20/12/2018

Filmpalast – 04
Filmkritik

Wilhelm Hengstler zu
Leave No Trace

Regie
Debra Granik, USA 2018
109 min.

ab 30. November 2018
in Österreich

.

20/12/2018

Leave No Trace. Bild: > uncut.at

Die derzeit interessantesten Filme wie Alice Rohrwachers Glücklich wie Lazzaro, Roma von Cuaron und nun auch Leave No Trace von Debra Granik kommen ohne die Verbindung von Genre (Dramaturgie) und gerade aktuellen Politerzählungen aus, erst unter ihrer ruhigen Oberfläche wird das Interesse an gesellschaftlichen Grundlagen spürbar.
Leave No Trace auf der ganz großen Leinwand im KIZ Royal zu sehen ist eine Art visuelle Tiefenmassage: Die Wälder von Oregon, das Unterholz, die hohen Farne werden zur Struktur mit tausenden Grünschattierungen, die Michael McDonough spektakulär unspektakulär filmt. Die Regisseurin Debra Granik ist 2010 mit Winters Bone und der Hauptdarstellerin Jennifer Lawrence, die sie entdeckt hat, bekannt geworden. Ihr neuer Film hat es unter anderem in der renommierten Filmzeitschrift Sight & Sound immerhin auf Platz sechs der Bestenliste von 2018 geschafft.
Nicht nur seines Waldpanoramas oder wegen des sparsamen Lebens seiner Protagonisten ist Leave no Trace ein „grüner Film“, sondern auch weil er demonstriert, was – und das nur im Glücksfall – auf die Menschheit zukommt. Der Vater sorgt für Brennholz, Tom sammelt Pilze und Pflanzen, macht Späne und bereitet das Essen zu. Die ernsthafte Sorgfalt und die zweckmäßige Kleidung – weder militärische Camouflage noch bunte Sportkleidung – zeigen, dass es hier um`s Leben und nicht um einen Freizeitspaß geht. Der Veteran Will leidet nämlich nach dem Tod seiner Frau unter PTSD (Posttraumatischer Belastungsstörung) und erträgt die Zumutungen der Zivilisation nicht mehr, weshalb er mit seiner Tochter Tom versteckt, halb nomadisch in den Wäldern lebt.
Diese Außenseiter sind das Gegenteil eines amerikanischen Klischees, das vom psychotischen Killer bis zum ogerhaften US-Präsidenten reicht. Ben Foster als Vater und Thomasin McKenzie als seine Tochter spielen kongenial für Debra Graniks zurückgenommenen Film, weder expressiv noch mit kunstgewerblichem Minimalismus. Gut möglich, dass Thomasin McKenzie mit ihrer „coming-of-age“ Rolle in die Fußstapfen von Jennifer Lawrence steigt.
Will und seine Tochter Tom agieren rational und diszipliniert, sie haben für sich die Staatsbürgerpflicht zum Konsum ausgesetzt, ob nun Will die sparsame Verwendung von Propangas einfordert oder Tom den unschuldigen Luxus eines kleinen Schokoladeriegels erbittet. Der Gang über die Brücke in den Supermarkt wird zur Expedition in Feindesgebiet und spätestens wenn Tom und ihr Vater Will in Verwahrsam genommen und „versorgt“ werden, zeigen sich die versteckt gewaltsamen und nivellierenden Seiten der Zivilisation. Wer sich ihren rationalen Zwängen entziehen will, gilt schnell als krank, wird hospitalisiert oder kriminalisiert.

Debra Granik hat ein großes, stilles Epos über die Kosten des zivilisatorischen Prozesses gedreht, der wie in Norbert Elias Der Prozess der Zivilisation die Ambivalenzen aufzeigt. Der verständnisvolle Psychologe entschuldigt sich bei dem Veteranen, der seinen Test mit 400 Fragen, mit denen der mentale Zustand Wills erfasst werden. Und die Sozialarbeiterin staunt, wie gut der Vater Tom in den Wälder unterrichtet hat. Aber ohne seine vorherige Schulbildung, also die Zivilisation, vor der er nun flieht, wäre Will dazu nicht imstande gewesen. Der zivilisatorische Druck auf Vater und Tochter erinnert an das Ende der nordamerikanischen Indianer, an das Verschwinden indigener Völker überhaupt. Und wie die Indianer damals werden die beiden ebenfalls in eine Art Reservat umgesiedelt. Und zwar ausgerechnet in eine sehr entlegene Christbaumfarm für die massenhafte Produktion dieses christlichen und zugleich pervertierten Symbols.
Zivilisation wird mit Sesshaftigkeit, also dem Beginn des Ackerbaus gleichgesetzt. Manche Forscher sprechen dagegen von einer Überlegenheit der Jäger- und und Sammlerkulturen: Vielfalt der Ernährung durch das Nomadisieren bedingt weniger Nachwuchs, der eben deshalb sorgsamer aufgezogen wird, und vergleichsweise Herrschaftsfreiheit. Man vermutet sogar, dass die Mauern der alten Menschheitsstädte weniger dem Schutz vor Feinden dienten, sondern die Flucht der Einwohner verhindern sollten.

Leave No Trace ist aber auch die Geschichte einer Emanzipation. Eher widerwillig folgt Tom ihrem Vater bei seiner neuerlichen Flucht aus dem „Reservat Christbaumfarm“ in einsamere und kältere Wälder, auf der sie beinah erfriert. Als Will wenig später Essen holt und nicht mehr in die verlassene Hütte zurückkommt, folgt ihm Tom und findet den Bewusstlosen mit gebrochenem Bein. In einem zwischen Wildnis und Zivilisation liegenden Trailerpark, schient ein Sanitäter – ebenfalls ein Veteran – Wills Bein. Der Trailerpark repräsentiert einen weitgehend herrschaftsfreien, von Empathie bestimmten Raum. Eine Imkerin zeigt dem Mädchen ihre Bienenvölker und damit die Utopie einer „natürlichen“ Zivilisation, in der Gemeinschaft und Einzelwesen nicht getrennt sind. Der Sanitäter schickt Will seinen eigenen „Therapiehund“, damit er den Traumatisierten nächtens von seinen Alpträumen befreit. Und immer wieder sitzen diese Outsider zusammen und singen die traurigeren Lieder der amerikanischen Folklore. Und die Leiterin des Trailerparks nimmt Tom mit sich, als sie für einen unbekannten Mann in den Wäldern, einen Sack mit Lebensmitteln hoch auf einen Baum hängt.

Leave No Trace erzählt auch eine amerikanische Literaturtradition mit ihrem Vertrauen in die Heilkraft der Natur nach. Sie reicht von Henry David Thoreau, der sich Mitte des 19. Jahrhunderts auf der Flucht vor der Massengesellschaft in die Wälder zurückgezogen hat, um sein berühmtes Walden zu schreiben bis zu Christopher McCandless, der 1992 im winterlichen Alaska verhungerte. Der Journalist Jon Krakauer schrieb darüber ein Buch, Into the Wild, das der Schauspieler Sean Penn 2007 mit sich in der Hauptrolle unter dem gleichen Titel verfilmte.
Aber auch in dem Trailerpark hält es Will nicht; noch hinkend bricht er auf, während seine Tochter bleibt. Die am meisten anrührende Szene ist aber nicht die Abschiedsumarmung zwischen Tom und Will. Danach hängt Tom ihren Sack mit Lebensmitteln für einen Mann, den sie noch nie gesehen hat, auf den Baum.

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