouns Äußerungen zum Wohnungsbau, die anhand von Textfragmenten und Vorlesungen (1947 bis 1958) nachvollziehbar werden, stechen seine bisher unbekannten Vorstöße in die Disziplin der Hausforschung heraus. Aufschlussreich systematisiert er historische und moderne Wohnungstypen zu einem Tableau und stellt sie in Zeichnungen vor. Auch Scharouns Anknüpfungen an die Wohnbaudiskussion der 1920er-Jahre lassen aufmerken.

Romeo, eines der beiden damals innovativen Stuttgarter Hochhäuser mit Eigentumswohnungen, erhebt sich über 18 Stockwerke und einem kompakten Grundriss mit sechs Wohnungen pro Geschoß, die von einem zentralen Flur erschlossen werden. Julia hingegen weist einen „spitzenkragenähnlichen“ Grundriss auf und ist als Laubenganghaus konzipiert. Der Baukörper staffelt sich von vier über sieben auf elf Geschoße in die Höhe. Scharoun, 1959 zu seinem Entwurfsvorgehen: „Diese Bauwerke sind nicht ein Produkt des geometrischen Prinzips und auch nicht ein Produkt der Perfektion, welches so schnell und so leicht im Formalismus und im Ästhetischen endet. Diese Bauwerke wollen Raum lassen für Improvisation.“
Scharoun beschreibt die Gestalt seiner Bauwerke, die nicht nur künstlerisch begründet waren, mit deren Verbindung zum „Wesen MENSCH“ und appelliert daran, diese Welt nicht als endgültige Form zu betrachten, sondern als einen Anfang, als ein nicht Vollziehbares. (Vgl. Akademie der Künste, Berlin, Hans-Scharoun-Archiv, WV 187 Romeo und Julia, Mappe 1959)
Ein Zeitgenosse Scharouns ist selbst der Überzeugung, dass Architektur dafür sorgen müsse, die Welt des Einzelnen unverbaut zu lassen, ungenormt, uneingeschränkt offen. Dabei hälfen keine baupolizeilichen Vorschriften, keine Wohnungsbaunormen und Finanzierungsregeln. Das könne nur ein persönlich schöpferischer Architekt. (Vgl. Hermann Funke, in: Die Zeit, 1962 vom 2.11.1956)

(Alte) Ordnungen infrage stellen
Das „Fundstück“ beschreibt einen Wohnorganismus, dessen Geometrie sich aus Überlagerungen, Schiefen und Krümmungen herauskristallisiert. „Die Gestalt des Grundrisses besticht durch den Stillstand der sich widerstrebenden Bewegungen. Die einzelnen Linien der Wände drehen sich aus der Parallelität heraus, öffnen sich und vervielfältigen ihre Richtungen, sie weisen kein geometrisches Zentrum auf.“ Scharouns Repertoire an Wohnungstypen durchquert fast alle Topoi des architektonisch funktionalistischen Diskurses: von der Auseinandersetzung mit dem Thema der Belichtung und der Orientierung, den Untersuchungen zu unterschiedlichen Erschließungssystemen und zu optimierten „Wohnvorgängen“. (Vgl. Scharoun: Vorlesung VI/8, 30.6.1952) Seine Forderungen sind geprägt von einem antidoktrinären Duktus, auch durch die Schaffung offener Raumbeziehungen im Inneren der Wohnung. Das Interesse der HerausgeberInnen gilt „den unerwarteten und blinden Kooperationen, die sich bei der Grundrissgestaltung einstellen, ihren Bezügen, die nicht immer manifest sind, jedoch fast immer den Ausgangspunkt der Arbeit bilden.“ (Vgl. Nach Karl Marx ist Kooperation ein Formbegriff: „Die Form der Arbeit vieler, die in demselben Produktionsprozessen planmässig neben- und miteinander arbeiten, heißt Cooperation.“, Peter/Tillmann, 2019, S. 99)

Die Wesenheit der Räume
Der Kleinwohnungsbau war ab den 1920-Jahren die Antwort auf Wohnungsnot und sollte von Beginn an wissenschaftlich-methodisch und normativ geregelt sein. (Verw. Reichsforschungsgesellschaft für Wirtschaftlichkeit im Bau- und Wohnungswesen: Die billige, gute Wohnung, 1930). Das Buch Grundriss-Staffel definiert „die Kleinwohnung als erstes Arbeitsfeld der Grundrisswissenschaft“ und beansprucht „eine planmäßige Ordnung von Grundrissen zu versuchen“. (Vgl. Gustav Wolf: Die Grundriss-Staffel, 1931, S. 9) In Geometrie und Organik (1951) zeigte sich für Architekt und Architekturtheoretiker Hugo Häring die Demonstration dessen, „was wir genau meinen, wenn wir von organik reden“, exemplarisch in dem Entwurf von Scharoun für eine Volksschule in Darmstadt (1951), denn „der erste akt der planung galt hier einer eingehenden erforschung der wesenheiten dieses baues, der erforschung dessen, was in diesem bau vor sich gehen soll, wie er der erziehung zu dienen hat. Er galt nicht der üblichen erforschung der äusseren technischen raumansprüche, sondern den zu setzenden zielen der erzieherischen arbeit. In der erforschung der wesenheit wuchs die gestalt der bauanlage heran.“ (S. 18) Scharoun dient das Organische und die darin erfasste „verschiedenartige Wesenheit der Räume“ (Vgl. Scharoun: Vorlesung X/23, 9.6.1958) als Leitfaden, sich mit seiner entwerferischen Arbeit sowohl gegen einen modernen Dogmatismus als auch gegen einen orientierungslosen Formalismus abzugrenzen, denn „der Organismus ist der Entwicklung fähig, also lebendig“. (Vgl. Scharoun: Vorlesung II/8, 8.5.1950)

Neue Maßstäbe
Die scharounsche Formenvielfalt zeigt sich, Peter und Tillmann zufolge, am Ende als eingebunden in die Idee eines Stadtorganismus, der als Grundlage seiner Multiplizität der Form erkennbar wird. In den nachgelassenen Dokumenten zu dem Projekt Romeo und Julia finden sich die bis auf wenige Ausnahmen unpublizierten Entwurfsfassungen, die nun erstmalig zu einem Planungsprozess rekonstruiert werden konnten. Das untersuchte Plankonvolut wird durch großmaßstäbliche Wohnmodelle ergänzt, die als Nachbauten an der ETH Zürich 2006 entstanden sind. Das Material und die Texte machen die umfangreiche scharounsche Grundrisssammlung anschaulich, deren Ausarbeitung im 1947 gegründeten Institut für Bauwesen in Berlin ihren Anfang nahm und im Entwurf der Wohnzelle Friedrichshain 1949 erstmalig in einer städtebaulichen Planung präsentiert wurde, um dann bei Romeo und Julia, Scharouns erstem großen Geschoßwohnungsbau nach dem Krieg, in Stuttgart-Zuffenhausen in erweiterter Form wieder zur Anwendung zu kommen. Nicht zuletzt werden Irrtümer, Fehlschläge und Unordnungen in Scharouns Entwurfsprozessen sichtbar gemacht, denn sie zeigen auf, dass Hindernisse für die Entwicklung oft genauso bedeutend sind wie geebnete Wege. „In dieser Randzone des architektonischen Geschehens wird den von der Architekturgeschichtsschreibung wenig beachteten Skizzen genauso viel Bedeutung zugemessen wie den unzählig wiederholten Planparadigmen, an die sich die heutige Architekturtheorie mit ihren Grundrissatlanten hält.“ (Vgl. Peter/Tillmann, 2019, S. 15)

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