15/11/2011
15/11/2011

Roland Gruber und Judith Leitner zeichnen verantwortlich für die Konferenz.

Bgm.in Ulrike Böcker beschäftigt sich intensiv mit dem Leerstand in Ottensheim.

Der Soziologe Rainer Rosegger betreute die Umsiedlung in Eisenerz.

Leerstand direkt gegenüber dem Gemeindeamt in Ottensheim.

Kein Leerstand im Publikum bei der Konferenz.

Rege Diskussion in den Pausen. Fotos: A. Morhart-Harich

„Neue Perspektiven für leerstehende Bauten im ländlichen Raum“ bildeten von 20. bis 21. Oktober den Rahmen für das dichte Vortragsprogramm bei der „ersten österreichischen Leerstandskonferenz“ in
Ottensheim / OÖ. Durch eine professionelle, gemeinschaftsbildende Organisation generierten die Initiatoren – „nonconform architektur vor ort“ – Lust auf mehr: mehr Vernetzung, mehr Gemeinschaft, mehr Integration der Jugend, mehr „LandLuft“! (1)

Als Gastgeberin der Konferenz fungierte Ulrike Böker, Bürgermeisterin von Ottensheim. Die Gemeinde fällt bereits seit 1997 durch Projekte mit BürgerInnenbeteiligung positiv auf. Für die Revitalisierung eines leerstehenden Gebäudekomplexes als neues Rathaus (SUE Architekten) erhielt sie den Österreichischen Bauherrenpreis 2010. Sowohl das Gebäude als auch die Gemeinde zeigen politische Offenheit und bildeten damit den optimalen Rahmen für die Konferenz.

Die Vorträge des ersten Tages standen im Spannungsfeld „erhalten – abreißen – zugänglich machen?“. Am zweiten Tag stellten Vertreter unterschiedlichster Professionen die Entwicklungen in fünf österreichischen Gemeinden zur Diskussion: Ottensheim / OÖ; Silz / T; Eisenerz / Stmk.; Stadt Haag / NÖ; und Waidhofen an der Ybbs / NÖ. Zum Abschluss fand eine gemeinsame Exkursion ins Textile Zentrum Haslach / OÖ statt.

Egal, ob am Land oder in der Stadt: Ein ungewollt leerstehendes Haus stellt nicht nur eine Belastung für den Eigentümer dar, sondern auch für die Gemeinschaft. Wir alle beeinflussen ihr Entstehen durch unser Verhalten und unseren Konsum. Wie sich die Art der Besiedelung laufend mit dem strukturellen Wandel der Produktion und der Landwirtschaft ändert, zeigte Prof. Alfons Dworsky (TU Wien) in seinem Vortrag auf. (2)

Leerstände sind demnach ein gesellschaftlich bedingtes Symptom der Verstädterung.
Durch die Landflucht vorwiegend junger Bevölkerungsgruppen sind ländliche Regionen stärker als Städte von der Überalterung der Gesellschaft betroffen. Als Instrument zur Attraktivierung der Gemeinden für Jungfamilien galt lange Zeit die Umwidmung von landwirtschaftlichen Flächen in Bauland. Entleert sich jedoch ein Ortskern immer mehr, fehlen die Frequenzen für den Handel. Ab 20 % Leerstand im Ortszentrum dreht sich die Spirale der Entleerung immer schneller. Es kommt zum Veröden der Ortskerne, dem „Donuts-effect“ – abgeleitet vom amerikanischen, ringförmigen Krapfen –, erklärte Hilde Schröteler-von Brandt (TU Siegen / D). Zusätzlich erschwert die weitläufige Besiedlung das Aufrechterhalten der Infrastrukturen (Schulen, Leitungen etc.).
In schrumpfenden Gemeinden ist deren Erhaltung nur möglich, wenn die Bevölkerung mit in die Verantwortung genommen und am Planungsprozess beteiligt wird. So geschehen in der Stadt Eisenerz / Stmk., wo 700 Wohneinheiten (WE) leer standen. Aus der Beauftragung von Architekt Werner Nußmüller für eine energetische Sanierung wurde eine vom Soziologen Rainer Rosegger begleitete Umsiedlung von 107 WE in zentrale Lage. Rund 50 entlegene Wohnungen in benachteiligten Stadtteilen wurden rückgebaut und 400 wurden in ein Feriendorf umgenutzt. Ein mutiges Projekt, das die Erhaltung der Infrastruktur erleichterte und die Wohnsituation vieler verbesserte.

Zunehmend werden auch in Österreich leerstehende Gebäude in den kommunalen Zentren zu Planungsaufgaben der Ortskernentwicklung. Und immer mehr Kommunen sehen mittlerweile dabei BürgerInnenbeteiligung im Planungsprozess als Chance, die Situation nachhaltig zu verbessern. nonconform architektur helfen bereits seit dem Jahr 2000 mit ihrer ca. dreitägigen „ideenwerkstatt vor ort“ Gemeinden bei der partizipativen Entwicklung von Zukunftsszenarien. Im Rahmen eines Forschungsstipendiums von departure (3) entwickelte nonconform eine Online-Ideenplattform mit Spielcharakter (www.vor-ort.at), um die unter 45-Jährigen zu motivieren, sich verstärkt an den kommunalen Entscheidungen zu beteiligen. Diese „digitale Ideenwerkstatt“, mit der nun zusätzlich die Bedürfnisse und das Raumnutzungsverhalten visualisiert werden können, wurde am Abend der Konferenz im Gasthof zur Post erstmals präsentiert. Bei dem Probelauf in Aschbach-Markt gelang es, dass ca. 30 % „Junge“ bei der öffentlichen Abstimmung anwesend waren. Obwohl der Anreiz hierzu vorwiegend das Gewinnspiel ist, wird die Bindung an den Ort durch das Erleben von direkter Demokratie gestärkt. Im Plenum war man sich einig, dass dies ein wichtiger Ansatzpunkt ist, um die Landflucht der Jugend einzubremsen.

Ottensheim ist ein Beispiel dafür, wie sich neue Bindungskräfte entwickeln können. Denn auch diese Marktgemeinde mit knapp 4.500 Einwohnern war mit Abwanderung und Leerstand konfrontiert und stellt sich dieser Herausforderung seit 2006 mit dem lokalen Agenda 21 Projekt „Ortskernentwicklung – Potenziale im Ortskern entwickeln“. Laut arquitectos (Heidi Pretterhofer, Dieter Spath, Kai Vöckler), den Herausgebern des Buches „Rurbanismus* oder Leben im postruralen Raum“, wird hier das ehemalige Land "rurban" (urban + rural). Der Begriff beschreibt eine neue räumliche Qualität des weitgehend urbanisierten ländlichen Raums in Kerneuropa, die weder städtisch noch ländlich ist.

Die Vortragenden der ersten österreichischen Leerstandskonferenz malten in Summe keine düsteren Bilder. Im Gegenteil: sie zeigten anhand zahlreicher Beispiele die Möglichkeiten auf, wie sich die Gemeinschaft neu formieren kann, damit die Attraktivität des Ortes bzw. einer Region erhalten wird. Eine Vielzahl an Handlungsalternativen wurde dabei vorgestellt:

STRUKTURELLE MASSNAHMEN:
Die ReferentInnen aus Südwestfalen (D) stellten sehr strukturelle Top-down-Methoden und Initiativen vor, die durch unterschiedliche Fördertöpfe wie der REGIONALE und LEADER möglich wurden. „Wer nichts unternimmt, der hat schon verloren.“ Mit diesem Satz versucht Verena Traumann, Leader Regionalmanagerin vom Hochsauerland /D, die Ortsvorsteher zum Handeln zu motivieren.
Grundlage für erfolgreiche Interventionen bilden lange Planungszeiträume (Eisenerz), wodurch ein nachhaltiges Leerstandsmanagement (Waidhofen) notwendig wird. Dabei werden Daten über Eigentümer und deren Altersstrukturen aufbereitet und gezielt kommuniziert. Die Leerstandsvermittlung arbeitet damit in zwei Richtungen: Einerseits wird versucht, Leerstände zu mobilisieren, also die Eigentümer zu überzeugen, dass sie Vorteile von der Nutzung des Gebäudes haben. Andererseits werden neue Nutzergruppen gesucht (Waidhofen).

Während sich die Gemeinden vorwiegend auf das Anbieten von Online-Raumbörsen beschränken (Ottensheim), versuchen Privatinitiativen Zwischennutzungen zu forcieren:
Fritjof Mothes vom Verein HausHalten e.V. rettete bereits 17 alte Stadthäuser in Leipzig vor dem Verfall durch Vermittlung von Zwischennutzern. Diese bekommen die Möglichkeit zur maßvollen Aneignung für 5 bis 7 Jahre und zahlen dafür die Betriebskosten und eine Fördermitgliedschaft an den Verein. Auch der Verein "fruchtgenuss" versucht so, die Linzer Innenstadt durch innovative Nutzung zu beleben und punktuell Kultur zu initiieren.
Christoph Wiesmayr von der Linzer Initiative [Schwemmland] nutzt hingegen das Potenzial von vergessenen, unreglementierten Außenräumen im Hafenviertel für temporäre Aktionen, Impulse, Diskussionen.

FÖRDERUNG DER GEMEINSCHAFT:
Für die Erhaltung einer funktionsfähigen, Identität stiftenden Ortsmitte reicht die Beseitigung der Leerstände alleine nicht aus. Vielmehr ist eine aktive, ganzheitliche Entwicklung der Dorfgemeinschaft notwendig. Die Beteiligung der Bevölkerung (Stadt Haag) und Einbindung aller Entscheidungsträger (Eisenerz) sind dafür Voraussetzung.
Die Attraktivität einer Dorfgemeinschaft hängt laut Hilde Schröteler-von Brandt stark von der Einstellung zum gemeinsamen Leben ab. Daher sind die zwischenmenschlichen Beziehungen, z. B durch Zeittauschbörsen oder Mittagstische und die Integration der Zugezogenen (Stadt Haag) zu fördern.
Kommt es im Ortszentrum häufig zu Spannungen zwischen unterschiedlichen Nutzungen, wie z. B. in Stadt Haag am Hauptplatz zwischen Wohnen und den Frequenz bringenden Festivals, so kann eine Balance durch aktives Konfliktmanagement gefunden werden.
Im Wettbewerb um Firmen und Bewohner ist die Vernetzung von Dörfern notwendig, um ein attraktives Paket anbieten zu können. Auch die Bindung der Jugend an die Region ist leichter zu erreichen.

BAULICHE MASSNAHMEN:
Die gesetzten baulichen Maßnahmen der öffentlichen Hand reichen von Anpassung der Infrastrukturen (Eisenerz) über Neugestaltung des Ortskerns durch Platzgestaltungen (Stadt Haag, Waidhofen), Shared-Space-Konzepte (Ottensheim) bis zur Umnutzung von Leerständen für die Gemeinschaft. Das Beratungsangebot an die Eigentümer für den Umgang mit alter Bausubstanz wurde in vielen Gemeinden erfolgreich erweitert. Auch Vorträge zur Bewusstseinsbildung, Eigentümerstammtische und die Bereitstellung von exemplarischen Entwurfsbeispielen zeigten Wirkung.
Abseits der großen EU- und Bundesförderungen setzen einige Gemeinden wie Burbach (D), Silz und Waidhofen zusätzliche finanzielle Anreize für ausgewiesene Zonen: Eigentumsförderungen explizit für junge Käufer; verpflichtende Beratung durch Architekt, Bauamt und Kreditinstitut; Zuschuss für die Sanierung; Mietzuschüsse bis zu 100 m².

In Ottensheim half soziale Interventionskunst, die Dinge schneller voranzutreiben. 1997 lud das Festival der Regionen die Künstlergruppe „Wochenklausur“ ein, einen Maßnahmenkatalog zur Ortsentwicklung mit BürgerInnenbeteiligung zu erarbeiten. Die Künstler zeigten unkonventionelle Wege auf, regten z. B. die Reanimierung des Freitagsmarktes an. Seit damals ist in Ottensheim viel passiert. Der neue Spirit der Gemeinde zeigte sich nicht nur beim abendlichen Auftritt der Ottensheimer Band „papplab“, die auf Musikinstrumenten aus Karton die Bühne rockten, sondern insbesondere im Veranstaltungsort des Kongresses. Das neue Amtshaus, dessen baulicher Bestand ins Mittelalter hineinreicht, besticht durch einen zur Straße hin zu öffnenden Gemeindesaal, der Alt und Neu harmonisch verbindet und zur Teilnahme am öffentlichen Gemeindeleben anregt – Rurbanität par excellence.

Das Plenum war sich einig: Am wesentlichsten ist es, eine Vision zu entwickeln und diese mit Hilfe von schönen Zukunftsbildern zu transportieren. Eine Fortsetzung der Konferenz als Reihe mit speziellen Schwerpunkten ist geplant und vom Publikum auch gewünscht.

(1) Der Verein „LandLuft“ lobt seit 2009 biennal den LandLuft-Baukultur-Gemeindepreis aus. Arch. Roland Gruber von nonconform ist Vorstandsmitglied des Vereins.

(2) Mit Hilfe des Wissens von Prof. Dworsky soll bis 2015 ein Buch über den ländlichen Raum entstehen. Am Thema Interessierte (z. B. Dissertanten) können sich bei Arch. Gruber melden!

(3) Departure ist ein Spezialprogramm zur Kreativwirtschaftsförderung der Stadt Wien.Über die Autorin
Angelina Morhart-Harich (*1976) diplomierte an der Architkturfakultät der TU Graz. Sie lebt und arbeitet in Linz.

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