20/12/2022

zeitenweise – 25

Der Tod und das Zeichen IV

Die Liebe zieht – wie der Tod – ihre schöpferische Kraft aus der Abwesenheit der/des Anderen und wird so zur symbolischen Form. Als solche gibt es keinen konkreten Gegenstand oder Menschen, auf den sie verweisen kann. Sie fungiert als Konzept, als Ideal, als Vorstellung, unter der verschiedene Formen von Liebe zusammengefasst sind. Und dennoch trägt sie ein konkretes, alles einendes Momentum in sich.

zeitenweise erscheint jeden 4. Dienstag im Monat und heute ausnahmsweise eine Woche früher.

20/12/2022

I could live in hope

©: Severin Hirsch

Der Tod und das Zeichen

Vierter Satz: Über die Liebe und den Tod hinaus
(für meine Mutter) 

„Die Liebe, so sagt man, war die Erfinderin der Zeichnung; sie vermochte auch das gesprochene Wort zu erfinden, hatte dabei aber weniger Glück. Mit ihm höchst unzufrieden, verschmäht sie es; denn sie versteht es, sich auf lebendigere Art auszudrücken. Was sagte sie, die mit soviel Lust den Schatten ihres Geliebten umriss, diesem doch für Dinge! Was für Laute hätte sie verwenden können, um diese Bewegung eines Stäbchens wiederzugeben?“ (Jean-Jacques Rousseau, Essay über den Ursprung der Sprachen, worin auch über Melodie und musikalische Nachahmung gesprochen wird. In: Ders., Musik und Sprache. Ausgewählte Schriften. Leipzig 1984. S.100.)

Der Legende nach geht die antike griechische Kunst auf eine junge Dame aus Korinth, vereinzelt Dibutade oder Kora/Kore („Mädchen“) genannt, und deren Vater Butades, eines Töpfers, dem die Erfindung des Tonreliefs und des Stirnziegels zugeschrieben wird, zurück. In der anwesenden Trauer der künftigen Abwesenheit ihres Geliebten malte eben jenes Mädchen die Umrisse seines Schattens an die Wand, um diesen Moment seiner gegenwärtigen Anwesenheit festzuhalten und ihn in seiner Abwesenheit zu re-/präsentieren. Weiters besagt die nur spärlich überlieferte Legende (nämlich von Plinius dem Älteren und Athenagoras von Athen), dass der Vater das Schattenprofil mit einem Relief aus Ton ausfüllte, das er dann im Nymphäum von Korinth zur Schau stellte. Soweit die Legende zur Erfindung der Kunst durch die Liebe und die Abwesenheit der/des Liebenden. Dieses Spiel von Abwesenheit und Anwesenheit rückt das Konzept, die Idee, das Ideal der Liebe in ein nahes Verhältnis zum Tod – als die Flüchtigkeit der Worte, die Flüchtigkeit der Berührungen, die Flüchtigkeit des Blicks: als die Flüchtigkeit des Augenblicks schlechthin. Vergänglichkeit als Spur, als Sich-Einschreiben in den Moment und als Inschrift am Monument. Die Liebe und der Tod sind äußerst komplexe kulturelle und soziale Konstruktionen und Erfahrungen und der Verlust als (vielleicht endgültige, unumstößliche) Abwesenheit des Anderen eint beide Phänomene in enger Verwandtschaft. Die Antizipation des Todes im Zeichen als Zeichen von Kultur erzeugt dieselbe Kluft zwischen Mensch und Umwelt wie die Antizipation des Todes in der Liebe. Die Vorwegnahme der Zukunft in der Beziehung von Liebenden, die Abwesenheit des Anderen, ist selbst der Anfang des Gefühls, das wir als Liebe symbolisieren: das All-eine. Mit allem eins und doch alleine. Die Hilflosigkeit des (Klein-)Kindes in der Abwesenheit der/einer Mutter erzeugt eine asymmetrische Bindung, in der das Kind aufs Alleinsein mit Schreien reagiert, um die mütterliche Fürsorge und Körpernähe zurückzuholen. Die Mutter gibt (alles), das Kind nimmt (alles). Die mütterliche Liebe anzunehmen, ist selbstverständlich keine Form der Liebe, aber in der mütterlichen Bezugnahme bekommt ein Kind erste Vorstellungen von Liebe: (im Idealfall) alles zu geben, ohne sich eine Gegenleistung zu erwarten, vollkommen zu lieben, ohne danach zu streben, wiedergeliebt zu werden. Don par don. Don et pardon. Gabe für Gabe. Gabe und Vergebung. 

Ein Kind, das lernt (oder erfahren darf), dass die Anwesenheit solcher Liebe ein Präsent, ein Geschenk, eine Gabe ist, die es anzunehmen und weiterzugeben gilt, wird auch lernen, andere – ohne Kalkül und Ökonomisierung – zu lieben. Es gibt viele Formen und Namen der Liebe, philia, eros, agape (Freundschaft, Leidenschaften, göttlich-mütterliche-messianische Liebe, s. dazu zeitenweise-07) und viele Faktoren, die in der Beziehung zum Anderen als Liebesbeziehung eine Rolle spielen. Ich, Über-Ich und Es würde Freud dazu sagen, vielleicht auch Ödipus(komplex), kulturelle und familiäre Sozialisierung und das mimetische Verhalten, die Nachahmung (und Rollenübernahme) vorgelebter – meist elterlicher – Beziehungen. Dazu kommen Kompensationszwänge, (Familien-) Traumata und Verlustängste, die für viele nur all zu oft und früh zur Realität werden. Der Tod als Abwesenheit der/des Anderen ist der Liebe immanent und permanent anwesend – ob als Sehnsucht nach einem oder durch Verlust eines geliebten Menschen. Und der Tod in seiner Antizipation als das Symbol für Kultur schlechthin zieht auch die Liebe in seinen Bann und macht sie zur symbolischen Form. Immer gewillt, alles zu geben, immer zu lieben, weit über den Tod der Geliebten hinaus, offenbart sich (universelle, uneingeschränkte) Liebe als gegenstandslos. Sie wird zur Sprache, zum Zeichen, zur Gebärde, zur Kunst. Sie wird menschlich und individuell. Wie die Sprache, das Zeichen selbst, das Sprechen miteinander, geht sie auf Menschen zu, indem sie zugleich (durch die jeweiligen Vorstellungen von und die Sozialisierung in der Liebe) abstrahiert. Das Zeichen trägt den Tod (als Abwesenheit des Gegenstandes) und die Liebe (als Möglichkeitsform von Kommunikation in der Abwesenheit des/eines Anderen) in sich. Letztendlich eignet sich der Mensch nicht nur die Vorstellung von der Welt, sondern auch die Vorstellung von Liebe durch Sprache an. „Bei der Gewinnung dieser neuen ‚Perspektive‘ ist die Sprache stets wesentlich mitbeteiligt. Denn sie kann nicht mehr die Gegenstände einfach ergreifen und an sich raffen; sie erringt die Gewalt über sie nur durch den Akt der symbolischen Bezeichnung, der als solcher ein reiner Akt der geistigen Vermittlung ist. Dem Trieb, der Begierde, dem Affekt, der geradewegs auf die Dinge zugeht, stellt daher die Sprache stets eine andere Richtung, die gleichsam mit dem entgegengesetzten Vorzeichen versehen ist, gegenüber. […] Der Kraft der ‚Attraktion‘ hält dabei hier die Kraft der ‚Abstraktion‘ die Waage: die Zuwendung zu den Dingen, die sich in der Sprache vollzieht, ist zugleich eine Form der Abwendung von ihnen. Das Zusammenwirken und das konkrete Ineinander dieser beiden Prozesse bedingt und ermöglicht jene Weise der geistigen Aneignung der Welt, die für die Sprache wesentlich und charakteristisch ist.“ (Ernst Cassirer, Die Sprache und der Aufbau der Gegenstandswelt. In: Ders., Schriften zur Philosophie der symbolischen Formen. S. 191-207. S. 207.) 

Liebe ist ein Teil der Kultur, in allen ihren Formen, ob kalkulierend oder uneingeschränkt, ob aufopfernd oder fordernd, ob universell oder materiell. Für Rousseau ist die Liebe eine Denaturierung, eine Perversion der Natur, die aus der allen Warmblütlern eigenen Empathie, dem Mitgefühl hervorgeht. Eben weil sie sich nicht auf ein gegenwärtiges Momentum oder einen konkreten, anwesenden Gegenstand (oder Menschen) beziehen muss, weil sie der Welt der Vorstellungskraft und Phantasie entspringt, weil sie weder Zeit noch Raum bedarf und weil sie weit über den Tod hinausgeht. Ich kann jemanden selbst in seiner/ihrer endgültigen Abwesenheit lieben. Die Liebe bleibt präsent/Präsent – als Antwort auf den Tod, als seine Gegenspielerin und Komplizin, gehen sie doch trotz aller Widersprüche Hand in Hand, gehen eine Allianz gegen den Hass, die Gier, den Geiz, den Neid, den Egoismus und die Zerstörung ein. Was die Liebe aufbaut, vernichtet nicht der Tod, sondern der Mensch selbst. Die Liebe bleibt. Das All-eine. Dank ihrer Kraft, die aus der Vorstellung, der Phantasie erwächst, kann sie neue Welten erschaffen, individuelle Universen, Kunstwerke, Literatur, das Schöne ans Licht bringen, neue Hoffnung schöpfen lassen, wo Menschen Dunkelheit und Vernichtung, falsche Versprechungen und leere Worte walten lassen. Über das Wort „Liebe“ hinausgehen, über die Wörter und den Tod hinaus. Ein Lächeln voller Liebe erschafft mehr als tausend Kriege. Ich sehe es vor mir.

„,Kennst du die Geschichte von dem Mädchen im alten Griechenland?‘ sagt Paige. ,Die den Umriss ihres verlorenen Geliebten gezeichnet hat?‘ sage ich. Ja. Und sie sagt: ,Dann weißt du ja, dass sie ihn schließlich vergessen und dafür die Tapete erfunden hat.‘ Es ist unheimlich, aber wir sind jetzt die Pilgerväter, die Spinner unserer Zeit, die ihre eigene alternative Realität verwirklichen wollen. Eine Welt aus Steinen und Chaos erbauen. Was daraus werden soll, weiß ich nicht. Nach all dieser Hetzerei sind wir in tiefer Nacht am Arsch der Welt gelandet. Vielleicht ist Wissen ja gar nicht das Entscheidende. Wo wir jetzt stehen, im Dunkeln zwischen Ruinen, könnte aus unserem Bau alles Mögliche werden.“ (Chuck Palahniuk, Der Simulant. München 2002. S. 317f.)

„Von / einer Hoffnung, heute, / auf eines Denkenden / kommendes / Wort / im Herzen“ (aus: Paul Celan, Todtnauberg)

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