07/04/2013

Der erste Teil des Essays "Geschäft mit der Sehnsucht" von Frieda B. Seissl ist erstmalig am 16.05.2012 in der Zeitung Vinschgerwind des Bezirks Vinschgau erschienen und wurde uns freundlicherweise zur Wiederveröffentlichung in der Reihe "Im Fokus: Wohnbau"auf gat.st  überlassen.

Frieda B. Seissl ist Redakteurin bei der Zeitung Vinschgerwind.

07/04/2013

sonnTAG im Rahmen von "Im Fokus: WOHNBAU"

©: Redaktion GAT GrazArchitekturTäglich

Bauen auf dem Land. Die Erfüllung eines Traums oder wirtschaftliche NOTwendigkeit?

Das eigene Haus oder die Eigentumswohnung ist ein Wunsch vieler. Endlich muss man keine Miete mehr zahlen, man ist Herr in den eigenen vier Wänden und genießt Freiheiten, die man als Mieter meist nicht hätte. In Wirklichkeit bleibt der Traum vom „Haus im Grünen“ jedoch eine abgekartete Sache, ein von oben diktiertes und manipuliertes Denkmodell. Politik und Wirtschaft profitieren erfolgreich von den langfristig angelegten Kredit- und Baugeschäften der Häuslbauer. Wohnbau und Eigenheim, das lukrative Geschäft mit der Sehnsucht. Das „Eigene“ als absolutes Maß und als starker Wirtschaftsfaktor in Südtirol - mit fatalen Konsequenzen für unsere Umwelt und unsere Lebensqualität. Wie steht der Vinschgau „zum Daheim“, „zum Zuhause“? Ist er durch Verstädterung und Monokultur nicht auf dem besten Weg sich „heimatlos“ zu fühlen oder wird letztendlich alternatives Wohnen die Marke „Eigenbau“ ablösen? Wie sieht die häusliche Zukunft in den Alpen aus? Lebensfremde Selbstherrlichkeit oder Verantwortung für Natur und Gemeinschaft?

Wer träumt nicht vom Eigenheim, vom eigenen Zuhause, wo man wohnen darf, ohne von lästigen Nachbarn gestört zu werden? Der Wunsch nach einem eigenen gemütlichen Ort in der Natur, einem modern ausgestatteten, komfortablen Zuhause mit eigenem Garten ist groß, die Vorstellung, Bedürfnisse leben zu dürfen, wie man will, ohne behelligt zu werden, diese Sehnsucht nach einer uneingeschränkten Privatsphäre ist menschlich und legitim. Muss diese Vorstellung jedoch unbedingt mit einem käuflichen Erwerb verbunden sein? Kann ich Wohnen und Privatleben nicht auch mit einer Mietwohnung verbinden, kann ich nicht genausogut und sogar (finanziell) ungebundener in einem Mietobjekt wohnen und leben? Beim Begriff „Eigentum“ denkt man meistens an „privat, daheim, frei in seinen eigenen vier Wänden,“ doch gibt es auch noch andere Möglichkeiten, sein Leben sicher, individuell und häuslich zu gestalten, ohne gleich große Geldsummen und Kredite ins Spiel zu bringen und gewinnt dabei wesentlich mehr Lebensqualität.
Manche meinen der Traum vom eigenen Haus im Grünen sei naturgegeben, andere wiederum denken dieser Wunsch sei nur ein künstliches Konstrukt, auf alle Fälle ist er eine Verkaufsmasche mit der sich riesige Summen einspielen lassen, ein Verkaufsschlager, mit dem allerorts Spekulationen betrieben werden. Wer meint, dieser Wunsch spiele im Wirtschaftsmodell Südtirol kaum eine Rolle, wird spätestens dann eines Besseren belehrt, wenn sich die Folgen sichtbar fatal und un-heim-lich prächtig präsentieren: Dörfer zerfranst und ausgestorben, zerstreute Haufen an „Bauprodukten“, auf denen jeder hockt und sein Heimglück in einer zerstörten Heimat genießt, denn viele Häuser machen noch kein Dorf und schon gar keine Heimat. Landfraß und Umweltzerstörung, wo man hinschaut und nicht zu vergessen die riesigen Berge an Sondermüll (z.B. Isoliermaterial), die die Bauwirtschaft verursacht und deren Recyclingkosten geschickt auf die Konsumenten abwälzt.

Glück ist privat
Hier gilt, wer Eigenes besitzt, ist glücklich. Wer nichts hat, ist unglücklich. Wer über ein Haus oder eine Wohnung verfügt, ist sorgenlos, doch wer ein Haus im Grünen besitzt, ist am glücklichsten. Es gibt in jedem Dorf Ecken mit mehr oder weniger glücklichen Menschen. In den Dorfzentren wohnen die ganz Unglücklichen, dicht aneinandergedrängt, womöglich noch übereinander geschachtelt, ohne Grün, ohne Bäume, ohne Garten, weiter draußen, die Glücklicheren. Politische und wirtschaftliche Interessen haben dieses zutiefst urmenschliche Bedürfnis, dieses Heimweh nach einem eigenen Zuhause als Glück und als oberste Leitlinie für unser gesellschaftliches Wohl erklärt, haben es in ihre Wahlprogramme geschrieben und es zum sinnvollen Lebensziel, zum erreichbaren Leitsatz für alle anständigen und strebsamen Bürger und Bürgerinnen erklärt. Wer möchte nicht ein ehrsamer Bürger, eine ehrsame Bürgerin sein? Die Politik legt gerne ihre fördernde Hand über den braven hausbauenden Bürger, denn die Unterstützung dieser Sehnsucht ist die Voraussetzung für ihren anhaltenden Machtanspruch, ist Referenz für den stärksten Wirtschaftsfaktor im Land mit langfristig finanziellen Bindungen. Unsere Sehnsucht nach Geborgenheit ist für sie ein knallhartes Geschäft.

Geschäft mit der Idylle
Wenn sich die Politik diesem Verlangen annimmt, es in Zahlen gießt und Förderungen zur Stillung dieser Sehnsucht ausschüttet, dann muss sie dem Bürger „das Eigene“ als kostbar, lieb und teuer vermitteln, damit das Eigenheim vom Bürger, von der Bürgerin hoch geschätzt und verehrt wird, damit die Sehnsucht nach Geborgenheit und Schutz nur in einem Eigenheim vorstellbar wird und auch beeindruckt. Bilder vom komfortabel ausgestatteten Bergbauernhof in den naturreichen Alpen, von autofreien idyllischen Bergdörfern in unbebauten friedlichen Landschaften à la Sepp Forcher, Hansi Hinterseer und Bergdoktor erzeugen diesen Wunsch vom Zuhause und werden erfolgreich von Tourismus und Medienwelt transportiert. Romantische Fantasien über abgeschiedene, verkehrsarme Familienwohnwelten in naturbelassener Wildnis mit dem Hauch einer hochtechnisierten Welt werden beharrlich vermittelt, reglementiert und institutionalisiert, damit wir BürgerInnen an diese trügerischen Bilder glauben und fleißig für dieses irreführende Lebensmodell arbeiten, dessen Fassade langsam bröckelt und unter der es schon viel zu lange brodelt.

Traum und Albtraum
Doch allzu schnell kann der Traum zu einem Albtraum werden, wenn die Zahlkraft oder das Schicksal andere Wege gehen (Krankheit, Unfall, Tod, Scheidung ...)  oder wenn man einfach alt wird, die Kinder ihre eigenen Hausträume verwirklichen wollen und niemand das Einfamilienhaus so recht haben will oder eine Renovierung viel kostspieliger käme als ein Neubau. Dann stellt man sich die Sinnfrage und verflucht den Tag, an dem man sich entschieden hat, langjährige finanzielle Bindungen bzw. Opfer einzugehen und parallel dazu die Kinder großzuziehen. Da kann das Eigenheim als Lebensfalle empfunden werden, aus der man nicht mehr herauskommt.

Strategisches Kalkül
Wirtschafts-, Finanz- und Versicherungsexperten spekulieren mit unseren Gefühlen und erstellen langfristige Wirtschaftsprognosen im 15 bis 20ig Jahre (Bau)Rhythmus. Südtirols Wirtschaft beruht darauf. 15-20 Jahre bis das Haus abbezahlt ist, dann beginnen die Renovierungsarbeiten. 20 Jahre Versicherungsgarantie eines Fertigteilhauses, später landet sämtliches Baumaterial auf dem Sondermüll. 20 Jahre bis die Kinder groß sind und ausziehen, dann beginnt der Baurhythmus der nächsten Generation. Die Bevölkerung wird zum Bauen durch günstige 15-20 Jahreskredite und Zuschüsse animiert. Das ist verlockend, ein Biss und du hängst  am Haken wie der Fisch an der Angel. „Glück“ bedeutet heute eine 20-jährige Kreditrückzahlung für das Haus, welches einem nach erfolgreicher Abzahlung endlich gehört, doch inzwischen sind die Kinder ausgezogen und die Reparaturen für ein viel zu großes Haus beginnen. 20 Jahre später sitzt man allein zu zweit in einem viel zu groß gewordenen Einfamilienhaus, das kein Mensch haben will, weil alle demselben Gesetz folgen: Wir bauen ein ordentliches Eigenheim. Die Spätfolgen davon sind ein übersättigter Immobilienmarkt von überteuerten, leerstehenden Einfamilienhäusern und Eigentumswohnungen.

Der Lebenstraum „Eigenheim“ bildet das Fundament für das Funktionieren des herkömmlichen Wirtschaftsmodells „Südtirol – Vinschgau. Ein Haus verlangt eine fixe Arbeit, ein Auto, einen Partner und ein Kind. Ein Haus ist ohne Partner kaum vorstellbar, ebensowenig ein Haus ohne Kind. Ein Single in einem Haus, ein Haus ohne Auto ist nicht empfehlenswert, schlicht nicht denkbar. Wenn jemand sagt, er besitzt ein Haus, dann denkt man Arbeit, Familie und Auto mit. Ein Haus verlangt Mobilität, jedoch nicht im Sinne der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel, sondern impliziert den Kauf und die tägliche Benutzung eines Autos. Die Bewältigung des Alltags mit einem Kind ist ohne Auto kaum durchführbar. Der individuelle Hausbau begünstigt das Auto, alternative Wohnmodelle verlangen öffentliche Verkehrsmittel mit hohen Frequenzen, gute Erreichbarkeit und Nahversorgung.

Mein Haus - mein Auto
Die Landes- und Bildungspolitik ist immer noch von dem Bild einer auto-potenten, auto-fähigen Gesellschaft geprägt mit unerschöpflichen Grund- und Energieressourcen. Das Auto ist wichtig und Bestandteil des „echten“ Wirtschaftslebens und der Südtiroler Bildungspolitik. Entscheidend ist der Zugang zur Erwachsenen-, zur Arbeitswelt durch den Führerschein. Der Führerschein wird in der Schule beworben und in Zusammenarbeit mit der Schule absolviert, die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel ist zweitrangig. Die Autos (und gleichzeitig die Häuser) werden immer größer, Pickups und Offroads lösen die kleinen Autos ab. Mit zweieinhalb Tonnen fährt man jetzt zum Bäcker. Genauso fahren und arbeiten Bauern mit überdimensionalen Maschinen, nicht weil sie notwendig sind, sondern weil sie wirken. Das Auto ist Spielzeug und Prestige, das Auto ist Ansehen, Charakterbild und Autorität. Das ist wie ein heimliches Programm – ein Lebensprogramm, ein unausgesprochenes Gesetz, nicht nur für den Vinschgau. Dann läuft alles in geordneten Bahnen. Der Hausbesitzer bleibt an dieses Wirtschaftmodell lebenslang gebunden und gefesselt, wird zum Opfer einer restriktiven Öffentlichkeit, geistig abgestumpft und ohne Alternativen.   

Fortsetzung folgt am kommenden Sonntag, dem 14. April 2013:
Geschäfte mit der Sehnsucht _Teil II
Wie sich der Vinschgau aus seiner Banalität befreit – Dabei stehen nicht Funktionalität und Kosten im Vordergrund, sondern die Aneignung des Dorfes und seiner Landschaft durch Bewohner und Bewohnerinnen.
Von Frieda B. Seissl

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