19/06/2020

AusFALLstraße.
Straße fällt aus?

Medienmusiker Josef Klammer und Architekt Wolfgang Steinegger im Gespräch mit Sigrid Verhovsek.

Sie fordern mit ihrem Graz-Kulturjahr-2020-Projekt we want our street back – street back toys eine integrative Stadtentwicklung bzw. eine offene Diskussion über den öffentlichen Raum in Graz.

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19/06/2020

Triesterstraße, Graz – Augmented Reality (Erweiterte Realität)

©: Klammer | Steinegger

Triesterstraße, Graz – Die Leere zur Coronazeit

©: Josef Klammer

Triesterstraße, Graz – MIV-Spuren: 2 x 2 = 4?

©: Klammer | Steinegger

Ohne etwaige Folgen prophezeien zu wollen, hat Covid19 bzw. die menschliche Reaktion auf die Bedrohung durch die Pandemie gezeigt, dass bisher Unvorstellbares plötzlich möglich, beinahe alltäglich, wenn auch nicht „normal“ war. Vor diesem Hintergrund fragt sich GAT, welche utopischen Projekte der Stadtentwicklung und Architektur nun durchaus denkbar, wenn nicht gar durchführbar wären. Anders ausgedrückt betrachten wir Projekte, die vor Corona das Label „technisch nicht umsetzbar“ bekommen haben, aber im Grunde deshalb gescheitert sind, weil sie in ihrer Zeiteingebundenheit für die EntscheidungsträgerInnen zu radikal, zu „naiv“ oder einfach nicht vorstellbar waren.

Für den Wettbewerb GRAZ KULTURJAHR 2020 – Kultur schafft urbane Zukunft wurden 568 Projekte eingereicht, der Programmbeirat hat davon wiederum 89 Projekte ausgesucht und dem Grazer Gemeinderat als Förderempfehlung zur Beschlussfassung übergeben. Medienmusiker Josef Klammer und Architekt Wolfgang Steinegger fordern mit ihrem Projekt mit dem Titel we want our street back – street back toys eine „integrative Stadtentwicklung“ bzw. eine offene Diskussion über den öffentlichen Raum in Graz. Um den dazu notwendigen Dialog in Gang zu bringen, wäre eine partielle Sperre der Triesterstraße für drei Wochen notwendig gewesen, um dort in dieser Zeit verschiedene künstlerische und kulturelle Interventionen zu veranstalten.

Sigrid Verhovsek (GAT) im Gespräch mit Josef Klammer und Wolfgang Steinegger über:

AusFALLstraße.
Straße fällt aus?

GAT: Was denken Sie, warum wurde Ihr Projekt nicht zur Umsetzung empfohlen?

STEINEGGER: Wir haben schon bei der Konzeptionierung für we want our street back einige Rückmeldungen und Reaktionen bekommen, sehr viele meinten, es wäre naiv, mit so einem Vorschlag zu kommen: In einer Großstadt wie Graz eine so wichtige Straße, eine AUSFALLSTRASSE (!), für den MIV zu sperren – völlig undenkbar!

KLAMMER: Das ist ja das Absurde: Ich bin die Strecke vor Corona mit dem Fahrrad abgefahren, das war echt extrem gefährlich! Und am ersten Tag des lockdowns bin ich nochmals gefahren – das war wunderbar. Da hätte ein Fahrstreifen vollauf genügt... Seit Corona ist es vorstellbar, und so eine Aussage wie „Naiv!“ würde wahrscheinlich nicht mehr fallen.

GAT: Wenn jetzt aber alles eine „andere Normalität“ zurückfallen wird, wird man nicht den Ausnahmezustand – und mit ihm die Möglichkeiten - vergessen wollen?

STEINEGGER: Auch unabhängig von Corona – derzeit merkt man überall auf der Welt, dass der Anspruch, das Wiedererlangen des Rechts auf Straße oft nicht mehr als naiv bezeichnet wird, sondern dass in dieser Hinsicht ein Umdenken beginnt. Graz ist zu meinem Bedauern in dieser Hinsicht aber eher am konservativen Ende der Skala.
Bei der Einreichung zu 2020 sind mir nur zwei Projekte aufgefallen, die wirklich kämpferisch den Anspruch stellen, den Straßenraum/Verkehrsraum für Autos zu sperren und für FußgeherInnen und RadlfahrerInnen zurückzuerobern. Das wären 168h vom Forum Stadtpark, das derzeit wegen stadtpolitischer Vorbehalte auch noch nicht ausgeführt wird, und unseres, das nicht in die engere Wahl kam. Wir haben unsere Projekte im Vorfeld in einem Gespräch koordiniert, weil wir ja das gleiche Ziel haben: Kultur auf öffentlichen Verkehrsflächen, die derzeit dem MIV vorbehalten sind, „zuzulassen“. Und so ergänzen sich beide Projekte eigentlich gut – thematisch und räumlich. Durch die Ereignisse mit Corona sind diese Projekte sehr aktuell geworden, und durch die Maßnahmen während des lockdowns wurden sie im Grundkonzept – aber leider unbemerkt und eben ohne Kultur – eigentlich umgesetzt.

GAT: Also bis auf die künstlerischen Interventionen, die ja im Vordergrund standen. Was kann man sich eigentlich darunter vorstellen?

STEINEGGER: Unsere Absicht war, dieses für Viele sperrige Thema der Stadtentwicklung und die Rückeroberung der Straßenräume der Öffentlichkeit, also auch einem Nicht-Fachpublikum, zugänglich zu machen. Deshalb wollten wir auf diesen zumindest temporär rückeroberten MIV-Verkehrsflächen drei Wochen lang Kunst und Kultur anbieten, und zwar in Form von 16 einzelnen Aktionen aus allen Kunst-Disziplinen, die völlig unabhängig voneinander funktionieren, aber durch die große thematische Klammer des Dialogs über die Rückeroberung des öffentlichen Straßenraumes zusammengehalten werden. Einige Ansätze sind durchaus niederschwellig – z.B. Straßenmalerei („street back paint“), ein Projekt, dass jetzt nicht unbedingt zur Hoch-Kunst gehört, aber es wäre sehr plakativ.

KLAMMER: Zudem war wichtig, dass die Zuseher niemals genau wissen, sind sie auf der gesperrten oder auf der offenen Seite? Wir sperren ja nur zwei von vier Fahrspuren: Die, die noch vorbeifahren dürfen, MÜSSEN die Szene sozusagen beobachten, werden zum Teil des Publikums, oder Teil der Szene. Eine wesentliche Ambition war also das irritative Element. So entsteht ein Spannungsfeld zwischen Realität und Wirklichkeit, das ist nämlich nicht dasselbe. Die Kunst, die in diesem Spannungsfeld stattfinden sollte, wird ganz gut beschrieben durch Worte von Sarah Kane: „Pulsierend zwischen Scham und Schuld“. (aus GIER, Sarah Kane, 1998) Die Straße ist dann Bühne und Tribüne gleichzeitig.

GAT: Bühne für ein politisches Schauspiel, oder politische ZuhörerInnenschaft für Kunst?

KLAMMER: Das ist in unserem Projekt austauschbar – in jeder Hinsicht.

GAT: Es geht ja inhaltlich eben nicht darum, für kurze Zeit diese 300m einer Straße zu „verschönern“ – aber warum haben Sie gerade die 300m auf der Triesterstraße, also relativ „weit draußen“, gewählt?

STEINEGGER: Die sogenannte Suburbia, die Vorstadt, ist jener Un-Ort, wo es wirklich kritisch ist – jener Ort, wo man als erstes den Hebel ansetzten muss, wenn man unsere Städte dekarbonisieren möchte. Die konsolidierte Stadt – also jene innerhalb der Grenzen der Gründerzeit des 19. Jahrhunderts, ist weitgehend in Ordnung, sie ist verdichtet, sie hat Parks, sie hat eine gute Infrastruktur, attraktive Architekturen, zum Teil auch schon Fußgängerzonen, sie hat viel von dem, was wir machen/erreichen wollen. Die Stadtentwicklung im 20. Jahrhundert ist dann schon im Kontext mit dem MIV entstanden, bzw. wurde die sogenannte Autogerechte Stadt dezidiert auf diesen ausgerichtet.
Das große Ziel wäre ja, dass in dieser Stadt endlich auch wieder über die Stadt (und ihre Entwicklung) gesprochen wird: Wie man eine Stadt machen kann, und dass Stadt kein Naturereignis ist, sondern ein Kunstprodukt, nicht künstlerisch, sondern künstlich, ein Kulturprodukt, das wir gemacht haben, und wo wir auch die Macht haben, wieder etwas zu verändern. Das muss man den Menschen sagen. Stadt ist veränderbar, hat sich immer verändert, und nachdem wir in den letzten 100 Jahren die Suburbia so verschandelt haben, dass viele Randzonen unserer Städte nicht mehr vernünftig nutzbar sind, wäre es nun an der Zeit, auch die Suburbia zu entwickeln und zu „urbanisieren“.

GAT: Augenscheinlich kämpfen alle größeren Städte mit diesem Problem. Was wäre ein gutes Beispiel oder zumindest gelungeneres Beispiel für diese Randzonen?

STEINEGGER: Ein gutes Beispiel sind die Superblocs in einem Stadtteil von Barcelona (Eixample), ein Modell, das weltweit umgesetzt werden könnte. Eixample ist zwar aus dem 19. Jahrhundert, ich gehe aber davon aus, dass diese Form der Urbanisierung auch in der Suburbia sinnvoll und realisierbar ist. Aus dem Inneren dieser größeren Einheiten der Superblocs ist der MIV ausgesperrt oder zumindest reduziert durch Geschwindigkeitsbegrenzungen und Zulassungsbeschränkungen.
Die Straßen stehen zunächst für FußgängerInnen und dann für RadfahrerInnen zur Verfügung, das Auto steht an letzter Stelle. Das wäre ein bekanntes und erprobtes Konzept, die Frage ist, welche Städte schließen sich diesem Trend an? In Kombination notwendig ist auch ein Mobilitätskonzept, bei dem die vorhandene Schieneninfrastruktur ausgebaut und ganz bewusst als Teil der Stadtentwicklung genutzt wird, immer in Kombination mit Radinfrastruktur. Auch das wäre ein wesentlicher Ansatz für eine langfristige sinnvolle Nutzung.

GAT: Corona hat aber nicht nur für leere Straßen gesorgt, sondern auch dafür, dass Menschen gerade öffentliche Verkehrsmittel ungern benutzen, bzw. haben sich jetzt auch viele in ihrem Hang zum Einfamilienhaus mit Garten bestätigt gefühlt, vor allem Familien mit Kindern.

STEINEGGER: Da gibt es derzeit eine intensive Diskussion in den USA, die ihren Ursprung in der Gartenstadtbewegung hat, und jetzt noch einmal neu angezettelt wird: Es wäre kein Zufall, dass Los Angeles derzeit weniger von Corona betroffen ist als New York, weil dort alles weiter ist, wenige die Öffis benutzen und die Menschen somit deutlich weniger Ansteckungsgefahren ausgesetzt wären als im dichten Gewimmel von New York. Subkutan wird vermittelt, wir müssen unsere Städte so bauen wie LA. So überschneidet sich jetzt gerade ganz negativ die Corona-Diskussion mit der einer ökologischen Stadtentwicklung – wobei aber nicht erwähnt wird, wieviele Menschen aufgrund der Abgasbelastung sterben, 4,2 Millionen weltweit lt. WHO. Wir haben die Wahl heute nicht mehr, dass wir unsere Städte wie LA planen, das würde das Ende für den Planeten bedeuten...

KLAMMER: In der Stadt kann halt nicht jeder einen Garten haben, aber alle können oder sollten Zugang zu Parks und öffentlichen Freiflächen haben – deshalb war es auch schwierig, dass gerade die öffentlichen Parks in Wien, die für Viele in einer kleinen Wohnung ohne Balkon wichtig gewesen wären, gesperrt waren.

STEINEGGER: Das ist ein zentrales Thema meiner Arbeit als Stadtentwickler: Wie geht man mit Natur in der Stadt um? A' la Los Angeles: Jeder ist sein eigener Schrebergärtner und hat sein Individual-Fleckerl? Das wird aufgrund der noch immer steigenden CO2-Belastung einfach nicht möglich sein, wir müssen uns andere Modelle überlegen. Die dichte Stadt ist gefordert, aber nur in Kombination mit einem Anspruch auf öffentlichen Grünraum. Und da ist es wesentlich, dass nicht alles unter Grünraum subsummiert wird: Ob das die Grünraumparzellen für Einzelne, oder für eine Familie, sind, oder ob dieser Raum tatsächlich für die Öffentlichkeit zur Verfügung steht. Der Central Park in NY-City ist ein Ergebnis derselben Diskussion, die vor 200 Jahren begonnen hat. Diese Sachverhalte müssen in die Öffentlichkeit getragen werden, das ist ein Ziel unserer Arbeit.

GAT: Wie könnte man die Grazer und GrazerInnen, die vermeintlich wenig mit Architektur oder Urbanismus zu tun haben, für solche Fragen interessieren?

KLAMMER: Mit unserem Projekt für 2020.....Nein, ernsthaft, bevor ich in das Projekt eingestiegen bin, war ich schon an Architektur interessiert, ich habe mir Gebäude angeschaut und mir auch über das Stadt- und Ortsbild Gedanken gemacht. Aber jetzt schaue ich viel genauer hin, kenne einige strittige Beispiele und lese mehr darüber – die Beschäftigung mit dem Thema hat mich dafür sensibilisiert.

STEINEGGER: Ich glaube, es ist ein politisches Problem, Wissen und Bildung sollen von einem Großteil der Gesellschaft ferngehalten werden – Ausschluss als politisches Programm. Da darf es nicht nur um „Behübschung“ und „Events“ gehen, das muss substantiell anders werden. Und dann spielt natürlich das Geld eine große Rolle, das sieht man derzeit leider vor allem bei diversen Standortentwicklungen, auch bei öffentlichen Gebäuden wie Schulen. Die Investoren und Immobilienmakler beschließen, und die Fachwelt schaut zu: So wird bei uns Standortentwicklung betrieben, fern von jeder Transparenz, jedem öffentlichen Dialog.

GAT: Wird Corona, werden die Pandemie und ihre unzähligen Begleiterscheinungen und Nebengeräusche eurer Meinung nach einen nachhaltigen Einfluss auf die Stadtentwicklung haben?

KLAMMER: Ich fürchte, nach Corona wird alles wieder gleich ablaufen, da wird sich nichts ändern – höchstens Dinge, die durch unsere PolitikerInnen vorher schon programmiert waren. Vielleicht – das wäre zu hoffen – hat sich einiges in Bezug auf das Verbrauchsverhalten geändert...

STEINEGGER: Tatsächlich hatten alle Seuchen im Endeffekt große Auswirkungen auf die Stadtentwicklung, ich erinnere nur an die große Cholera-Epidemie von 1882 in Europa, 1918/1919 dann die Spanische Grippe. Die Städte des 20. Jahrhunderts waren wesentlich davon beeinflusst, dass man die alte „dichte“ Stadt, die wir heute eigentlich wieder wollen, beseitigt – die neue weiße Stadt des Le Corbusier kleidete sich hygienisch sauber, aber mit Henry Ford und dem Einfamilienhaus mit privater Gartenparzelle als Stadtmodell ist der Schuss nach Hinten losgegangen. Ich bin sicher, dass sich etwas ändert, die Frage ist nur, wie: Schaffen wir es, dass wir es bewusst und geplant ändern? Deshalb muss man sich gerade jetzt Gedanken machen, und offen darüber reden, in welche Richtung wir steuern wollen.

GAT: Danke für das Gespräch.

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