11/10/2019

Filmpalast – 11
Filmkritik

Wilhelm Hengstler zu Ad Astra von James Gray. USA 2019, Science Fiction, 124 min.

Astronaut Roy McBride erhält den Auftrag, seinem verschollenen Vater bis zum Saturn zu folgen.

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11/10/2019

Ad Astra – Zu den Sternen. Bild siehe Link > uncut.at

Science-Fiction-Filme spielen mindestens auf zwei Ebenen: der des Spektakels und der philosophischen Bühne, auf der zumindest die letzten Fragen der Menschheit gegeben werden. Das war schon so bei Kubricks 2001, dem Prototyp des Genres, bei Tarkovskys Solaris bzw. dessen Remake von Soderbergh und zuletzt auch bei Claire Denis High Life. Und Ad Astra, der neue Film von James Gray, dem US-Regisseur zwischen Independent und Kommerz, ist da keine Ausnahme. Brad Pitt spielt den Astronauten Roy McBride, der den Auftrag erhält seinem verschollenen Vater bis zum Saturn, an den Rand des bekannten Universums zu folgen. Der Dschungel von Apocalypse Now ist zum Weltraum geworden, aus dem unheimlichen Colonel Kurtz der von Tommy Lee Jones gespielte Vater von Roy McBride, aus dem Verfolger Captain Willard ein Sohn. 
Roys Vater, eine Raumfahrerlegende, ist vor Jahren im Rahmen des Projektes „Lima“ auf der Suche nach intelligentem Leben im Weltraum buchstäblich über Leichen gegangen. Nun gilt er als Urheber weltgefährdender, elektromagnetischer Schockwellen aus dem All. Auch sein Sohn Roy McBride wird beinah Opfer einer dieser Schockwellen, bevor er mit der Suche nach seinem Vater beauftragt wird. Er stürzt zu Beginn des Films von einer gigantischen Weltraumantenne am Rand der Atmosphäre hinab zur Erde.
Per aspera ad astra geht auf den römischen Philosophen Seneca zurück und bedeutet etwa „durch Mühen bis zu den Sternen“. Das Fabelhafte an Ad Astra ist, dass das Philosophische nicht langweilt und die Actionszenen nicht zum bloßen Spektakel werden. James Gray und sein Co-Autor Ethan Gross betten die Actionszenen – etwa einer Verfolgungsszene mit Moonbuggies, Attacken durchgedrehter Affen in einem verwaisten Raumschiff oder einem schwerelosen Kampf Mann gegen Mann in Raumanzügen – in ihr großes Thema, die Suche als Metapher, als „Quest“ ein. Sie verzichten auf die üblichen „Trigger“: eine schöne Frau wird nicht automatisch für eine Beziehungsgeschichte instrumentiert, Gewalt nicht wie üblich psychologisch oder soziologisch erklärt, vom Zustand der Welt erfährt man kaum mehr, als dass sie „ein Ort voll Angst und Hoffnung“ ist. Und diese hypnotische, filmische Textur von Ad Astra wird noch verstärkt durch Max Richters pulsierende „sheets of sounds“, die einander mit der Stetigkeit einer fernen Brandung überlagern.
Auch bei Regisseuren außerhalb des Arthousekinos lassen sich manchmal Obsessionen aufspüren. James Gray hat für Ad Astra schon in seinem vorletzten Film einen thematischen Anlauf genommen, Die versunkene Stadt Z. erzählt die Geschichte des (realen), britischen Forschers Colonel Percy Fawcett, der auf seiner besessenen Suche nach einer verschollenen Stadt  letztlich im Urwald des Amazonas mit seinem Sohn zugrunde geht. Brad Pitt, eingebunden in die Produktion, lehnte es damals ab, Fawcett zu spielen. In Ad Astra sucht er statt der versunkenen Stadt den verschollenen Vater,  aber in beiden Filmen sind die Männer von ihrer Suche bzw. Vision besessen. Alles andere, Familie, Liebe, der Tod anderer oder auch der eigene, ist daneben zweitrangig. Ad Astra lässt sich ödipal betrachten, Roy McBride durchläuft auf seiner Reise zu sich selbst das Abenteuer einer Psychotherapie, die sich über Lichtjahre erstreckt. Wenn er im Raumanzug einen unterirdischen See durchquert, um in das verbotene Raumschiff zu gelangen, ist das der Beginn seiner Wiedergeburt. Und wie jede spirituelle Reise, die ihre Kinokarte wert ist, führt auch Ad Astra Brad Pitt zu sich selbst. Am Ende, nach der glücklichen Heimkehr wird er seine Frau, die er verlassen hat, wie der Vater seine Mutter, als Silhouette wahrnehmen. In einer metaphysischen Lesart gewinnt die Geschichte noch mehr Ähnlichkeit mit 2001. Frei nach Siegmund Freud wird die Vater- zur Gottsuche, werden die Rollen des Vaters und Gottes wechselseitig austauschbar. Brad Pitt und Tommy Lee Jones (unter)spielen diese so bedeutungsschweren Parts mit beiläufiger Pragmatik. Wenn sie sich nach fast zwei Jahrzehnten in einem  hallenden Raumschiff am Rand des Universums begrüßen, klingt das so, als  ob sie sich beim Frühstück über zwei Schalen mit Müsli einen guten Morgen wünschen. Ähnlich lakonisch wirken die Nebenrollen, vor allem Ruth Negga als Helen Lantos, die Kommandeurin der Raumstation Mars, deren Eltern immerhin zu den Opfern des alten McBride zählten. Nur dass der großartige Donald Sutherland als Freund des Vaters und „Vergil“ des Sohnes allzu früh, schon auf der Mondstation, das Abenteuer verlässt, ist zu bedauern.
Brad Pitt hat sich zu einem der bedeutendsten Filmschauspieler des „großen Kinos“ entwickelt: ein Sonnyboy, ganz Oberfläche und ohne dämonische Hintergründigkeit, der gleichzeitig – wie zuletzt auch in Tarantinos Once Upon a Time in Hollywood – zu geradezu manischen Gewaltausbrüchen imstande ist. Der Ruhepuls seines Astronauten Roy McBrides liegt bei 52 und steigt niemals über 80, er konzentriert sich mit geradezu unheimlicher Selbstkontrolle auf das Wesentliche und verdrängt alles andere. Sein Vertrauen in technische Abläufe lässt ihn absolut furchtlos erscheinen. Wenn er der Zentrale immer wieder seinen psycho-physischen Status meldet, parodiert er damit fast den internalisierten Perfektionszwang moderner Berufstätiger. Erst auf der Marsstation, nachdem die Kommunikation mit dem Vater glückt, erhöht sich sein Puls bedenklich und wie im Arbeitsleben üblich, soll er von der Suche abgezogen, womöglich sogar eliminiert werden. Die prägenden Bilder von Ad Astra sind Brad Pitts Großaufnahmen hinter dem Helmvisier gegengeschnitten mit Weltraumtotalen: eine winzige Plastikfigur in einer Kaffeepackungen unserer Kindheit. Sehr empfehlenswert.

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