03/03/2023

Filmpalast 29
UNRUH (Unrueh)

In Graz im KIZ Royal Kino am Di. 07.03 17:30 Uhr zusehen.

Filmpalast ist die in unregelmäßigen Abständen auf GAT erscheinende Filmkritik von Wilhelm Hengstler.

03/03/2023

© filmgarten

Anarchismus

Pyotr Kropotkin entstammte dem alten und mächtigem Geschlecht der Ruriks, war ein Page Zar Nikolas I. gewesen, hatte dann aber die vorgesehene glänzende Offizierslaufbahn ausgeschlagen. Stattdessen trat er einer Kosakeneinheit in Sibirien bei, wo er sich erst um die politischen Gefangenen in den Straflagern kümmerte und sich später auf weiten, mühsamen Reisen als bedeutender Geograf profilierte. Sein Interesse für soziale Probleme führte ihn schließlich 1872 in den Schweizer Jura, wo die Arbeiter:innen der dortigen Uhrenfabrikation mit ihrem regionalistisch-kollektivistischen Anarchismus die europäische Linke stark beeinflussten. Gleichsam im Rahmen eines Erweckungserlebnisses sollte Kropotkin dort zu einem der berühmtesten Anarchisten seiner Zeit werden.

In seinem Film „Unruh“ lässt Cyril Schäublin den berühmten  Kropotkin (Alexei Evstratov) auf eine Arbeiterin namens Josephine Gräbli (Clara Gostynski) treffen. Wer sich aber eine historische Erzählung mit finalem Kuss erwartet, liegt komplett falsch. Cyril Schäublin beschäftigt vielmehr, wie „Geschichte“ konstruiert wird – das ist der politisch-theoretische Aspekt seines Films und womit sie sich wie erzählen lässt – das ist der ästhetische Aspekt. Für dieses Programm bietet der Regisseur, der zwei Jahre in Peking bei Filmen assistierte und gleichzeitig Mandarin studierte, bevor er an die Deutsche Film- und Fernsehakademie ging, die passenden Lösungen.

Geschichte als Konstruktion

So zeigen die eher blassen, mit langer Brennweite aufgenommenen Bilder von „Unruh“ oft an den Rand gerückte, nahezu abstrakte Fragmente der äußeren Wirklichkeit. Nicht einmal die Schauspieler kannten bei den Dreharbeiten immer das Gesamtbild, in dem sie sich bewegten. Diese Puzzles, die wiederum bruchstückhafte Tableaus ergeben, verweisen auf den Konstruktionscharakter der Geschichte. Um sich aus dem Gesehenen einen Reim zu machen, braucht es Zeit und dementsprechend ist „Unruh“ ein langsamer Film – was ihn umso spannender macht.

Anarchismus

Der historische Film suggeriert eine unmittelbare „Geschichte“ indem er sie durch blendend aussehende Stars in satten Farben als ihr individuelles Schicksal erleben lässt. Auch in „Unruh“ treten Individuen wie Pyotr Kropotkin, das  Fabrikmädchen Josephine Gräbli, der Fabrikbesitzer, Polizisten und Arbeiter auf, aber sie erzählen „Geschichte“ nicht für den Zuseher. Die muss er sich selbst erzählen. Insofern könnte man sagen, dass die üblichen, historischen Filme sentimental, Schäublins Film dagegen unsentimental ist. Statt einer Heldengeschichte hat Cyril Schäublin mit „Unruh“ anthropologischen und sozialen Sachverhalten nachgespürt. Nicht umsonst weist der Nachspann eine ganze Reihe unterschiedlicher Berater auf, und wie ein Anthropologe im Feld muss auch der Zuseher Geduld und Empathie aufbringen. Da bringt eine Nacherzählung der Handlung wenig. Statt markiger Sätze herrscht in „Unruh“ beiläufig Gesprochenes vor und weder Toneffekte noch Filmmusik verstärken das Geschehen.

Keine Schuss-Gegenschuss-Dramaturgie verdeutlicht via Großaufnahme gegensätzliche Positionen, sie erschließen sich dem Betrachter erst aus einer Vielzahl oft absurder, witziger Puzzleteilchen einer vorläufigen Realität: etwa wenn Arbeiter den Honoratioren bereitwillig Feuer geben, um ihnen die Streichholzschachteln mit anarchistischen Parolen zu überlassen, wenn eine verschuldete Arbeiterin ihre Arbeit ins Gefängnis mitnehmen darf oder der Fabrikbesitzer ein Gewehr als 1. Preis für die Tombola der Anarchisten spendet. Verstärkt werden diese Einzelheiten noch durch eine schweizerische, unerschütterliche Höflichkeit und Bedächtigkeit der Obrigkeit, die sich so nebenbei über die herzlosen Zustände legt. Cyril Schäublin lässt hauptsächlich Laien spielen, und neben dem Verzicht auf Tempo ist es überraschenderweise gerade die Abwesenheit von Sex & Glamour, die den Blick für die Schönheit sozusagen normaler Menschen öffnet.

Große Themen

Dabei konzentriert sich der Regisseur auf drei, vielleicht d i e drei Phänomene unserer gegenwärtigen Zivilisation. Er, dessen Großeltern ebenfalls in den Uhrenfabriken des Jura arbeiteten, scheint wie besessen von dem Phänomen Zeit. Er beschränkt sich nicht nur darauf, dieses Thema visuell zu reflektieren, indem er zeigt, wie seine „Heldin“ Josephine Gräbli die winzigen Unruhen in ihre Uhrwerke einsetzt. Immer wieder Uhren, ob es um das Stoppen kitzliger Arbeitsvorgänge zwecks Steigerung der Produktivität geht, um Lohnabzüge wegen Verspätung, oder die Frage, welche Zeit – Fabrik- oder Gemeinde- oder internationale Zeit – gilt: demonstriert wird, wie der moderne Kapitalismus bis heute vom unbarmherzigen Regime der Zeit geprägt wird. Insofern kann „Unruh“ auch als Illustration von Norbert Elias „Über die Zeit“ und Hartmut Rosas „Beschleunigung“ gesehen werden.
Ein zweites Thema in „Unruh“ sind die Medien.  Schon ab der ersten Einstellung werden Fotoshootings aus den Anfängen der Fotografie gezeigt, die Macht der Bilder durchzieht den Film. Arbeiter können damals für einen halben Tageslohn ein Porträt von sich machen lassen, der Unternehmer lässt sich mit seiner Fabrik zu Werbezwecken fotografieren und seine Arbeiterinnen sammeln die Fotos berühmter Anarchisten, wobei diese Fotos auch zur Fahndung nach ihnen dienen. Zwar sind Fotografien noch nicht so omnipräsent und inflationär wie heute, aber Narzissmus, Werbung, Fankultur und Überwachung lassen sich bereits ahnen.

Die beschleunigte Information als weiteres Phänomen wird in „Unruh“ durch den Telegrafen thematisiert. Im Telegrafenbüro werden nicht nur die finanziellen Transaktionen der Fabrik getätigt, auch die Anarchisten senden hier Nachrichten und Geld an weit entfernte Zellen. Die Internationale ist bestens vernetzt und informiert, selbst der Fabrikbesitzer schätzt anarchistische Zeitungen, weil sich mit ihrer Lektüre die Geschäfte besser optimieren lassen.

Mit „Unruh“ hat Cyril Schäublin nicht nur eine Art anthropologische Dokumentation in Form eines Spielfilms inszeniert, er hat auch einen Essayfilm über das Konstruieren historischer Realitäten gedreht. Und das konsequent mit den oben beschriebenen ästhetischen Lösungen, die er in eine schweizerisch anmutende Bedächtigkeit und hellsichtige Genauigkeit einbettet. So konterkariert „Unruh“ sowohl den Mainstream von Hollywood als auch den Kitsch des Kunstfilms, wirft dabei aber einigen Mehrwert an Unterhaltung ab. Cyril Schäublin als großen Erneuerer des gegenwärtigen Kinos zu apostrophieren, mag zu früh sein und auch seiner eigenen Skepsis gegenüber Überwältigungsposen widersprechen. Aber sein zweiter Film „Unruh“ zählt bereits jetzt zu den großen Schweizer Klassikern wie Clemens Klopfensteins „E Nachtlang Füürland“ (1981) oder Fredi Murers „Höhenfeuer“ (1985).
_Regie: Cyril Schäublin, Farbe, 93 Minuten, Schweiz 2022
Schweizerdeutsch, Französisch, Russisch (OmdU)

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